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Umsetzung der Ausschaffungsinitiative mit Härtefallklausel

16.03.2015

Der Nationalrat schwenkt bei der Umsetzung der Ausschaffungsinitiative auf die Linie des Ständerats um: Er hat sich für die Härtefallklausel und damit für einen gemässigteren Weg ausgesprochen, der mit den bewährten Rechtsgrundsätzen der Schweiz zu vereinbaren ist.  Damit ist der Ausschaffungs-Automatismus vom Tisch. Die Härtefallklausel berücksichtigt das in Art. 5 BV festgeschriebene Verhältnismässigkeitsprinzip in minimaler Weise.

Mit dem Entscheid des Nationalrates wird der Verfassungstext, welcher durch das Schweizer Volk im November 2010 angenommen wurde, respektiert. Dem Verfassungstext wird auf Gesetzesebene eine Härtefallklausel angefügt, nach welcher das Gericht im konkreten Einzelfall «ausnahmsweise von einer Landesverweisung absehen kann, wenn diese für den Ausländer  einen schweren persönlichen Härtefall bewirken würde und die öffentlichen Interessen an einer Landesverweisung gegenüber den privaten Interessen des Ausländers am Verbleib in der Schweiz nicht überwiegen. » Namentlich soll die Klausel «der besonderen Situation von Ausländern Rechnung tragen, die in der Schweiz geboren oder aufgewachsen sind.»

Viele NGO’s begrüssen den Entscheid, so etwa die Kampagne «Schutzfaktor M – Menschenrechte schützen uns», welche ihn als «notwendigen und verantwortungsbewussten Entscheid zugunsten der Menschenrechte» einstuft. Allerdings ist beizufügen, dass die Härtefallregelung sehr restriktiv formuliert ist und das Umsetzungsgesetz in seiner Anwendung immer noch zu einer äusserst rigorosen Praxis führen wird.

Der Ständerat hat am 16. März 2015 die verbliebenen Differenzen zum Nationalrat bereinigt. Damit ist die Umsetzung der Ausschaffungsinitiative definitiv geregelt - Referendum und Durchsetzungsinitiative vorbehalten.

    Einschüchterungstaktik der SVP

    Als Reaktion auf den Entscheid des Nationalrats hält die SVP an der Durchsetzungsinitiative fest. Diese wird vermutlich im Jahre 2016 zur Volksabstimmung kommen. Gleichzeitig begann die SVP am 10. März 2015 mit der Unterschriftensammlung zur Volksinitiative «Schweizer Recht statt fremde Richter (Selbstbestimmungsinitiative)», welche u.a. den Zweck hat, den Weg freizumachen für eine EMRK-widrige Umsetzung der Ausschaffungs- bzw. Durchsetzungsinititiative.

    Die «Initiative für die Ausschaffung krimineller Ausländer» der SVP war in der Volksabstimmung vom 28. November 2010 mit 52,9 Prozent Zustimmung angenommen worden. Der verfassungskonforme Gegenvorschlag des Bundesrates blieb mit 45,8 Prozent chancenlos. Die Volksinitiative schuf einen neuen Artikel 121 in der Bundesverfassung, wonach Ausländer/innen, die bestimmte Delikte begangen haben, nach Verbüssung der Strafe automatisch ausgeschafft werden. Dieser Automatismus ist mit dem Verhältnismässigkeitsprinzip nicht zu vereinbaren.

    Der Bundesrat verabschiedete Ende Juni 2013 zuhanden des Parlaments eine Umsetzungsvorlage, die vom strikten Automatismus abrückte (Einzelheiten vgl. unten). Der Kompromissvorschlag war in einem langwierigen Verfahren erarbeitet worden. Kopfzerbrechen bereitete die Vorlage nicht zuletzt deshalb, weil die SVP unterdessen eine weitere Volksinitiative bei der Bundeskanzlei eingereicht hatte, die Initiative zur Durchsetzung der Ausschaffung krimineller Ausländer (Durchsetzungsinitiative). Diese möchte eine buchstabengetreue Umsetzung der Ausschaffungsinitiative in die Verfassung schreiben.

    Am 20. März 2014 kam die Umsetzungsvorlage des Bundesrates zur Erstberatung in den Nationalrat. Eine Mehrheit von 104 gegen 71 Stimmen votierte für eine wortgetreue Umsetzung gemäss der Durchsetzungsinitiative, die noch nicht einmal dem Volk vorgelegt worden war. Dieser erste Nationalrats-Entscheid desavouierte den Bundesrat. Die Zivilgesellschaft kritisierte den Entscheid heftig, weil der Nationalrat unter bewusster Ausschaltung des rechtstaatlichen Verhältnismässigkeitsprinzips die SVP-Durchsetzungsinitiative als Vorlage für die Umsetzung der Ausschaffungsinitiative genommen hatte.

    Vom Entscheid des Ständerats…

    Im Juni 2014 erklärte die Staatspolitische Kommission des Ständerats (SPK-S) die SVP-Durchsetzungsinitiative für teilweise ungültig und zwar im Punkt der Festschreibung des zwingenden Völkerrechts. Sie erklärte, dass mit dem Instrument der Durchsetzungsinitiative die Gewaltenteilung geritzt werde, weil das Parlament für die Umsetzung einer Initiative im Gesetz zuständig sei. Die SPK-S liess sich nicht vom Druck der SVP lenken. Sie entschied im November 2014, dass sie sich bei der Umsetzung der Ausschaffungsinitiative für einen «Mittelweg» einsetzen wird und rückte vom Delikt bezogenen Automatismus einer Ausschaffung ab.

    Am Tag der Menschenrechte, am 10. Dezember 2014 entschied der Ständerat mit 28 gegen 3 Stimmen (bei 9 Enthaltungen), den Anträgen seiner Staatspolitischen Kommission zu folgen.

    … zum Umdenken im Nationalrat

    Am 11. März 2015 hat sich der Nationalrat dazu entschlossen, auf die Linie des Ständerats einzuschwenken und für die Umsetzung der Ausschaffungsinitiative einen gemässigteren Weg zu wählen als die ursprünglich maximal harte Variante.

    Einige Nationalräte/-innen dürften bei ihrem ersten Entscheid, die harte Linie der SVP durchzuziehen, politisch kalkuliert haben. Denn hätte das Parlament den Vorschlag des Bundesrates ohne Hin-und-her gestützt, dann wäre es vermutlich noch vor den Wahlen im Herbst 2015 zu einer Abstimmung über die Durchsetzungsinitiative der SVP gekommen.

    Ältere Dokumente in chronologischer Reihenfolge

    Kommentar humanrights.ch

    Der ursprüngliche Entscheid des Nationalrats schien nur auf den ersten Blick besonders verfassungskonform zu sein; bei näherem Hinsehen erwies er sich als Schritt hin zu einem Verfassungsbruch. Das Bundesgericht hatte nämlich bereits im Herbst 2012 unmissverständlich darauf hingewiesen, der Gesetzgeber sei verpflichtet, den neuen Ausschaffungsartikel so auszulegen, dass die Einheit der Bundesverfassung, insbesondere die rechtstaatlichen Prinzipien von Art. 5 BV, gewahrt bleiben. Das Prinzip der Verhältnismässigkeit und der Rechtsanspruch auf eine richterliche Überprüfung des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Rechts auf Familie Art. 8 EMRK würden ausser Kraft gesetzt, falls der Gesetzgeber den vom Ausschaffungsartikel suggerierten Automatismus von Ausschaffungen unverändert übernehmen würde.

    Hätte sich der Gesetzgeber für den Automatismus ohne Ausnahmen entschieden, hätte er wichtige rechtsstaatliche Grundsätze fallen gelassen. Heute ist klar, dass wahltaktisches Kalkül ausschlaggebend war für die ursprüngliche Haltung der Nationalratsmehrheit, nämlich das Vermeiden einer allfälligen Abstimmung über die SVP-Durchsetzungsinitiative vor den eidgenössischen Wahlen im Jahre 2015. Dieses Kalkül bewirkte, dass sich die Ständeratskommission eingehender mit einer Kompromisslösung befassen musste, die nun gefunden wurde. Die Befürchtung, dass die Räte eine Abstimmung über die Durchsetzungsinitiative vollständig verhindern wollen, war schliesslich unbegründet. Ein solches Kalkül wäre denkwürdig gewesen, denn dann hätte das Parlament zum ersten Mal im vollen Bewusstsein verfassungs- und menschenrechtswidrige Bestimmungen in ein Gesetz gegossen und einen offenen Konfrontationskurs mit der Bundesverfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) eingeschlagen. Dies hätte das Bundesgericht in ein schwieriges Dilemma versetzt.

    Humanrights.ch ist froh, dass es nicht soweit kam. Die Umsetzung trägt dem Menschenrechtsschutz nun minimal Rechnung und lässt unter bestimmten Voraussetzungen eine Verhältnismässigkeitsabwägung zu.

    Der Einbezug von Grundrechtsschutz und Verhältnismässigkeitsprinzip wird von den Initianten der Ausschaffungsinitiative häufig als «Missachtung des Volkswillens» beklagt. Dabei geht vergessen, dass deren Berücksichtigung im Gegenteil gerade von Respekt vor dem Souverän zeugt - sind diese Werte doch Teil der von Volk und Ständen angenommenen Verfassung. Konsequenzen wird die Ausschaffungsinitiative so oder so haben: Bereits heute kommt es vermehrt zu Fällen, in denen eine Ausschaffung Familien auseinander reisst.

    Der neue Ausschaffungsartikel in der Verfassung

    Der Artikel 121 der Bundesverfassung ist mit der Ausschaffungsinitiative um drei neue Absätze ergänzt worden. Diese halten fest, dass alle Ausländer und Ausländerinnen unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus bei rechtskräftiger Verurteilung wegen bestimmter Straftaten das Aufenthaltsrecht verlieren. Erwähnt sind in der Verfassung folgende Straftaten: vorsätzliche Tötung, Vergewaltigung oder andere schwere Sexualdelikte, Gewaltdelikte (z.B. Raub), Menschenhandel, Drogenhandel oder Einbruchsdelikte. Das Aufenthaltsrecht verliert zudem, wer missbräuchlich Leistungen der Sozialversicherungen oder der Sozialhilfe bezogen hat.

    Grundsätzliche Schwierigkeiten bei der Umsetzung

    Bei der Umsetzung der Ausschaffungsinitiative treten grundsätzliche Schwierigkeiten auf. Ein Automatismus, wie ihn der neue Verfassungsartikel suggeriert, ist mit internationalen Menschenrechtsverträgen nicht vereinbar und widerspricht der Bundesverfassung, da so weder das Strafmass noch die Schwere der Tat oder die persönliche Situation des Betroffenen bei einem Landesverweis vom Richter beachtet werden dürften. Bereits im Nachgang der Abstimmung über die Ausschaffungsinitiative forderten deshalb verschiedene Akteure, wie auch humanrights.ch, eine Gesetzeslösung zu finden, mit welcher im Einzelfall die Verhältnismässigkeit gewahrt werden kann. Insbesondere müssen das Non-Refoulement-Prinzip sowie das Recht auf Familienleben eingehalten werden.

    Die ursprünglichen Umsetzungsvorschläge des Bundesrates

    Variante 1: Der Kompromiss

    Diesen Schwierigkeiten hat der Bundesrat mit einem als Kompromisslösung ausgestalteten Umsetzungsvorschlag (Variante 1) zu begegnen versucht: Zwar muss der Richter demnach bei der Begehung von schweren Sexual-, Gewalt- und Vermögensdelikten, Einbruchsdelikten sowie dem betrügerischen Bezug von Sozialleistungen grundsätzlich einen Landesverweis aussprechen – dies entspricht dem von der Initiative geforderten Automatismus.

    Zwei Ausnahmen dürften den Vorschlag aber mit Menschenrechtsabkommen kompatibel machen: Zum einen muss für einen Landesverweis eine Freiheitsstrafe von mehr als 6 Monaten verhängt worden sein. Diese Mindeststrafe verhindert einen Automatismus der Ausschaffung bei leichten Delikten, wobei Kriminaltouristen und Wiederholungstäter von der Regel wiederum ausgenommen sind und auch bei leichten Strafen des Landes verwiesen werden können. Zum anderen darf nach dem Bundesratsvorschlag die Landesverweisung für den Ausländer oder die Ausländerin nicht «unzumutbar» sein, d.h. die Verurteilten dürfen nicht in ihren persönlichen Rechten, welche durch internationale Menschenrechtsgarantien (wie etwa aus der EMRK oder dem UNO-Pakt II) geschützt sind, in schwerwiegender Weise verletzt sein.

    Variante 2: Der Automatismus

    Die Vertreter des Initiativkomitees wollen gerade keine mit dem Völkerrecht oder dem Prinzip der Verhältnismässigkeit konforme Umsetzung: Bei dem von ihnen eingebrachten Umsetzungsvorschlag (Variante 2) müsste ein Landesverweis zwingend auch bei weniger schweren Delikten und unabhängig von den Umständen im Einzelfall verhängt werden. Der Deliktskatalog sieht bei dieser Variante zudem vor allem im Bereich der Gewaltdelikte eine Erweiterung vor. Umfasst würden auch leichtere Verbrechen und Vergehen wie z.B. die einfache Körperverletzung oder Pornografie.

    Besonders stossend an Variante 2 ist aus menschenrechtlicher Sicht, dass ein Landesverweis unabhängig von der persönlichen Situation der betroffenen Personen oder der tatsächlich ausgesprochenen Strafe verhängt werden müsste. Auch wenn das Gericht etwa wegen mildernden Umständen von einer Strafe absieht, müsste der Delinquent dementsprechend ausgewiesen werden.

    Die «vermittelnde» Umsetzung

    In der Vernehmlassung sprach sich die grosse Mehrheit der Teilnehmenden für die erste Umsetzungsvariante aus, wenn auch verschiedentlich «nur widerstrebend und nur deshalb […], weil Variante 2 für sie keine Alternative darstellt», wie der Bundesrat in der am 26. Juni 2013 veröffentlichten Botschaft schreibt. Die nun vorgestellte Umsetzung orientiert sich aufgrund der Rückmeldungen aus der Vernehmlassung stark an der oben erläuterten Variante 1.

    Im Unterschied zur Variante 1 wurde unter anderem jedoch der Deliktskatalog um Straftaten im Bereich der öffentlich-rechtlichen Abgaben erweitert. Zudem sollen zwar die internationalen Menschenrechtsgarantien eingehalten werden, so die Botschaft explizit. Gleichzeitig will die Umsetzung jedoch, dass jüngeres Verfassungsrecht entgegenstehendem Völkerrecht vorgehen wird. Die Regierung hält dabei fest: «Im Ergebnis kann die vorgeschlagene Regelung somit zu Konflikten mit der EMRK, dem UNO-Pakt II, der KRK, dem FZA oder dem EFTA-Übereinkommen führen.»

    SVP verstärkt politischen Druck

    Die Reaktionen auf diese «vermittelnde Lösung zwischen einem Ausweisungsautomatismus und dem bisherigen Verfassungsrecht und dem Völkerrecht» haben die Befürchtungen bestätigt, dass die SVP bei den Umsetzungsschwierigkeiten der Ausschaffungsinitiative nicht zu konstruktiven Lösungen beiträgt, sondern diese Schwierigkeiten zum Anlass nimmt, um auf der politischen Bühne für die Aufkündigung wichtiger internationaler Verträge Stimmung zu machen.

    Weitere Dokumentation

    Zur Botschaft des Bundesrats

    Zu den Umsetzungsvorschlägen

    Zur Abstimmung vom 28. November 2010

    Quellen aus dem Abstimmungkampf

    Für eine eingehendere Auseinandersetzung

    Beitrag aus der Perspektive von betroffenen Angehörigen