humanrights.ch Logo Icon

Rechte von Angehörigen im psychiatrischen Zwangskontext

27.02.2025

In diesem Gastbeitrag werden die Rechte der Angehörigen im psychiatrischen Zwangskontext beleuchtet. Es wird aufgezeigt, welche gesetzlichen Einflussmöglichkeiten bestehen und welche Handlungsspielräume Angehörige ausschöpfen können bei fürsorgerischer Unterbringung (FU) und Zwangsmassnahmen (Fixation, Isolation und Medikation).

Gastbeitrag von lic. iur. Sandra Joos und Dr. iur. Myriam Schwendener, Fachverantwortung Recht Pro Mente Sana

Mit der Revision des Vormundschaftsrechts im Jahr 2013 verschwand der Begriff Freiheitsentziehung aus dem schweizerischen Zivilrecht. Die ehemals fürsorgerische Freiheitsentziehung wurde zur fürsorgerischen Unterbringung (FU). Indessen vermochte die beschönigende Begriffsänderung die harte Realität nicht zu verbessern. Im Gegenteil, die Entwicklung bei den freiheitseinschränkenden Massnahmen zeigt Jahr für Jahr stetig nach oben. Und dies trotz Ausbau des Rechtsschutzes von Betroffenen und auch von Angehörigen.

Rechte von Angehörigen bei fürsorgerischer Unterbringung (FU)

Schweizweit werden die meisten FU durch Ärzt*innen ausgesprochen. Nur ein geringer Prozentsatz verfügt die Kesb. Die Belastung und der Schutz von Angehörigen ist ein Kriterium, welches beim Unterbringungsentscheid mitberücksichtigt wird. Im Gesetz (Art. 430 abs. 5 ZGB) ist vorgesehen, dass eine nahestehende Person über die Zwangseinweisung sowie das Beschwerderecht zu informieren ist. In erster Linie entscheidet die betroffene Person, wer und gegebenenfalls über was informiert werden soll. Der geäusserte Wille, die Angehörigen seien nicht zu informieren, muss unter dem Aspekt der ärztlichen Schweigepflicht respektiert werden.

Betroffene können sich aufgrund des Schwächezustandes nicht immer selbst für ihre Rechte einsetzen. Deshalb ist es wichtig, dass Angehörige für sie handeln dürfen. So können nicht nur Betroffene, sondern auch die Angehörigen jederzeit ein Entlassungssuch an die Klinik oder an die Kesb richten. Über ein solches Gesuch muss ohne Verzug entschieden werden, d.h. innerhalb weniger Tage. Alternativ können die Angehörigen als nahestehende Personen innert der 10-tägigen Frist eine Beschwerde gegen die FU beim Gericht einreichen.

Angehörige als Vertrauensperson

Das Institut der Vertrauensperson fand im Zuge der Gesetzesrevision mit Art. 432 ZGB Eingang ins Erwachsenenschutzrecht. Es stellt einen Kompromiss dar, was die Forderung nach einer regelhaften anwaltschaftlichen Rechtsvertretung betrifft. Diese wurde dazumal in der parlamentarischen Debatte aus Kostengründen rasch versenkt.

Zwangsuntergebrachte Psychiatrie-Patient*innen sind in zweifacher Hinsicht in einer Ohnmachtssituation: Einerseits werden sie aus ihrem Umfeld herausgerissen und fremdbestimmten Regeln unterworfen, andererseits können sie durch die akute psychische Störung in ihren Fähigkeiten beeinträchtigt sein, für sich einzustehen und eigene Rechte durchzusetzen. Die gesetzgeberische Intention zielt mit der Vertrauensperson darauf ab, Betroffene im Zwangskontext zu stärken. Patient*innen sollen bei der Wahrnehmung ihrer Rechte gegenüber den Behörden und der Einrichtung unterstützt, und auch der Kontakt zur Aussenwelt soll durch das Besuchsrecht der Vertrauensperson sichergestellt werden.

Eine Vertrauensperson ist idealerweise ein*e Freund*in oder Angehörige, zu welcher bereits ein Vertrauensverhältnis besteht. Sie wird von den Betroffenen ernannt und handelt in deren Auftrag. Insgesamt geht es um die bestmögliche Interessenvertretung einer von Zwangsmassnahmen betroffenen Person.

Als explizit ernannte Vertrauensperson können Angehörige gegenüber der Einrichtung gestärkt auftreten – sie haben etwas mehr Rechte als «normale» Angehörige. So kann die Vertrauensperson ein Gespräch verlangen über die geplante Behandlung. Der*die behandelnde Ärzt*in hat den*die Patient*in und die Vertrauensperson zu informieren (Art. 433 Abs. 2 ZGB) über Gründe, Zweck, Art, Modalitäten sowie Risiken und Nebenwirkungen der möglichen medizinischen Massnahmen. Der so erarbeitete Behandlungsplan wird dem*der Patient*in  und deren Vertrauensperson schriftlich ausgehändigt. Erachtet die Vertrauensperson die zwangsfrei geplante Behandlung als nicht angemessen, kann sie gegen den Behandlungsplan allerdings keine Beschwerde erheben. Rechtsmittel sind hier nicht vorgesehen. Indirekt kann die Zweckmässigkeit der Behandlung gerichtlich überprüft werden über eine Beschwerde gegen ein abgewiesenes Entlassungsgesuch.

Falls eine Zwangsbehandlung und/oder Zwangsmassnahme angeordnet werden, ist auch der Vertrauensperson eine schriftliche Verfügung mit Rechtsmittelbelehrung zu eröffnen. Die Vertrauensperson hat ein umfassendes Beschwerderecht (mehr dazu im letzten Abschnitt).

Die Einrichtung darf die Vertrauensperson nicht ablehnen, und sie darf den direkten Kontakt zur Betroffenen sowie ein erweitertes Besuchsrecht nicht unterbinden.

Rechte von Angehörigen bei medizinischer Behandlung

Aus dem Grundrecht auf persönliche Freiheit folgt, dass jede medizinische Behandlung die Zustimmung der betroffenen Person braucht. Ist die Person urteilsfähig und lehnt die Behandlung ab, ist diese nicht zulässig. Bei urteilsunfähigen Personen muss der Entscheid ersetzt werden. Zum einen ist es möglich, dass die betroffene Person selbst in einer Patient*innenverfügung ihren Willen zum Ausdruck gebracht hat, zum anderen existiert für Angehörige ein gesetzliches Vertretungsrecht, wenn keine Patient*innenverfügung erstellt worden ist. In der Psychiatrie werden diese Grundsätze jedoch eingeschränkt, wie nachfolgend erläutert:

Psychiatrische Patient*innenverfügung (PPV) 

Die betroffene Person kann in einer Patient*innenverfügung festlegen, welchen Behandlungsmassnahmen sie während ihrer Urteilsunfähigkeit zustimmt und welche sie ablehnt. Diese Anordnungen sind grundsätzlich zu befolgen. Indessen zeigt sich ein massgebender Unterschied zwischen somatischer und psychiatrischer Patient*innenverfügung: In der somatischen Medizin wird einer Patient*innenverfügung auch bei einer Selbstgefährdung (bis hin zum Tod) entsprochen, in der Psychiatrie hingegen hat der Gesetzgeber vorgesehen, dass bei Vorliegen einer psychischen Erkrankung und damit zusammenhängender ernsthafter Selbst- oder Fremdgefährdung das Recht auf Selbstbestimmung aufgehoben werden darf. Der*die Chefärzt*in einer psychiatrischen Klinik kann sich also über eine Psychiatrische Patient*innenverfügung (PPV) hinwegsetzen, wenn die in der PPV enthaltenen Anordnungen die Gefahr nicht abwenden können. In diesem Fall gelten die Bestimmungen über die Behandlung ohne Zustimmung (Art. 434 ZGB) bzw. Massnahmen zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit (Art. 438 ZGB).

Gerade weil Zwangsmassnahmen einen massiven Eingriff in die persönliche Freiheit der betroffenen Person darstellen, gilt es, diese so weit als möglich zu vermeiden. Die Psychiatrische Patient*innenverfügung kann einiges dazu beitragen, indem z.B. beim Thema «Umgang mit ernsthaften Gefährdungssituationen» festgehalten wird, was getan werden kann, um die Situation zu entschärfen.
 
Die betroffene Person kann Angehörigen in der Psychiatrischen Patient*innenverfügung zudem zusätzliche Rechte einräumen, z.B. Informationsrechte oder Akteneinsicht und diese als Vertrauenspersonen bestimmen und so die Stellung der Angehörigen stärken.

Vertretungsperson

Aus der Somatik ist bekannt, dass in einer Patient*innenverfügung nicht nur Anordnungen über die medizinische Behandlung getroffen werden können, sondern auch eine Vertretungsperson ernannt werden kann, die im Falle einer Urteilsunfähigkeit anstelle der betroffenen Person über die Behandlung entscheidet. In Bezug auf die Psychiatrie dominiert die Ansicht, dass eine solche Vertretung ausgeschlossen ist. Es ist vom Gesetzgeber zwar explizit gewollt, dass Angehörige (anders als in der Somatik) nicht automatisch ein gesetzliches Vertretungsrecht erhalten, wenn die betroffene Person keine eigenen Vorkehrungen getroffen hat. Begründet wird dies mit dem Schutz der betroffenen Personen davor, ohne weitere Umstände von Angehörigen in die Psychiatrie abgeschoben zu werden. Es wäre aus Sicht von Pro Mente Sana jedoch folgerichtig, wenn eine gewillkürte Vertretung – die Einsetzung einer Vertretungsperson in Ausübung des Selbstbestimmungsrechts – möglich wäre. Die gegenteilige Ansicht bedeutet, dass die Behandlung einer urteilsunfähigen Person in der Psychiatrie nur als Zwangsbehandlung möglich ist – also wenn damit eine ernsthafte Gefährdung abgewendet werden kann. Solange keine ernsthafte Gefährdung besteht, darf nicht behandelt werden. Das ist stossend, weil das Recht auf persönliche Freiheit und Art. 370 Abs. 2 ZGB ein Recht auf Delegation der Zustimmung einschliessen und es deshalb möglich sein sollte, dass eine Person in ihrer Psychiatrischen Patient*innenverfügung eine Vertretungsperson bezeichnen kann, welche an ihrer Stelle mit dem*der behandelnden Ärzt*in die medizinischen Massnahmen bespricht und in ihrem Namen entscheidet. Dies würde den Spielraum und die Flexibilität für medizinische Behandlungen erhöhen und Zwangsmassnahmen reduzieren. Dabei gelten für die Vertretungsperson die gleichen Schranken wie für die betroffene Person selbst: Bei Vorliegen einer ernsthaften Gefährdung der Gesundheit oder des Lebens der betroffenen Person bzw. der körperlichen Integrität Dritter ist der Wille der Vertretungsperson unbeachtlich, wenn die Gefahr dadurch nicht genügend abgewendet werden kann.

Ein genereller Ausschluss des durch eine Psychiatrische Patient*innenverfügung eingeräumten Vertretungsrechts in der Psychiatrie stellt hingegen eine zusätzliche und aus Sicht von Pro Mente Sana unzulässige Beschneidung des Rechts auf Selbstbestimmung dar. Zudem wird die Forderung immer lauter, die Psychiatrische Patient*innenverfügung (PPV) sei der somatischen Patientenverfügung gleichzustellen, was eine uneingeschränkte Wirkung der PPV und der darin verfügten Vertretungsrechte und eine weitere Reduktion von Zwang zur Folge hätte.

Beschwerderechte von Angehörigen

In der schweizerischen Gesetzgebung kann der Rechtsschutz bei den diversen Zwangsmassnahmen als gut ausgebaut bezeichnet werden. In keinem anderen ordentlichen Zivilverfahren steht dem Gericht eine solch kurze Bearbeitungszeit zur Verfügung wie bei Beschwerden gegen die FU: Zwischen Eingang der Beschwerde und Entscheid sind lediglich fünf Arbeitstage (Art. 450e Abs. 5 ZGB)  vorgesehen. Kritik ist anzubringen wegen der Schwierigkeit, kurzfristig ein*e Anwält*in für die Rechtsvertretung zu finden sowie wegen dem Kostenrisiko. In den meisten Kantonen ist das Verfahren kostenpflichtig.

Zur Beschwerde legitimiert sind neben den Betroffenen alle ihnen nahestehenden Personen. Massgebend ist die faktische Verbundenheit, sei es durch Freundschaft oder Verwandtschaft. Angehörige in diesem Sinne können in eigenem Namen und mit eigenem Kostenrisiko Beschwerde erheben gegen die Zwangsunterbringung, gegen Zwangsbehandlungen und gegen jede bewegungseinschränkende Massnahme. Eine Begründung ist nicht erforderlich. Trotz dieser prozessualen Erleichterung zeigt die Praxis, dass «Rechte haben» und «Rechte wahrnehmen» zwei unterschiedliche Paar Schuhe sind. In der Beratungstätigkeit für Betroffene und Angehörige von Pro Mente Sana zeigt sich, dass Rechte nicht bekannt sind und – noch gewichtiger – verständlicherweise eine grosse Hürde besteht, als juristische Laien ein Gerichtsverfahren mit den prozessualen Risiken auf sich zu nehmen. Die Unentgeltlichkeit des Verfahrens sowie der garantierte Zugang zu einer professionellen Rechtsvertretung würden die Hemmschwelle erheblich verringern und wären aus Sicht von Pro Mente Sana zu begrüssen. Immerhin geht es beim Entzug der Freiheit um ein gewichtiges Rechtsgut, welches durch den Staat bestmöglich zu schützen ist.

Hervorzuheben ist die Beschwerdemöglichkeit von Angehörigen bei der Durchsetzung der Patient*innenverfügung. Aufgrund des Schwächezustandes (Urteilsunfähigkeit) der betroffenen Person besteht ein besonderes Schutzbedürfnis. Damit der schriftlich geäusserte Wille im Anwendungsfall durchgesetzt wird, braucht es Aussenstehende, welche die Behandlung überwachen. Dementsprechend können nahestehende Personen bei Missachtung (Art. 373 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB) der Patient*innenverfügung beschwerdeweise an die Kesb gelangen. Das gilt insbesondere auch für den Fall, dass Angehörige nicht als Vertretungsperson akzeptiert werden, obschon die betroffene Person diese in der Psychiatrischen Patientenverfügung als solche eingesetzt hat.

Nicht unerwähnt bleiben soll, dass keine Beschwerdemöglichkeit besteht bei Entscheiden von Ärzt*innen, welche sich gegen eine FU aussprechen oder gegenüber Kliniken, welche eine Entlassung anordnen. Das Gesetz sieht nur bei Freiheitseinschränkung Rechtsmittel vor.

Fazit

Die Rechte der Angehörigen in der Psychiatrie sind weitgehend davon abhängig, dass die betroffene Person einen Einbezug von Angehörigen wünscht. Falls dem so ist, können Betroffene mit der Psychiatrischen Patient*innenverfügung oder mit der Ernennung als Vertrauensperson ihren Angehörigen zu mehr Rechten verhelfen. Hingegen haben die Behandlungsanordnungen in einer Psychiatrischen Patient*innenverfügung nur eingeschränkte Durchsetzungskraft und trotz gut ausgebauter Beschwerderechte sind die Hürden für rechtliche Laien, ein Gerichtsverfahren zu bestreiten, oft zu gross. Es bräuchte aus Sicht von Pro Mente Sana:

  • Die Anerkennung einer gewillkürten Vertretung, d.h. Einsetzung einer Vertretungsperson in Ausübung des Selbstbestimmungsrechts auch in der Psychiatrie
  • Den Abbau von Hürden zum Bestreiten von Rechtsverfahren wie der Schwierigkeit, kurzfristig ein*e Anwält*in für die Rechtvertretung zu finden und die Prozesskosten.

Zusätzliche Informationen:
Christoph Lüthy (2015), Gilt sie oder gilt sie nicht? Pro Mente Sana aktuell 4/15, Psychiatrische Patientenverfügung und Vertrauensperson