21.03.2024
Bis Mitte Februar 2024 mussten Opfer von rassistischen Polizeikontrollen, die sich vor Gericht wehren wollten, einen oft jahrelangen, ressourcenintensiven und in der Regel aussichtslosen Prozess auf sich nehmen. Im Fall Wilson A. kam es nach 15 Jahren zu einem vorläufigen Freispruch der Polizisten, ebenso im Fall Mike Ben Peter, der bei der Polizeikontrolle gestorben war. Im Fall Roger Nzoy – ebenfalls Opfer einer Polizeikontrolle mit Todesfolge – will die Staatsanwaltschaft das Verfahren einstellen. Nach der Verurteilung der Schweiz im Fall Mohamed Wa Baile müssen nun die Verantwortungsträger*innen auf allen Ebenen aktiv werden und konsequent gegen rassismusfördernde Strukturen vorgehen.
«Auf dem Weg in den Ausgang wird ein Schwarzer Mann kontrolliert. Zum Anlass der Kontrolle beschreiben die Polizisten eine Person, die sie suchen. Die Beschreibung trifft nicht auf die angehaltene Person zu. Er entgegnet den Polizisten, dass er die Person nicht sei, die sie suchen und weigert sich zunächst, seinen Ausweis zu zeigen. Als er dann nach seiner Brieftasche greift, um seinen Ausweis doch noch hervorzuholen, überwältigen ihn die Polizisten, werfen ihn gewaltsam zu Boden und legen ihm Handschellen an. Sie bringen ihn auf den Polizeiposten mit der Begründung, er habe sich der Hinderung einer Amtshandlung schuldig gemacht.»
Die Beratungsstellen des von humanrighst.ch geleiteten Beratungsnetzes für Rassismusopfer befassen sich seit Jahren mit Racial Profiling, d.h. willkürlichen und teilweise gewalttätigen Polizeikontrollen, wir im eingangs erwähnten Beispiel. Betroffene berichten, dass die Art und Weise der Kontrolle oft sehr aggressiv sei. Sie werden von der Polizei nicht angehört und die Beamt*innen geben keine Antwort auf ihre Fragen. Dies führt oft zu Spannungen. Betroffene berichten ausserdem von verbalen Entgleisungen und diskriminierenden Äusserungen seitens der Polizist*innen, die sich auf die vermeintliche Herkunft der Person beziehen. Es kommt zu eskalierenden Situationen mit unrechtmässiger Gewaltanwendung, was in einigen Fällen sogar zum Tode geführt hat.
Zwei Beispiele dafür sind Roger Nzoy und Mike Ben Peter, beide sind bei Polizeieinsätzen ums Leben gekommen.
«Im Fall von Mike Ben Peter kontrollierte die Polizei einen Schwarzen Mann, der ein Säckchen in der Hand hielt. Der Mann wollte sich nicht kontrollieren lassen und versuchte sich langsam von den Polizist*innen zu entfernen, ohne dabei aggressiv oder gar gewalttätig zu werden. Daraufhin gingen die Polizist*innen auf ihn zu und rammte ihm das Knie mindestens zweimal in die Genitalien. Ihm wurde mit Pfefferspray ins Gesicht gesprüht und versucht, ihm mit viel Gewalt und Kraft Handschellen anzulegen. Die Polizist*innen brachten den Mann in Bauchlage, und knieten minutenlang auf ihm, um ihn zu fesseln. Dann erlitt der Mann einen Herzstillstand.»
Um auf das Problem aufmerksam zu machen und das strukturelle Problem hinter Racial Profiling* aufzuzeigen, haben sich in den letzten Jahren immer mehr Betroffene oder ihre Angehörigen dazu entschlossen, eine Klage einzureichen. Dabei unterstützt werden sie von Organisationen oder Kollektiven wie der «Unabhängigen Kommission zur Aufklärung der Wahrheit über den Tod von Roger Nzoy Wilhelm» oder der Assoziation «Soutien pour la Famille de Mike».
Seit mehreren Jahren humanrights.ch unterstützt zusammen mit der «Allianz gegen Racial Profiling» die Klagen von Mohamed Wa Baile und Wilson A.
«Wilson A. ist am 19. Oktober 2009 an einem Sonntag kurz nach Mitternacht mit einem Freund in einem Zürcher Tram unterwegs. Zwei Polizisten steigen dazu, stellen die beiden Männer, verlangen nach einem Ausweis. Wilson A. seufzt, immer dasselbe, warum denn die Polizei nur sie kontrolliere, etwa weil sie schwarz seien? Die Beamten fackeln nicht lange, sondern fordern die beiden Männer auf, aus dem Tram zu steigen. Sie sollen ihn nicht anfassen, sagt Wilson A., er habe eine Herzoperation hinter sich. Als zwei Polizisten es trotzdem tun, kommt es zum Gerangel, sie schlagen auf Wilson A. ein, der einen Defibrillator trägt, sprühen ihm Pfefferspray in die Augen und ringen ihn zu Boden. «Scheiss Afrikaner, geh zurück nach Afrika», solle einer der Polizisten gemäss Anklageschrift gesagt haben. Die Ärzte hielten später fest, dass jede physische Gewalt bei einem herzkranken Patienten wie Wilson A. lebensgefährlich sein könne.»
Am 15. Februar 2024 kommt es im Fall Wilson A. nach einer 15 Jahre dauernden Odyssee zu einem Freispruch der angeklagten Polizisten durch das Obergericht (das Urteil ist noch nichts rechtskräftig, es kann noch weitergezogen werden). Die von humanrights.ch aufgearbeitete Chronik zum Verfahren zeigt in aller Deutlichkeit auf, wie langwierig, ressourcenintensiv und oft aussichtslos der Zugang zur Justiz für Betroffene und ihre Angehörigen in Fällen von Racial Profiling ist.
Nur fünf Tage später, am 20. Februar 2024, kommt es hingegen zu einem ersten Erfolg: Der Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte EGMR verurteilt die Schweiz im Fall Mohamed Wa Baile in einem international bedeutsamen Leitentscheid wegen Verstosses gegen das Diskriminierungsverbot – 9 Jahre nach dem Vorfall.
Das Urteil Wa Baile v. Suisse muss nun auf allen Ebenen des Bundes umgesetzt werden. Aus Sicht von humanrights.ch bedeutet dies die Notwendigkeit für
- den Erlass genügend bestimmter gesetzlicher Leitplanken zur Vermeidung rassistisch diskriminierender Polizeikontrollen
- das Ergreifen von institutionell-organisatorischen Massnahmen zur wirksamen Prävention von Racial Profiling
- die Gewährleistung von Rechtsverfahren, die einen effektiven Zugang zum Rechtsschutz für mutmasslich von rassistischen Polizeikontrollen betroffenen Personen sicherstellen
Damit humanrights.ch weiterhin wichtige Lücken im Menschenrechtsschutz aufzeigen und Fälle von strategischer Bedeutung aufarbeiten sowie begleiten kann, sind wir auf Sie angewiesen. Unterstützen Sie unsere Arbeit mit einer Spende, herzlichen Dank!
*Strukturell bedeutet, dass rassistische Polizeikontrollen eine Folge von rassistischen Diskursen und Normen sind, die historisch gewachsenen sind und eine Gesellschaft sowie ihre Institutionen durchziehen. Demnach lässt sich Diskriminierung durch polizeiliches Handeln nicht auf ein individuelles Einstellungs- oder Verhaltensproblem oder gar auf eine Ideologie oder Absicht von Personen reduzieren. Vielmehr beruht sie auf kollektiven rassistischen Vorstellungen, die sich in den Regeln und Routinen der Polizeiarbeit zeigen und sich durch diese laufend manifestieren. Ein Grund dafür ist, dass rassistische Diskriminierung zu einer von den politischen und operativen Entscheidungsträgern gestützten Methode geworden ist und ihr nicht mittels angemessener und wirksamer Massnahmen entgegengetreten wird.