16.12.2020
Der Bundesrat will das Ausländer- und Integrationsgesetz verschärfen und damit vorläufig aufgenommenen Personen das Reisen verbieten. Trotz wiederholter Ermahnung von Seiten internationaler Gremien tut sich die Schweiz schwer, die Menschenrechte von Personen mit vorläufiger Aufenthaltsbewilligung zu respektieren.
Im Jahr 2020 besassen mehr als ein Drittel aller Personen aus dem Asylbereich eine sogenannte F-Bewilligung – auch «vorläufigen Aufnahme» genannt. Dieser Status ergibt sich in den meisten Fällen aus dem Ausländerrecht (77%). Er wird unter anderem Personen erteilt, welche die Flüchtlingseigenschaft nicht besitzen, deren Ausschaffung aus der Schweiz aber entweder unzulässig (wegen drohender Verletzung von durch die Schweiz eingegangenen internationalen Verpflichtungen), unzumutbar (wegen Krieg, Situationen allgemeiner Gewalt oder mangelhafter Versorgungslage im Herkunftsland) oder unmöglich ist. Diesen Personen wird der Aufenthalt in der Schweiz vorübergehend – bis die Unzulässigkeit, Unzumutbarkeit oder Unmöglichkeit wegfällt – gestattet. Menschen mit vorläufiger Aufnahme unterliegen insbesondere in Bezug auf ihre Reise- und Niederlassungsfreiheit einer Reihe von Restriktionen. Diese Rechte will der Bundesrat nun noch weiter einschränken: Würden die von ihm vorgeschlagenen Änderungen vom Parlament angenommen, bliebe es den 49’000 in der Schweiz lebenden Menschen mit F-Bewilligung künftig verwehrt, ins Ausland zu reisen.
Stetige Verschärfungen und anhaltende Kritik
Die vom Bundesrat am 26. August 2020 beschlossenen Änderungen des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG) vereinfachen zwar einerseits die Mobilität zu Arbeitszwecken für vorläufig Aufgenommene innerhalb der Schweiz, schränken jedoch ihre allgemeine Bewegungs- und Reisefreiheit bedeutend ein. Dabei ist es Personen mit F-Bewilligung bereits heute im Grundsatz nicht möglich, sich in einem anderen Kanton niederzulassen als demjenigen, der ihnen durch das Staatssekretariat für Migration zugewiesen wurde (Art. 85 AIG). Künftig sollen ihnen, mit Ausnahme der selbständigen und endgültigen Ausreise aus der Schweiz, nicht nur Reisen ins Herkunftsland absolut untersagt werden (Art. 59d E-AIG), sondern auch Reisen in Drittländer nicht erlaubt sein (Art. 59e E-AIG).
Zahlreiche zivilgesellschaftlichen Organisationen betonen, dass bereits die bisherige Gesetzgebung sehr restriktiv ist. Entsprechend hat sich die Schweizerische Flüchtlingshilfe in ihrer Vernehmlassungsantwort zur Vorlage dezidiert gegen die Änderungen ausgesprochen. Bereits jetzt sind Reisen ins Herkunftsland nur in äusserst engen Schranken möglich, etwa bei schwerer Krankheit, dem Tod eines Familienangehörigen oder für die dringende Erledigung höchstpersönlicher Angelegenheiten. In derartigen Konstellationen kann heute beim Staatssekretariat für Migration ausnahmsweise um die Bewilligung einer Reise ersucht werden (Art. 9 Abs. 1 lit. a und b RDV). Auch Reisen in andere Länder als das Herkunftsland sind bewilligungspflichtig, wobei die Voraussetzungen für die Genehmigung etwas weniger streng sind (Art. 59 AIG).
Befolgt eine vorläufig aufgenommene Person das Reiseverbot nicht, indem sie ohne vorgängige Bewilligung ins Ausland reist oder sich mit Bewilligung länger als zwei Monate im Ausland aufhält, so droht ihr der Entzug der «vorläufigen Aufnahme» (Art. 84 AIG). Bundesrätin Sommaruga hielt in einem Votum zu drei ähnlichen parlamentarischen Motionen betreffend Auslandreisen von vorläufig Aufgenommenen fest, dass im Jahr 2017 lediglich 184 Reisen ins Heimatland - bei damals rund 43'000 vorläufigen aufgenommenen Personen - vom Staatssekretariat für Migration bewilligt worden waren. Vor diesem Hintergrund sehen verschiedene zivilgesellschaftliche Organisationen die Verschärfungen sehr kritisch. Hinzu kommt, dass der Bundesrat in seinem Entwurf deutlich weiter gegangen ist, als es das Parlament von ihm verlangt hat. Dies obwohl angesichts der vorgebrachten Zahlen kein effektives öffentliches Interesse an derart harten Maßnahmen besteht.
Die vorgeschlagenen Verschärfungen sind umso unverständlicher, als die ihnen zugrundeliegende Motion der Staatspolitischen Kommission des Ständerates lediglich punktuelle Anpassungen der vorläufigen Aufnahme forderte. Im Vordergrund standen Erleichterungen beim Wechsel zwischen den Kantonen, wodurch die Integration vorläufig Aufgenommener in den Arbeitsmarkt hätte erleichtert werden sollen. Es überrascht deshalb nicht, dass die staatspolitische Kommission des Nationalrats die Gesetzesvorlage des Bundesrates abgelehnt und sich damit gegen ein totales Reiseverbot ausgesprochen hat. Ferner hat auch das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge die vom Bundesrat vorgeschlagenen Änderungen als «subtile Einschränkung des Rechts auf Freizügigkeit» kritisiert und eine verhältnismäßige Regelung gefordert.
Verschiedene Berichte und Studien weisen darauf hin, dass auch die Bezeichnung «vorläufige Aufnahme» als solche ein Hindernis für die berufliche Integration vorläufig Aufgenommener darstellt. Dies ist umso problematischer, als die Bewilligung oft nur dem Namen nach vorläufig ist. In diesem Zusammenhang hat das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement jedoch beschlossen, dass der Begriff «vorläufige Aufnahme» beibehalten werden soll. Es wurde bereits eine Abänderung in «vorläufige Zulassung» vorgeschlagen, ein Begriffspaar, das den Lebensrealität vorläufig Aufgenommener deutlich näherkommt. In einer anderen Motion wurde gar die Erarbeitung eines komplett neuen Status gefordert, der die Realität besser abbildet und der faktischen Dauerhaftigkeit des Aufenthalts eher entspricht.
Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit werden untergraben
Die Bundesverfassung schützt gemäss Artikel 10 Absatz 2 explizit die Bewegungsfreiheit als Bestandteil des Rechts auf persönliche Freiheit. Als Grund- und Menschenrecht soll sie jedem Individuum ermöglichen, sich frei bewegen zu dürfen. Entsprechend stellt sich die Frage, ob generelle Reiseverbote für vorläufig aufgenommene Personen mit diesem Recht zu vereinbaren sind. Diverse Abhandlungen gehen dieser Frage nach, denn die Bewegungsfreiheit ist kein absolutes Grundrecht und kann unter bestimmten Voraussetzungen eingeschränkt werden (Art. 36 BV).
Die Problematik der F-Bewilligung liegt darin, dass sie an sich keine Aufenthaltserlaubnis darstellt – mit ihr ausgesprochen wird immer auch eine Wegweisung aus der Schweiz, die zugunsten der vorläufigen Aufnahme aufgeschoben wird. In der Praxis werden deshalb die Anforderungen an die Einschränkungen der Rechte von vorläufig Aufgenommenen sehr tief angesetzt. Zwar kam eine vom Bund in Auftrag gegebene Studie im Jahr 2003 zum Schluss, dass der Status der «vorläufigen Aufnahme» mit den Grundrechten in Einklang steht – beziehungsweise, dass die bestehende Einschränkungen dieser Rechte zulässig sind –, jedoch liegt diese Erkenntnis in der Vorläufigkeit der F-Bewilligung begründet. Gemäss zahlreichen Berichten ist die vorläufige Aufnahme aber oft gerade nicht nur vorübergehend, sondern kann Jahre oder gar Jahrzehnte andauert. Die geplante Änderung des Ausländer- und Integrationsgesetzes, welche missbräuchliche Auslandreisen verhindern will, ist deshalb klar unverhältnismässig und liegt nicht im überwiegenden öffentlichen Interesse.
Das «Einsperren» vorläufig aufgenommener Personen in der Schweiz ist aus menschenrechtlicher Sicht hoch problematisch. Reisen ins Ausland sind für vorläufig Aufgenommene oft die einzige Möglichkeit, den Kontakt zu im Ausland lebenden Personen ihrer Gemeinschaft und zu Freunden aufrecht zu erhalten. Auch der Besuch eines Familienmitglieds, von dem eine vorläufig aufgenommene Person durch die Flucht getrennt wurde und das nun in einem Drittstaat lebt, ist nur so möglich. Würde der bundesrätliche Entwurf angenommen, könnten auch Kinder mit F-Bewilligung nicht mehr ohne Weiteres an Schulwettkämpfen oder Veranstaltungen in einem Nachbarstaat teilnehmen, was bei ihnen unweigerlich ein Gefühl von Ungleichbehandlung auslösen würde. Mit Blick auf all diese Konstellationen unterstrich das Centre Sociale Protéstant (CSP) im Rahmen der Vernehmlassung zurecht die Bedeutung sozialer Bindungen für die Integration von Betroffenen – ein Ziel, dass auch der Bund verfolgt und den geplanten Verschärfungen diametral entgegensteht.
Verletzung des Rechts auf Familie
Ein Reiseverbot für vorläufig Aufgenommene verstösst gegen das Recht auf Familienleben. Dieses Grundrecht von der Verfassung geschützt (Art. 13 und 14 BV) und Bund sowie Kantone sind verpflichtet, die Familie und das Leben als solche zu fördern (Art. 41 Bst. c BV). Mit einem generellen Verbot von Reisen ins Ausland wird es vorläufig Aufgenommenen verunmöglicht, ihre nicht in der Schweiz lebenden Verwandten zu besuchen. Oft führt die Flucht aus einer prekären Situation dazu, dass Familien auseinandergerissen werden, und sich danach in unterschiedlichen Ländern befinden. Würde der Vorschlag des Bundesrates umgesetzt, bliebe es etwa einem in der Schweiz vorläufig aufgenommenen Kind verwehrt, seine ebenfalls nach Europa geflohene und in Italien gestrandete Mutter zu besuchen.
Die Dublin-Verordnung und die die strengen Gesetze zur Familienzusammenführung in der Schweiz tragen ihren Teil dazu bei, dass vorläufig Aufgenommene von ihren Familienmitgliedern getrennt bleiben. Für sie ist selbst die Wiedervereinigung mit der Kernfamilie nur unter sehr restriktiven Voraussetzungen möglich: Nach Erteilung der vorläufigen Aufnahme muss zunächst eine Frist von drei Jahren abgewartet werden, bevor überhaupt ein Gesuch auf Familienzusammenführung gestellt werden kann. Für eine Bewilligung müssen zusätzliche Bedingungen erfüllt sein: Die Familie muss nach Einreise mit der in der Schweiz vorläufig aufgenommenen Person in einer genügend grossen Wohnung zusammenleben und die um Nachzug ersuchende Person darf auch nach erfolgter Familienzusammenführung nicht auf Sozialhilfe angewiesen sein (Art. 85 Abs. 7 AIG, Art. 88a AIG und Art. 74 VZAE) – sie muss also genug verdienen, um den Lebensunterhalt für die gesamte Familie bestreiten zu können.
Berücksichtigt man die Schwierigkeiten, welche vorläufig Aufgenommener bei der Stellensuche haben, stellt insbesondere letztere Bedingung regelmässig eine hohe Hürde dar. Die Organisation Caritas prangert die Regeln zum Familiennachzug entschieden an und weist darauf hin, dass die Familienzusammenführung für Personen mit F-Bewilligung unter geltendem Recht beinahe unmöglich ist.
Die gesetzlichen Anforderungen nehmen in keiner Weise Rücksicht auf die privaten Interessen der vorläufig Aufgenommenen und verletzen ihr Recht auf Achtung des Familienlebens, welches von der Europäischen Menschenrechtskonvention (Artikel 8 EMRK) garantiert wird. Gemäss dem Bundesgericht soll diese Bestimmung jedoch nur für Personen mit gefestigtem Aufenthaltsrecht in der Schweiz gelten, weshalb sich Personen mit einer F-Bewilligung nicht darauf berufen könnten. Entgegen dieser Annahme haben der UNO-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung (CERD) ebenso wie der Menschenrechtskommissar des Europarates der Schweiz in der Vergangenheit wiederholt empfohlen, die Familienzusammenführung im Rahmen der vorläufigen Aufnahme zu erleichtern. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Schweiz bereits wegen Verletzung des Rechts auf Achtung des Familienlebens verurteilt. Dennoch scheint der Bund in diesem Punkt weiterhin nicht gewillt, sich an das internationale Recht zu halten – im Jahr 2016 versuchte er gar, das Recht auf Familienzusammenführung für vorläufig Aufgenommene komplett abzuschaffen.