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Direkte Demokratie und Menschenrechte: Die wichtigsten Stationen der Diskussion

27.07.2016

In diesem Artikel wird chronologisch die Geschichte der jüngsten Diskussionen um Volksrechte und Völkerrecht bzw. um die direkte Demokratie in ihrem Verhältnis zum Grundrechtsschutz und zu den international anerkannten Menschenrechten skizziert. Die einzelnen Stationen sind mit Artikeln auf humanrights.ch dokumentiert.

Nachkriegszeit

Seit der Gründung der UNO und des Europarats gibt es in der Schweiz politische Traditionslinien, die sich dem Isolationismus verschrieben haben, gerade auch was die Systeme des internationalen Menschenrechtsschutzes angeht. Jon Fanzun hat diese Geschichte 1945-1982 detailliert nachgezeichnet:

Anerkennung der internationalen Menschenrechte

Mit der Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention 1974 und der wichtigsten UNO-Menschenrechtsabkommen 1992 hat die Schweiz den internationalen Menschenrechtsschutz schliesslich in ihr Rechtssystem integriert. Dieser Paradigmenwechsel wurde mit einem expliziten Grundrechtekatalog (allerdings ohne die meisten Sozialrechte) in der revidierten Bundesverfassung vom Jahre 2000 besiegelt.

Attacke von Bundesrat Blocher

Christoph Blocher hat die Tradition der Abwehrhaltung gegenüber den internationalen Menschenrechten während seiner Bundesrats-Zeit gezielt reaktiviert. Seine Polemik gegen die «Völkerrechts-Professoren» am 1. August 2007 diente sowohl kurzfristigen innenpolitischen (Verschärfung des Asyl- und Ausländerrechts) und wie auch längerfristigen propagandistischen Zielen.

Verwahrungs-Initiative

Im Jahre 2003 hatte das Stimmvolk der Verwahrungsinitiative zugestimmt, die entgegen der Europäischen Menschenrechtskonvention keine regelmässige Überprüfung der Inhaftierungsgründe zulässt. Die Umsetzungsbestimmungen zur Verwahrungsinitiative waren denn auch Gegenstand schwieriger Diskussionen, mit dem Resultat, dass sowohl die neue Verfassungsbestimmung wie auch die EMRK nur teilweise bzw. ungenügend erfüllt werden. Aus dem BGE 140 IV 1 kann wohl geschossen werden, dass die lebenslange Verwahrung nie angewendet werden wird.

Minarettverbots-Initiative

Am 29. November 2009 hat die Schweizer Stimmbevölkerung die Initiative für ein Minarettverbot angenommen, obwohl im Vorfeld deutlich gemacht wurde, dass das Verbot gegen die Grund- und Menschenrechte der Religionsfreiheit und des Diskriminierungsverbots verstösst.

Ausschaffungs- und Durchsetzungsinitiative

Die Lancierung der Ausschaffungsinitiative bescherte der SVP im Herbst 2007 grosse Wahlerfolge, obwohl das Begehren über die Landesgrenzen hinweg kritisiert wurde. Die Initiative wurde in der Volksabstimmung vom 28. Nov. 2010 schliesslich mit deutlichem Mehr angenommen.

Fachleute haben immer bestritten, dass die Initiative tel quel umgesetzt werden kann, weil sie gegen das Prinzip der Einzelfallprüfung verstösst, selbst wenn dem Non-Refoulement-Prinzip Genüge getan wird. Das Bundesgericht hat in seinem BGE 139 I 16 vom 12. Oktober 2012 entschieden, dass eine Verhältnismässigkeitsprüfung des Einzelfalles notwendig ist und ein Ausschaffungsautomatismus somit nicht angewendet werden könnte.

Um solche Bedenken unwirksam zu machen, hat die SVP daraufhin die sog. «Durchsetzungsinitiative» lanciert und eingereicht, welche eine wörtliche (d.h. menschenrechtswidrige) gesetzliche Umsetzung der Ausschaffungsinitiative verlangt. Zuerst hatte dieses Druckmittel gewirkt, als der Nationalrat im März 2014 entschied, den Verfassungstext der Ausschaffungsinitiative ohne Einschränkungen umzusetzen. Doch dann hat der Ständerat im Winter 2014 als Notbremse eine Härtefallklausel in die Vorlage eingebaut, worauf der Nationalrat auf diesen Kompromiss umgeschwenkt ist. Anstatt die Volksinititiative zurückzuziehen, beharrte die SVP auf einer Abstimmung. Der Abstimmungskampf brachte eine ungeahnte Mobilisierung gegen die Vorlage, und zwar quer durch die meisten politischen Lager.

Die Durchsetzungsinitiative wurde am 28. Feb. 2016 vom Stimmvolk mit einer klaren Mehrheit von 58.9% abgelehnt.

Pädophilie-Initiative

Am 18. Mai 2014 hat das Stimmvolk die Pädophilie-Initiative mit 63,5 % angenommen. Die Volksinitiative sieht vor, dass Pädophile nie mehr mit Kindern und Jugendlichen arbeiten dürfen. Der von der Initiative vorgesehene Automatismus des Tätigkeitsverbots hebelt das rechtstaatliche Grundprinzip der Verhältnismässigkeit aus (Art. 5 BV). Ohne die rechtsstaatlichen Grundlagen der Bundesverfassung und der EMRK zu verletzen, kann die Initiative wohl nicht umgesetzt werden.

Vorschlag des Bundesrats zur Reform des Initiativrechts

Die Kollision von Volksinitiativen mit Bestimmungen der internationalen Menschenrechte ist ein staatspolitisch schwieriges Thema. Die Kommission für Rechtsfragen des Ständerats hatte bereits im Jahre 2007 ein Postulat für vertiefte Abklärungen an den Bundesrat überwiesen; der Nationalrat doppelte in der Märzsession 2009 nach. Der Bundesrat hat sodann im März 2010 einen ersten Bericht und am 31. März 2011 einen Zusatzbericht vorgelegt, welcher einige konkrete Lösungsvorschläge enthält.

Am 15. März 2013 schliesslich hat der Bundesrat den Vorschlag in die Vernehmlassung geschickt, dass künftig noch vor der Unterschriftensammlung überprüft werden soll, ob eine Volksinitiative mit dem Völkerrecht vereinbar ist. Zudem soll das Parlament neu auch Volksinitiativen ungültig erklären können, die den Kerngehalt der Grundrechte verletzen.

Am 13. Dez. 2013 hat der Bundesrat aufgrund der negativen Rückmeldungen in der Vernehmlassung beschlossen, diese beiden Reformvorschläge nicht mehr weiter zu verfolgen.

Beiträge der Zivilgesellschaft

Auch in der schweizerischen Zivilgesellschaft gab und gibt es eine rege Diskussion über praktikable Lösungsansätze. Insbesondere im Kontext der sog. «Solothurner Landhausversammlung» wurde versucht, diese Diskussion auch in einer breiteren Öffentlichkeit zu führen, was allerdings nicht gelungen ist.

Selbstbestimmungs- bzw. Fremde-Richter-Initiative

Die Diskussionen der letzten Jahre haben klar gemacht, dass eine buchstabengetreue Umsetzung der Verwahrungs-, der Minarett- und  der Ausschaffungsinitiative höchst wahrscheinlich in Konflikt gerät mit Prinzipien und Grundrechten der Bundesverfassung sowie den garantierten Menschenrechten der Europäischen Menschenrechtskonsvention (EMRK).

Die SVP versucht, aus diesen juristischen Problemen politisches Kapital zu schlagen, indem sie seit Jahren die EMRK bzw. den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) als neues Feinbild aufgebaut hat. Die systematische Polemik gegen den EGMR mündete im Jahre 2013 in eine politische Kampagne, die zuerst unter dem dem Motto «Landesrecht vor Völkerrecht» stand und Anfang 2015 in der Lancierung einer Volksinitiative «Schweizer Recht statt fremde Richter (Selbstbestimmungsinitiative)» gipfelte. Im Wahljahr 2015 wurden dafür die Unterschriften gesammelt. Am 12. Aug. 2016 wurde die «Anti-Menschenrechtsinitiative» eingereicht.

Gegen diese SVP-Initiative hat sich von Anfang an grosser Widerstand geregt: sowohl seitens der grossen politischen Parteien wie auch seitens der Zivilgesellschaft. Der im November 2014 gegründete Verein «Dialog EMRK» koordiniert die Informationskampagne «Schutzfaktor M», welche der SVP-Polemik mit Aufklärung und Medienarbeit den Wind aus den Segeln nimmt.