20.02.2013
Das Bundesgericht hat im vielbeachteten BGE 139 I 16 den Ausweisungsentscheid des Thurgauer Verwaltungsgerichts gegenüber einem niedergelassenen mazedonischen Staatsangehörigen als unverhältnismässig aufgehoben. Der Beschwerdeführer war wegen einer qualifizierten Zuwiderhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 18 Monaten verurteilt worden.
Ausweisung unverhältnismässig
Das Bundesgericht kam aufgrund der Analyse seiner eigenen Rechtsprechung und der Praxis des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Art. 8 EMRK zum Schluss, dass im vorliegenden Fall der Widerruf der Niederlassungsbewilligung als unverhältnismässig zu gelten hat (Erw. 3). Zwar sei der Beschwerdeführer wegen einer qualifizierten Zuwiderhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz zu einer bedingten Freiheitsstrafe verurteilt worden; er habe als Drogenkurier fungiert und über sein Beziehungsnetz zum Handel beigetragen, ohne sich in einer Notlage befunden zu haben oder selber abhängig gewesen zu sein.
Zu seinen Gunsten berücksichtigte das Bundesgericht, dass er seit seinem 7. Altersjahr in der Schweiz lebt, hier die Schulen besucht und eine Anlehre als Maler absolviert hat. Das Strafurteil erging sodann erst dreieinhalb Jahre nach der Straftat und weder vorher noch nachher sei er anderweitig straffällig geworden. Er sei hier in der Schweiz sozialisiert und integriert. In Mazedonien hingegen verfüge er über keine Familiennagehörigen mehr, da seine Verwandten praktisch alle in der Schweiz lebten, und er spreche nur lückenhaft Albanisch.
Das Bundesgericht wies sodann auch darauf hin, dass ein späterer Widerruf nicht ausgeschlossen sei, wenn der Beschwerdeführer die ihm nun eingeräumte Chance nicht zu nutzen wisse.
Ausweisungsartikel in der Bundesverfassung nicht direkt anwendbar
Das Bundesgericht prüfte in einem weiteren Schritt die Anwendung von Art. 121 Abs. 3-6 Bundesverfassung. Danach verlieren Ausländerinnen und Ausländer unabhängig vom ausländerrechtlichen Status ihr Aufenthaltsrecht sowie alle Rechtsansprüche, wenn sie unter anderem wegen Drogenhandels (Art. 121 Abs. 3 lit. a BV) rechtskräftig verurteilt worden sind. Es kam zum Schluss, dass diese, im Rahmen der Ausschaffungsinitiative 2010 in die Verfassung gekommenen Bestimmungen nicht direkt anwendbar sind (Erw. 4). Sie sind zu unbestimmt und stehen im Widerspruch mit verfassungsrechtlichen Vorgaben - insbesondere mit den «die schweizerische Verfassungsordnung prägenden Grundsätzen rechtsstaatlichen Handelns (Art. 5: Bindung an das Recht, Verhältnismässigkeit, Treu und Glauben, Beachtung des Völkerrechts)» - wie auch mit einer langen Liste von völkerrechtlichen Bestimmungen aus der EMRK, dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, dem Freizügigkeitssabkommen sowie der Kinderrechtskonvention. Hier muss der Gesetzgeber den erforderlichen Ausgleich zwischen den auf dem Spiele stehenden verfassungrechtlichen Werten auf Gesetzesstufe regeln, denn das Bundesgericht ist «im Falle einer auslegungsweise nicht überwindbaren Normenkollision an die Bundesgesetze und das Völkerrecht gebunden (Art. 190 BV)».
Klares Signal zugunsten der Geltung der Grund- und Menschenrechte auch für ausländische Personen
Das Bundesgericht kommt in seinen weiteren Überlegungen zum Schluss, dass es auch bei einer direkten Anwendbarkeit von Art. 121 Abs. 3-6 BV zu keinem anderen Ergebnis gekommen wäre, denn die Schweiz könne sich nicht auf ihr innerstaatliches Recht berufen, um die Nichterfüllung eines völkerrechtlichen Vertrags zu rechtfertigen. Dem steht sowohl Art. 5 Abs. 4 BV als auch Art. 27 der Wiener Konvention über das Recht der Verträge entgegen. Für das Bundesgericht ergibt sich aus der Natur der EMRK und dem von der Schweiz anerkannten Individualbeschwerdeverfahren, dass sie sich verpflichtet hat, im Einzelfall Menschenrechtsverletzungen zu verhindern. Dabei trage es der vom Verfassungsgeber zum Ausdruck gebrachten Wertung Rechnung, soweit diese nicht im Widerspruch zu übergeordnetem Recht stehe. Für den konkreten Fall heisst das, dass das Bundesgericht sowohl die Strafhöhe als auch die weiteren Umstände berücksichtigte. (Erw. 5).
SVP droht mit der Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention
Das Urteil wurde als sorgfältig und unaufgeregt begrüsst. Es begründet keine neue Praxis, sondern führt die vor Jahren begonnene Rechtsprechung zum Verhältnis Völkerrecht - Bundesrecht weiter. Die Kommentatoren/innen weisen darauf hin, dass dieses Verhältnis auch mit diesem Urteil nicht endgütig geklärt wurde. Es kann nicht sein, dass für die Gerichte allein der Wille der Initianten/-innen einer erfolgreichen Intiative für die Rechtsanwendung massgebend ist. Wie auch das Bundesgericht betont, wird bei Initiativen über eine isolierte Frage diskutiert und abgestimmt und nicht über deren Einbettung in das «verfassungsrechtliche Gesamtgefüge». Exponenten/-innen der SVP hingegen kritisierten das Urteil. Sie sehen den Volkswillen missachtet und drohen - einmal mehr - mit der Kündigung der EMRK. Nach wie vor steht damit die Grundfrage zur Diskussion, wie verhandelbar grund- und menschenrechtliche Garantien sein sollen.
Dokumentation
- BGE 139 I 16 vom 12. Oktober 2012
auf bger.ch
Erläuterungen zum Urteil
- Bundesgericht und Menschenrechtskonvention: «Wir widersprechen Strassburg durchaus»
Interview mit Budesrichter Andreas Zünd, NZZ vom 2.11.2013 - Das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht aus der Sicht des Bundesgerichts
Prof. Dr. Astrid Epiney in in: Jusletter 18. März 2013 (pdf, 12 S.)
Medienecho
- «Darf das Volk alles?», Interview mit Markus Schefer (Universität Basel)
Tageswoche vom 14. Februar 2013 - «Menschenrechte kommen zuerst» vom Kaspar Surber
Artikel in der WOZ vom 14. Februar 2013 - «Das Bundesgericht nimmt das Ruder in die Hand», Gastkommentar von Eva Maria Belser (Universität Fribourg)
NZZ vom 12. Februar 2013 - «Völkerrecht hat Vorrang vor der Ausschaffungsinitiative» von Markus Häfliger
NZZ vom 8. Februar 2013 - «SVP-Präsident will Menschenrechtskonvention kündigen»
Artikel in der Aaargauer Zeitung / Die Nordwestschweiz vom 15. Februar 2013