20.02.2024
In einem beispielhaften strategischen Prozess hat Mohamed Wa Baile gegen seine rassistische Polizeikontrolle geklagt und den Fall durch alle Instanzen bis an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gezogen. Dieser hat Wa Baile heute Recht gegeben: Die Schweiz hat gegen das Diskriminierungsverbot verstossen.
Der Vorfall liegt nun schon neun Jahre zurück: am 5. Februar 2015 morgens wurde Mohamed Wa Baile als Einziger von zwei Polizisten aus der Menschenmasse am Hauptbahnhof Zürich herausgepickt. Da die Beamten angaben, dass keine schwarze Person gesucht sei, weigerte sich Wa Baile, sich auszuweisen. Nachdem die Polizisten in seinem Rucksack seinen AHV-Ausweis gefunden hatten, liessen sie ihn gehen.
Kurze Zeit später erhielt Wa Baile einen Strafbefehl wegen Nichtbefolgens polizeilicher Anordnungen in der Höhe von 100 Franken. Er entschied sich, diesen anzufechten. Denn er hatte in der Vergangenheit aufgrund seiner Hautfarbe schon zahlreiche entwürdigende Polizeikontrollen in der Öffentlichkeit über sich ergehen lassen. Mit den Gerichtsverfahren wollte er gemeinsam mit Unterstützer*innen den institutionellen Rassismus in der Schweiz aufzeigen und die Bevölkerung dafür sensibilisieren.
Zusammen mit der damals neu gegründeten Allianz gegen Racial Profiling klagte Wa Baile gegen seinen Strafbefehl und zog das Verfahren sowie ein verwaltungsrechtliches Verfahren bis vor das Bundesgericht weiter. Da dieses jedoch keinen Verstoss gegen das Diskriminierungsverbot feststellte, reichte Wa Baile Klage am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein.
Dieser hatte den Fall bereits 2022 als Impact-Fall und damit als besonders bedeutsam deklariert. In seinem heutigen Urteil hat der Gerichtshof einstimmig entschieden, dass drei Verstösse gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) vorliegen. Die Schweiz habe zweifach gegen das Diskriminierungsverbot gemäss Art. 14 EMRK in Verbindung mit Art. 8 (Recht auf Achtung des Privatlebens) verstossen. Erstens stellte das Gericht in Anbetracht der besonderen Umstände der Identitätskontrolle eine Diskriminierung Wa Bailes aufgrund seiner Hautfarbe fest. Zweitens hätten die Schweizer Gerichte nicht wirksam geprüft, ob bei der Kontrolle diskriminierende Gründe eine Rolle gespielt hatten. Weiter stellt der EGMR eine Verletzung von Art. 13 EMRK (Recht auf wirksame Beschwerde) fest: Wa Baile sei in Bezug auf seine Beschwerde vor den inländischen Gerichten kein wirksamer Rechtsbehelf zur Verfügung gestanden.
«Dieses Urteil ist ein Meilenstein für die Schweiz, aber auch für Betroffene von diskriminierenden Polizeikontrollen in ganz Europa», schreibt die Allianz gegen Racial Profiling in ihrer Medienmitteilung. Der erreichte Leitentscheid habe Auswirkungen auf Politik, Justiz und Polizei in der Schweiz und allen Staaten, die Mitglied der Europäischen Menschenrechtskonvention seien. Der Gerichtshof nimmt die Schweiz in die Pflicht, umfassende wirksame Massnahmen zu treffen, um rassistische Polizeikontrollen künftig effektiv zu verhindern.
humanrights.ch begleitet diesen strategischen Fall seit Beginn und hat ihn unter anderem in diesem Artikel dokumentiert.