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Fürsorgerische Unterbringung aus menschenrechtlicher Sicht

27.02.2025

Bei einer fürsorgerischen Unterbringung (FU) darf eine Person gegen ihren Willen in einer geeigneten Einrichtung untergebracht werden. Diese Erfahrung kann von Betroffenen als sehr negativ empfunden werden, insbesondere wenn bei der Einweisung die Polizei ins Spiel kommt, Gewalt angewendet wird und sie aufgrund verabreichter Medikamente die Kontrolle über ihr Leben verlieren. humanrights.ch unterstützt die fünf Forderungen von Pro Mente Sana, mit denen die hohe Einweisungsrate verringert und die Praxis bei FU verbessert werden soll.

Eine an einer «psychischen Störung, geistiger Behinderung oder schwerer Verwahrlosung leidende Person» darf gegen ihren Willen in einer geeigneten Einrichtung (psychiatrische Klinik, Pflegeheim) untergebracht werden, sofern die notwendige Behandlung oder Betreuung nicht anders gewährleistet werden kann. In diesem Fall spricht man von fürsorgerischer Unterbringung (FU). Dabei muss zwingend eine ernsthafte Selbstgefährdung vorliegen. Unter bestimmten Voraussetzungen kann auch eine Fremdgefährdung berücksichtigt werden. Die Voraussetzungen für die Anordnung der FU sowie der medizinischen Zwangsbehandlungen sind in Art. 426 ff. des Zivilgesetzbuches (ZGB) umschrieben. Die Anordnung einer fürsorgerischen Unterbringung geschieht grundsätzlich durch die kantonal zuständige Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde oder häufiger durch einen Arzt bzw. eine Ärztin. Obwohl im Zivilrecht angesiedelt, stellt die Anordnung einer FU einen verwaltungsrechtlichen Akt dar. Die Verfahrensbestimmungen folgen damit den Prinzipien des öffentlichen Rechts, namentlich des Staats- und Verwaltungsrechts.

Paradigmenwechsel: von der Versorgung zur Fürsorge

Bis 1981 sprach man bei einer entsprechenden freiheitsentziehenden Massnahme von «administrativer Versorgung». Darunter fiel rechtlich die Zwangseinweisung in eine psychiatrische Anstalt oder in nichtmedizinische Einrichtungen, oft auch im Rahmen des Strafvollzugs. Gründe waren unter anderem «liederliches», «arbeitsscheues» oder «asoziales» Verhalten der Betroffenen. In der Schweiz waren zwischen 50'000 und 60'000 Menschen davon betroffen, meist aus sozial benachteiligten Verhältnissen. Die Entscheidungen wurden von Verwaltungsbehörden getroffen.

1981 markierte einen Wendepunkt hin zu einer rechtsstaatlicheren Regelung: Der Begriff der Fürsorge wurde ins ZGB aufgenommen, und der «fürsorgerische Freiheitsentzug» (FFE) eingeführt. Dieser Schritt folgte auf die Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) durch die Schweiz 1974 und auf zivilgesellschaftlichen Druck. Damit wurden die bisherigen kantonalen Regelungen in Versorgungs- und Polizeigesetzen aufgehoben und Vormundschaftsbehörden übernahmen die Zuständigkeit. Der Fokus lag nun stärker auf dem Wohl der betroffenen Personen, was eine sorgfältige Abwägung bei der Anwendung des FFE erforderte. Zudem wurden die Voraussetzungen für einen fürsorgerischen Freiheitsentzug präzisiert, und Betroffene erhielten erstmals die Möglichkeit, vor Gericht Beschwerde dagegen einzulegen.

2013 folgte eine weitere Reform mit der Einführung des aktuellen Kindes- und Erwachsenenschutzrechts. Seitdem spricht man nicht mehr von «fürsorgerischem Freiheitsentzug (FFE)», sondern von «fürsorgerischer Unterbringung (FU)». Zwar änderte der neue Begriff den Inhalt nicht grundsätzlich, doch erinnert er alle beteiligten Personen – darunter Ärzt*innen, Fachkräfte, die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) und Gerichte – daran, jeden Fall sorgfältig zu prüfen. Das neue Gesetz brachte auch Verbesserungen im Rechtsschutz: Während dieser vor 2012 oft unzureichend war und Beschwerdeverfahren für Betroffene zu lange dauerten, muss ein Gericht nun innerhalb von fünf Tagen über eine Beschwerde entscheiden.

Hohe Einweisungsrate bei massiv einschneidender Massnahme

Die Prognose, dass sich mit der Gesetzesrevision von 2013 die FU-Rate reduzieren lasse, hat sich bislang nicht bestätigt. Im Gegenteil: 2022 wurden in der Schweiz über 18'367 Personen gegen ihren Willen mit einer FU in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Dies entspricht bei grossen kantonalen Unterschieden einer durchschnittlichen Rate von 2.07 Einweisungen pro 1000 Einwohner*innen. Die landesweite Durchschnittsrate ist im internationalen Vergleich hoch. Konkret wird jede fünfte Person, die sich in der stationären Psychiatrie in der Schweiz befindet, gegen ihren Willen eingewiesen. Rund 30% der Hospitalisierungen aufgrund fürsorgerischer Unterbringung dauerten 1-7 Tage. Knapp 80% der Hospitalisierungen aufgrund fürsorgerischer Unterbringung sind nach sechs Wochen beendet, während bei etwas mehr als 20% die Hospitalisierung sieben Wochen oder mehr dauert.   Diese Daten beziehen sich aber nur auf die Einweisungen in Psychiatrien. Nicht berücksichtigt werden FU-Einweisungen in andere Einrichtungen wie somatische Abteilungen in Spitälern oder Alters- und Pflegeheime sowie die Zurückbehaltung freiwillig Eingetretener. Es gibt auf nationaler Ebene keine einheitliche und vollständige Datenerhebung zu FU. Es muss davon ausgegangen werden, dass die Anzahl der jährlich verfügten FU einiges höher liegt.

Ein Teil der Menschen, die eine oder mehrere fürsorgerische Unterbringungen (FU) erlebt haben, bewertet diese Erfahrung als negativ oder sehr negativ. Hauptgründe dafür sind zum einen die unfreiwillige Einweisung, die als Zwang empfunden wird, und zum anderen die Einschätzung, dass die Massnahme rückblickend nicht gerechtfertigt war und keine therapeutische Hilfe brachte. Besonders belastend oder traumatisch wird der erlebte Zwang und die Gewalt während der Einweisung beschrieben. Bei polizeilichen Einsätzen kann es zu Gewaltanwendung durch die Beamt*innen kommen. Fehlt es an ausreichender Deeskalation durch die Polizei oder das Klinikpersonal, kommt es mitunter zu körperlichen Verletzungen bei der eingewiesenen Person. Szenen wie die Alarmierung der Polizei durch Nachbar*innen oder Passant*innen, gewaltsames Vorgehen oder ein Abführen in Handschellen empfinden Betroffene oft als demütigend und schambesetzt. Hinzu kommt, dass bei der Ankunft in der Klinik häufig sedierende Medikamente verabreicht werden, wodurch die eingewiesenen Personen nicht in der Lage sind, ihre Rechte wahrzunehmen oder geltend zu machen (vgl. auch Podcast Artikel Sieben, Folge #11 ). Besonders für Menschen mit psychotischen Zuständen ist die Situation zusätzlich belastend, da ihre Kommunikation oft erschwert ist und sie sich vom Klinikpersonal nicht verstanden fühlen. Diese Erfahrung ist für viele Betroffene besonders schmerzhaft.

Forderungen zur Reduktion der FU-Einweisungen und -Praxis

Aufgrund der kontinuierlich hohen FU-Rate sowie der Praxis bei der Verfügung einer FU publizierte die Organisation Pro Mente Sana Ende 2022 ein Positionspapier, in das Ergebnisse aus Evaluationen des neuen Erwachsenenschutzrechts sowie Berichte von Betroffenen integriert wurden. Darin enthalten sind fünf Forderungen:

  • Verhängung der FU als Ultima Ratio: Das heisst, dass eine FU nur dann verfügt wird, wenn es effektiv keine Alternative gibt. Auf struktureller Ebene haben die Kantone für ein genügendes ambulantes Angebot besorgt zu sein.
  • Bessere Qualifikation des zuweisenden Fachpersonals: Fachpersonen, die eine FU veranlassen können, müssen zwingend qualifiziert sein und (re)zertifiziert werden.
  • 4-Augen-Prinzip bei der Zuweisung: in jedem Fall einer FU-Verfügung müssen zwei Fachpersonen diese Verfügung bestätigen.
  • Gewährung des rechtlichen Gehörs und Aufklärung der Betroffenen über ihre Rechte: Personen, die per FU in eine Institution eingewiesen werden, muss das rechtliche Gehör gewährt und sie müssen über ihre Rechte aufgeklärt werden, insbesondere über das Recht auf den Beizug einer Vertrauensperson und über ihre Beschwerdemöglichkeit. Sollte das in der Akutsituation nicht möglich sein, muss dies ohne Zeitverzug erfolgen, sobald der Zustand der betroffenen Person dies erlaubt.
  • Obligatorische Nachbesprechung der FU: Nach jeder FU muss zwingend eine Nachbesprechung mit den beteiligten Personen (einweisende Fachperson und interprofessionelles Behandlungsteam) durchgeführt und die betroffene Person dazu eingeladen werden.

Weiterführende Informationen: