30.06.2021
Es ist eine Errungenschaft des demokratischen Rechtsstaates, dass uns Gesetze rechtliche Ansprüche einräumen und Gerichte existieren, die deren Durchsetzung sicherstellen. Die Kehrseite der Medaille ist, dass längst nicht alle Menschen in den Genuss ihrer Rechte kommen oder diese effektiv einfordern können. Das Thema «Zugang zum Recht» ist auch in der Schweiz hochaktuell und hat in den letzten Jahren in der Forschung und Zivilgesellschaft an Bedeutung gewonnen.
Es herrscht die weit verbreitete Vorstellung, rechtlich garantierte Ansprüche würden sich automatisch und unmittelbar in der Realität manifestieren: Jede Person besitzt das Recht auf ein faires Verfahren, weshalb auch alle ein faires Verfahren erhalten. Zudem gehen wir davon aus, unsere Rechte – sollten sie verletzt werden – in jedem Fall vor einem Gericht einfordern oder den rechtmässigen Zustand etwa bei einer Schlichtungs- oder Ombudsstelle wiederherstellen zu können. Leider entsprechen diese Bilder nicht der Wirklichkeit.
Erstens ist Recht – auch in Bezug auf zentrale rechtsstaatliche Grundsätze – keinesfalls immer Teil der Realität: So müsste die Untersuchungshaft gemäss dem Verhältnismässigkeitsprinzip und der Unschuldsvermutung den Lebensumständen in Freiheit so nah wie möglich kommen. Trotzdem verbringen die Untersuchungsgefangenen in der Schweiz monatelang 23 Stunden am Tag in ihrer Zelle. Zweitens werden viele Menschen durch rechtliche, soziale, wirtschaftliche, strukturelle, bauliche oder psychologische Hindernisse faktisch von der Einforderung ihrer Rechte abgehalten. Wenn sich die Gefangenen etwa gegen die unmenschlichen Zustände ihrer Haft wehren möchten, müssen sie – in den meisten Fällen – selbst die Mittel für eine Rechtsvertretung aufbringen. Dafür fehlt oft das Geld.
Die Annahme, der fehlende Zugang zum Recht sei ein typisches Problem von Entwicklungsländern, hat sich hartnäckig gehalten. Bis heute ist der Irrtum weit verbreitet, dass sich diese Problematik nur in korrupten Milieus und in mangelhaften Justizsystemen ergeben kann. In Systemen, die von fehlender Rechtsstaatlichkeit und Demokratiedefiziten geprägt sind, und innerhalb derer Armut, ein tiefes Bildungsniveau und die Diskriminierung vulnerabler Gruppen vorherrschen. In der Schweiz, wo der Rechtsschutz vergleichsweise gut ausgebaut ist, gewinnt das Bewusstsein für die Problematik in der Forschung und zivilgesellschaftlichen Arbeit erst seit wenigen Jahren an Bedeutung.
Ein Konzept mit unterschiedlichen Dimensionen
«Zugang zum Recht» leitete sich vom englischen Begriff «access to justice» ab und meint im engeren Sinne den formellen Zugang zu einem Gericht. Im berühmten Urteil Marbury vs. Madison führte der oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten im Jahr 1803 aus: «Der Kern der Freiheitsrechte liegt im Recht jedes Einzelnen, den Schutz dieser Rechte zu verlangen.» Dieser Zugang zur Justiz – oder Zugang zum Recht im engeren Sinne – beschränkt sich nicht auf die theoretische Möglichkeit, sich bei einem Gericht zu beschweren, sondern meint die effektive und diskriminierungsfreie Möglichkeit, die eigenen Rechte durchzusetzen.
Einige Autor*innen verstehen im Zugang zur Justiz einzig den Zugang zu Gerichten, während aussergerichtliche Konfliktlösungsmechanismen – etwa Schlichtungs- und Ombudsstellen sowie der Zugang zu niederschwelligen Beratungsstellen, NGOs oder Menschenrechtsorganisationen – bereits unter Zugang zum Recht im weiteren Sinne zusammengefasst werden.
Die Diskussionen um den Inhalt und die Abgrenzung des Zugangs zur Justiz und des Zugangs zum Recht sind in der Schweiz jedoch noch nicht abgeschlossen. Der Zugang zur Justiz kann auch dahingehend ausgelegt werden, dass er aussergerichtlichen Konfliktlösungsmechanismen miteinschliesst, während der Zugang zum Recht im weiteren Sinne breiter gedacht wird: Mit diesem Verständnis stellt sich zusätzlich die Frage, ob und inwieweit formales Recht in der Realität überhaupt gewährleistet ist. Also ob die Menschen auch tatsächlich in den Genuss ihrer Rechtsansprüche kommen, bevor oder nachdem sie eingeklagt und durchgesetzt werden.
In dem Sinne ist auch die Wirksamkeit von Abhilfemassnahmen ein zentrales Element vom Zugang zum Recht. Die Feststellung von (Menschen-)Rechtsverletzungen oder die Empfehlung von Abhilfemassnahmen, etwa durch ein Gericht, reichen nicht aus. Der wirksame Zugang zum Recht verlangt die tatsächliche Vollstreckung von Entscheiden: die Beseitigung oder den Ausgleich, je nachdem sogar die Verhinderung künftiger Rechtsverletzungen.
Der vorliegende Text versteht den Zugang zum Recht einerseits als die Gegebenheit, dass der Staat individuelle Rechte umfassend gewährleistet und Lücken im Rechtsschutz schliesst (Gewährleistungsdimension). Andererseits als die Möglichkeit einzelner Personen, ihre Rechte gerichtlich oder anhand aussergerichtlicher Streitbeilegungsmechanismen geltend zu machen und durchzusetzen (Durchsetzungsdimension).
Kein Recht(sstaat) ohne Rechtsschutz
Das Konzept Zugang zum Recht findet sich auch im Menschenrecht auf wirksamen Rechtsschutz wieder. Der «wirksame Rechtsschutz» wird in den nationalen und internationalen Rechtsquellen als Zugang zu einer richterlichen Behörde verstanden: Gerichtsgebäude auf der ganzen Welt tragen die Botschaft, dass jeder Mensch das Recht auf gerichtlichen Schutz seiner Rechte hat. In der internationalen Praxis wurde der Rechtsschutz auf andere unabhängige staatliche Instanzen erweitert, etwa parlamentarische Kontroll- und Untersuchungsausschüsse oder Datenschutzbeauftragte.
Auf Ebene des Völkerrechts wurde das Recht auf wirksamen Rechtsschutz bereits im Jahr 1948 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgehalten (Art. 8 und Art. 10 AEMR). Seither hat es unter anderem Eingang in die Europäische Menschenrechtskonvention (Art. 6 und 13 EMRK) und den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Art. 2 Abs. 3 und Art. 14 UNO-Pakt II) gefunden. Darüber hinaus wird der wirksame Rechtsschutz auch in spezifischen internationalen Konventionen für besonders verletzliche Personengruppen verankert, etwa der UNO-Behindertenrechtskonvention (Art. 13 UNO-BRK).
In der Schweiz ist das Grundrecht auf wirksamen Rechtsschutz in den allgemeinen Verfahrensgarantien (Art. 29 BV), der Rechtsweggarantie (Art. 29a BV) und den verfahrensspezifischen Garantien (Art. 30-32 BV) verankert. Der Staat ist gemäss allgemeiner Grundrechtslehre verpflichtet, diese verfassungsmässigen Rechte zu achten, zu schützen und zu gewährleisten. Darüber hinaus garantiert Artikel 35 der Bundesverfassung die «Verwirklichung der Grundrechte» – und damit des Rechts auf wirksamen Rechtsschutz – in der gesamten Rechtsordnung.
Das Recht auf wirksamen Rechtsschutz erfüllt zwei wichtige Funktionen: Wenn Menschen bei möglichen Rechtsverletzungen auf das Bestehen von Rechtsschutz vertrauen können, trägt dies entscheidend zu ihrer Eingliederung in die Gesellschaft und ihrer Anerkennung als deren gleichberechtigten Mitglieder bei (Integrationsfunktion). Der wirksame Rechtsschutz ermöglicht zudem die Konkretisierung von Inhalt und Substanz der Grund- und Menschenrechte: Werden keine Rechtsverletzungen eingeklagt, kann der Gehalt von Normen auch nicht durch die Gerichte verdeutlicht werden.
So hilft es etwa Sans-Papiers wenig, einen Anspruch auf angemessenen Lohn und faire Arbeitsbedingungen zu haben, wenn sie vor Gericht durch Offenlegung ihres Aufenthaltsstatus Gefahr laufen, ausgewiesen zu werden. Sind Sans-Papiers aber vom Rechtsschutz ausgeschlossen, erfolgt auch keine richterliche Überprüfung der Arbeitsrechte für Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus. Schliesslich werden dadurch diejenigen Personen, welche für die Verletzung der Arbeitsrechte verantwortlich sind, auch nicht zur Rechenschaft gezogen. Der fehlende Zugang zu effektivem Rechtsschutz stellt den Rechtsstaat in Frage.
Zugang zum Recht: mehr Utopie als Wirklichkeit
Anspruch und Wirklichkeit klaffen im Recht weit auseinander. Auch in der Schweiz ist der Zugang zum Recht – im engeren und weiteren Sinne – längst nicht für alle Menschen eine Tatsache. Bereits in Hinblick auf die Gewährleistungsdimension ergeben sich gravierende Defizite. Viele Menschen kommen nicht in den Genuss ihrer individuellen Rechte: Als fremd wahrgenommene Personen müssen täglich damit rechnen, in rassistische Polizeikontrollen zu geraten («Racial Profiling»), während sich die Behörden entgegen nationalen und internationalen Empfehlungen weigern, effektive Massnahmen dagegen zu ergreifen. Den Betroffenen wird damit ihr Zugang zum Recht auf Bewegungsfreiheit und persönliche Freiheit systematisch versperrt. Ähnlich ergeht es Menschen im Freiheitsentzug, etwa in Untersuchungshaft, welche in den meisten Kantonen immer noch als Einzelhaft vollzogen wird: Psychisch schwer kranke Personen werden teilweise monate- oder jahrelang isoliert, obwohl damit massive gesundheitliche Schäden einhergehen, die längst bekannt sind. Schliesslich fehlen teils schlicht die materiellen Normen, um die Menschenrechtsverletzungen angemessen zu rügen. Ohne Recht, auf das man sich berufen kann, gibt es auch keinen Zugang zum Recht.
Bei der gerichtlichen und aussergerichtlichen Durchsetzung der eigenen Rechtsansprüche kommen strukturelle und institutionelle Hürden ins Spiel: Vor Gericht können fehlende Zuständigkeiten, hohe Anwalts- und Prozesskosten, das Prozesskostenrisiko sowie lange und kräftezehrende Verfahren den Zugang verunmöglichen. Weitere handfeste Hürden bilden Beweisschwierigkeiten, die geographische Entfernung zum Verwaltungsgebäude, dem Gericht oder der Beratungsstelle – etwa für Bewohner*innen abgelegener Asylunterkünfte –, das Fehlen eines legalen Aufenthaltsstatus, bauliche Hindernisse für Menschen mit körperlichen Behinderungen, das Fehlen von Gebärdensprachdolmetschen oder dem angemessenen Umgang mit geistig behinderten Personen sowie Kindern. Jedoch sind auch subjektive Gründe ausschlaggebend: Fehlendes Wissen über den eigenen Rechtsanspruch oder die Durchsetzung der eigenen Rechte, mangelnde Kenntnis der Amtssprache und Analphabetismus, Unkenntnis über Beratungsstellen und zivilgesellschaftliche Angebote, Angst vor Stigmatisierung oder beruflichen Nachteilen, Schamgefühle, historische Erfahrungen von Ausgrenzung und das Misstrauen gegenüber (staatlichen) Institutionen.
Unter dem fehlenden Zugang zum Recht leidet nicht nur der individuelle Rechtsschutz, sondern die Gesellschaft als Ganzes. Wenn rechtliche Problemstellungen nie vor ein Gericht gelangen, entwickelt sich keine Gerichtspraxis. Die fehlende richterliche Auslegung und Konkretisierung von Grundrechten und anderen Rechtsnormen, die meist sehr offen formuliert sind, führt letztendlich zu grosser Rechtsunsicherheit und erschwert etwa die Einschätzung von Prozessrisiken enorm. Hinzu kommt, dass die für Rechtsverletzungen verantwortlichen Personen nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Damit verliert das Recht an Autorität und Geltung.
Es trifft die Schwächsten
Betroffen von einem fehlenden Zugang zum Recht sind insbesondere vulnerable Gruppen, welche bereits unter struktureller Diskriminierung und Ausgrenzung leiden, sowie Menschen, die sich in staatlicher Obhut oder in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Staat befinden: Frauen, Angehörige ethnischer Minderheiten, Menschen mit Behinderungen, Fahrende, trans Menschen, Asylsuchende, IV- und Sozialhilfebezüger*innen und Menschen im Freiheitsentzug können die Hürden zum Zugang zum Recht nur schlecht überwinden, obwohl sie in besonderem Masse auf einen wirksamen Rechtsschutz angewiesen sind.
Das Thema Zugang zum Recht ist demnach eng mit Fragen von Armutsbekämpfung und Diskriminierungsschutz verknüpft. Die Betroffenen laufen nicht nur erhöhte Gefahr, Opfer von Ausbeutung und Rechtsverletzungen zu werden. Ebenso sind ihre Möglichkeiten beschränkt, gleichberechtigten Zugang zu Rechtsschutzeinrichtungen zu finden, ihre rechtlichen Anliegen zu formulieren und sich gegen Übergriffe auf ihre Rechte erfolgreich zu wehren.
Der Staat in der Pflicht
Um die Gewährleistung und Durchsetzung von (Menschen-)Rechten zu garantieren, müssen rechtliche und soziale Wirklichkeiten berücksichtig und die Gegenmassnahmen breit angelegt werden. Dabei ist der Staat in der Pflicht. Die Lösungsansätze reichen von staatlich finanzierten Informations-, Rechtsberatungs- und Ombudsstellen über die unentgeltliche Rechtspflege bis hinzu der unabhängigen Untersuchung staatlichen Fehlverhaltens.
Information und Beratung
Das Bewusstsein, dass es Rechte gibt und diese eingefordert werden können, ist Voraussetzung für den Zugang zum Recht. Dazu müssen entsprechende Informationsangebote geschaffen werden. Zentral ist dabei die Niederschwelligkeit des Zugangs zur Information: Sie muss kosten- und barrierefrei und in möglichst vielen Sprachen zur Verfügung stehen. Der Staat besitzt die menschenrechtliche Verpflichtung, zu gewährleisten, dass Individuen ihre Menschenrechte tatsächlich realisieren können. Zur Erfüllung dieser Pflicht hat er die Informationen über individuelle Rechte zur Verfügung zu stellen. In dieser Hinsicht kann die Nationale Menschenrechtsinstitution eine tragende Rolle übernehmen.
Doch auch wenn Wissen über die eigenen Rechte vorhanden ist, stellt sich die Frage, wo Unterstützung gefunden werden kann. In der Schweiz existieren kantonale Anlaufstellen für Rechtsauskunft, welche von den kantonalen Anwaltsverbänden und anderen Kollektiven organisiert werden. Die unentgeltlichen und kostengünstigen Angebote beschränken sich hierbei aber meist auf die Erstberatung. Auf zivilgesellschaftlicher Ebene bestehen einige spezialisierte Beratungsangebote – etwa im Bereich des Asyl-, Sozialhilfe- oder Behindertengleichstellungsrechts –, jedoch sind die Ressourcen meist sehr beschränkt. Auch hier steht der Staat in der Verantwortung, der etwa durch die (Mit-)Finanzierung zivilgesellschaftlicher Beratungsangebote seinen Beitrag leisten kann.
Ombuds- und Beschwerdestellen
Neben den niederschwelligen Informations- und Rechtsberatungsstellen können aussergerichtliche Verhandlungen und Mediation den Zugang zum Recht massgebend erleichtern. Ombuds- und Beschwerdestellen können durch Beratung, Mediation, Entgegennahme von Beschwerden sowie Rückberatung der Behörden Konflikte lösen und die Praxis von staatlichen Institutionen nachhaltig beeinflussen. Nicht zuletzt führen aussergerichtliche Lösungsansätze zu einer Entlastung der Gerichte.
Bis heute sind die Mandate der Ombuds- und Beschwerdestellen in der Schweiz jedoch sehr unterschiedlich ausgestaltet und keineswegs in allen Kantonen und in jedem Bereich vorhanden. Notwendig wäre dementsprechend, dass in allen Branchen und flächendeckend aussergerichtliche Streitbeilegungsmechanismen geschaffen werden und der Staat diese zumindest nachhaltig mitfinanziert.
Unentgeltliche Rechtspflege
In Gerichts- und Verwaltungsverfahren stellen insbesondere die Nichtgewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und der unentgeltlichen Rechtsvertretung – beziehungsweise die hohen Gerichts- und Anwaltskosten – eine Hürde im Zugang zum Recht dar. Die unentgeltliche Prozessführung ist ein Grundpfeiler des demokratischen Rechtsstaates (Art. 29 Abs. 3 BV). Von den Prozessparteien wird jedoch grundsätzlich erwartet, dass sie bei Bedarf den Grossteil ihrer gesamten Ersparnisse aufbrauchen. Das hat eine klar prohibitive Wirkung und verhindert den Zugang zur Justiz insbesondere auch für den Mittelstand. Ebenso wird die unentgeltliche Rechtsvertretung durch Anwält*innen nur gewährt, wenn die Interessen der Person in schwerwiegender Weise betroffen sind und der Fall in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten bereitet. Für die Rechtsvertreter*innen sind solche Mandate zudem oft ein Verlustgeschäft, weshalb in bestimmten Rechtsgebieten immer weniger Anwält*innen für die unentgeltliche Rechtsvertretung zur Verfügung stehen.
Um den Zugang zur Justiz zu stärken, braucht es neben einer kulanten Gewährung von unentgeltlicher Rechtspflege eine höhere Entschädigung für die Anwält*innen. Bei erkanntem Unrecht ist zudem auf Kostenvorschüsse zu verzichten, Verfahrenskosten und Parteientschädigungen müssten gesenkt oder übernommen und die persönlichen finanziellen Verhältnisse stärker berücksichtigt werden. In jenen Bereichen – namentlich die Sozialhilfe, der Strafvollzug und das Asyl- und Ausländerrecht –, in welchen der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege oder Rechtsvertretung besonders restriktiv gehandhabt wird, ist eine Praxisänderung notwendig. Gerade in diesen Rechtsgebieten wird in besonders wichtige Grundrechte eingegriffen und die Betroffenen können sich häufig nicht selbst wehren.
Nicht zuletzt könnte auch freie Rechtsinformation in Behörden- und Gerichtsverfahren den Zugang zum Recht vereinfachen. Wo es das Gesetz zulässt, sollten sich Betroffene von einem – nicht anwaltschaftlichen – Rechtsbeistand beraten und begleiten lassen können, welcher sie über das Recht und das Verfahren informiert. Gerade im Strafbefehlsverfahren, wo Beschuldigte im Ermittlungsverfahren oft ohne Rechtsvertretung gegenüber der Polizei auftretet, könnte eine solche Begleitperson von grosser Bedeutung sein.
Unabhängige Untersuchung von staatlichem Fehlverhalten
Bei der nachhaltigen Stärkung des Zugangs zum Recht kommt letztendlich der unabhängigen Untersuchung staatlichen Fehlverhaltens grosse Wichtigkeit zu. So fordern etwa diverse internationale Gremien und die Zivilgesellschaft seit Jahren, dass die Schweiz unabhängige Untersuchungsinstanzen zu polizeilichem Fehlverhalten – wie beispielsweise übermässiger Gewaltanwendung oder rassistischem Profiling – errichtet. Bis heute verhindern die unklaren Zuständigkeiten innerhalb der Polizei, die Unwirksamkeit der internen Anzeigepflicht und die fehlende Unabhängigkeit zwischen Staatsanwaltschaft und den Polizeikorps die effektive Strafverfolgung der Polizeibeamt*innen.
Es braucht Beschwerdemöglichkeiten, klare Zuständigkeitsregelungen, Transparenz und Beschwerdestatistiken sowie die Einführung von Whistleblower-Stellen. Diese Forderungen lassen sich ebenso auf andere Bereiche übertragen, wo Menschen der Staatsmacht in besonderem Masse ausgeliefert sind, etwa im Freiheitsentzug oder dem Asylbereich.
Handlungsmöglichkeiten der Zivilgesellschaft
Um den Zugang zum Recht zu verbessern, kann die Zivilgesellschaft neben politischem Engagement und Rechtsberatung insbesondere anhand der strategischen Prozessführung aktiv werden. Die Strategic Human Rights Litigation hat zum Ziel, anhand von Einzelfallklagen strukturelle Menschenrechtsverletzungen zu thematisieren, gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken und das Recht weiterzuentwickeln. Bei Rechtsstreitigkeiten wird damit ein Ziel verfolgt, dass über die Interessen der unmittelbar involvierten Parteien hinausgeht. Indem die Verfahren durch Öffentlichkeitsarbeit begleitet werden, können sie vorbildhafte Wirkung entfalten.
Auch in der Schweiz gibt es Beispiele für strategische Prozesse. So hat der Dachverband der Behindertenorganisationen Inclusion Handicap im Januar 2018 Beschwerde gegen die befristete Betriebsbewilligung des neuen Doppelstockzuges (FV-Dosto) der SBB eingereicht, weil dieser von Menschen mit Behinderungen nicht selbständig genutzt werden könnte. Im November 2018 einigten sich der Dachverband und die SBB aussergerichtlich zu vier von 15 Punkten. Kurz danach wies das Bundesverwaltungsgericht zehn der elf verbleibenden Rechtsbegehren ab. Inclusion Handicap hat die Beschwerde an das Bundesgericht weitergezogen.
Die relativ kleine Nichtregierungsorganisation sah sich in diesem Rechtsstreit über Jahre hinweg einem öffentlichen Unternehmen mit ungleich grösseren personellen und finanziellen Ressourcen gegenüber. Ohne die Unterstützung des Verbandes, den Einbezug von externen Menschenrechtsexpert*innen und eine starke institutionelle Vernetzung wären die Verhandlungen und Beweisführungsverfahren, die umfangreichen Beschwerdeschriften sowie die aufwändige Medien- und Kommunikationsarbeit nicht zu bewältigen gewesen. Eine Einzelperson hätte diese Auseinandersetzung – insbesondere finanziell – kaum tragen können.
Das Instrument der strategischen Prozessführung hat sich in den USA und anderen Ländern bereits institutionalisiert und bewährt, während strategische Prozesse in der Schweiz bislang vor allem als Einzelinitiativen in Erscheinung traten. Es fehlt sowohl an Sensibilisierung wie auch den Strukturen zur Unterstützung der Strategic Human Rights Litigation. In diesem Zusammenhang baut humanrights.ch seit anfangs 2020 eine Anlaufstelle für strategische Prozessführung auf. Die Anlaufstelle dokumentiert strategische Fälle, um dieses Instrument in der Schweizer Zivilgesellschaft bekannter zu machen. Die Fälle werden ausgewertet, um daraus Best Practices zu entwickeln. Die Anlaufstelle unterstützt Prozesse durch die Vernetzung und Beratung von Betroffenen, Anwält*innen, Fachstellen und NGOs und baut spezifisches Know-How auf. Langfristiges Ziel ist es, dass die Anlaufstelle zu einer wichtigen Drehscheibe zwischen den genannten Akteur*innen wird und strategische Fälle umfassend begleiten kann.
Weiterführende Informationen
- In der Schweiz haben nicht alle den gleichen Zugang zum Recht
NZZ am Sonntag, Gastkommentar von Stephan Bernhard, 1. Februar 2020 - Tagungsband «Zugang zum Recht». Über den wirksamen Rechtsschutz im Alltag.
Schweizerisches Kompetenzzentrum für Menschenrechte, Ombudsstelle Stadt Zürich, 2017 - Rechte haben – Recht bekommen. Das Menschenrecht auf Zugang zum Recht
Beate Rudolf, Deutsches Institut für Menschenrechte, 2014 - Schwerpunkt Zugang zur Justiz
Schweizerisches Kompetenzzentrum für Menschenrechte - Studie «Zugang zur Justiz in Diskriminierungsfällen». Grundlagen zum Diskriminierungsschutz in der Schweiz
Schweizerisches Kompetenzzentrum für Menschenrechte, Juli 2015 - United Nations Development Programme, Access to Justice, Practice Note, New York 2015
United Nations Development Programme, 30. Oktober 2015 - United Nations Development Programme, Programming for Justice: Access for All, A Practitioner’s Guide to a Human Rights-Based Approach to Access to Justice, Bangkok 2005
United Nations Development Programme, 2005