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Empfehlungen des Menschenrechtskommissars zur Familienzusammenführung

30.01.2018

Für die Integration von Flüchtlingen im Gastland ist es von grundlegender Bedeutung, dass diese möglichst schnell wieder mit ihren Familienmitgliedern vereint werden. Solche Familienzusammenführungen werden jedoch oft nicht gewährt. In seinem Bericht vom Juni 2017 zur «Verwirklichung des Rechts auf Familienzusammenführung von Flüchtlingen in Europa» beleuchtet der Menschenrechtskommissar des Europarats, Nils Muiznieks, diese Problematik. Darin fordert er die Staaten auf, ihre Politik und rechtlichen Praktiken zu überarbeiten. Der Bericht enthält 36 Empfehlungen, von welchen viele auch die Schweiz betreffen.

Recht auf Familienleben

Eine grosse Anzahl von Menschen suchte in Europa in den letzten Jahren Schutz vor Gewalt und Krieg. Familienmitglieder werden in kriegerischen Konflikten oder auf der Flucht oft voneinander getrennt. Der Menschenrechtskommissar stellt in seinem Bericht fest, dass eine Trennung von der eigenen Familie zu psychologischen Beeinträchtigungen, sozialer Isolation und wirtschaftlicher Not führen kann.

Das Recht auf Achtung des Familienlebens gemäss Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verlangt, dass Geflüchtete von einer raschen Familienzusammenführung profitieren können, sei es in Form eines Nachzugs von Familienmitgliedern aus dem herkunftsmässigen Kriegsgebiet oder als Zusammenführung von geflüchteten Familienmitgliedern, die sich in verschiedenen Ländern aufhalten. In den europäischen Ländern gibt es jedoch (zu) viele Einschränkungen für die Familienzusammenführung.

Die Ungleichbehandlung

Am meisten von den Einschränkungen für die Familienzusammenführung betroffen sind die Personen, welche subsidiären Schutz geniessen, also vorübergehend aufgenommen werden. Diese Personen erfüllen zwar nicht die Bedingungen der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951. Ihr Schutzbedürfnis wird dennoch anerkannt und sie können nicht in ihr Land zurückgeführt werden.

Mehrere Länder gewähren Personen mit subsidiärem Schutz das Recht auf Familiennachzug nicht oder nur beschränkt. Der Bericht des Menschenrechtskommissars fordert dazu auf, von einer solchen Differenzierung zwischen anerkannten Flüchtlingen und vorläufig Aufgenommen abzusehen. Diese Praxis sei eine Diskriminierung und verletze Art. 14 der EMRK.

Weitere Hindernisse für die Familienzusammenführung sind mehrjährige Wartefristen, zu kurze Fristen für die Einreichung eines Antrags, strenge Regeln für die Beweisführung, hohe Verfahrenskosten, abgesehen von besonderen Schwierigkeiten im Herkunftsland wie zum Beispiel einen Zugang zu Botschaften und Konsulaten zu finden.

In vielen Schengen-Ländern sind solche Praktiken üblich. Dies gilt auch für die Schweiz, welche der Familienzusammenführung einschneidende Beschränkungen auferlegt.

Die Situation in der Schweiz

Wenn eine Person in der Schweiz den Flüchtlingsstatus erlangt, kann sie ihren Lebenspartner oder ihre Lebenspartnerin und ihre minderjährigen Kinder nachziehen, sofern die familiäre Bindung schon vor der Flucht bestanden hat und sonst keine Umstände dagegen sprechen (Art. 51 und Art. 79a AsylG). Asylsuchende haben jedoch während des gesamten Asylverfahrens, das sehr lange dauern kann, kein Recht auf Familienzusammenführung.

Bei Menschen mit subsidiärem Schutz, welche vorübergehend aufgenommen wurden, gestaltet sich die Situation noch schlimmer. Im Jahr 2016 hat die staatspolitische Kommission des Nationalrats versucht, das Recht auf Familienzusammenführung für vorläufig Aufgenommene gänzlich abzuschaffen. Zwar wurde diese Forderung nicht umgesetzt, jedoch andere Einschränkungen schon. Vorläufig Aufgenommene müssen in der Schweiz eine Wartezeit von drei Jahren einhalten, bevor sie einen Antrag auf Familiennachzug stellen können. Zusätzlich wird vorausgesetzt, dass der Antragsteller oder die Antragstellerin über eine geeignete Wohnung verfügt und keine Sozialhilfe erhält. Angesichts des schlechten Zugangs zum Arbeitsmarkt wiegen diese Bedingungen besonders schwer.

Empörung auch in der Schweiz

Die Caritas Schweiz prangerte in einem Positionspapier von 2017 insbesondere die dreijährige Wartefrist sowie den Wohn- und Finanzbedarf an. Sie betont, dass Familienzusammenführungen für vorläufig Aufgenommene unter diesen Bedingungen praktisch unmöglich sind. In der Tat sind die positiven Antworten auf Anträge sehr niedrig. Laut der Caritas wurden 2016 gerade mal 46 Angehörige von Personen mit subsidiärem Schutz in der Schweiz akzeptiert (siehe dazu unseren Artikel).

Diese Situation ist umso dramatischer, als dass von den rund 25‘000 Bewohnern mit subsidiärem Schutz knapp die Hälfte seit mehr als sieben Jahren in der Schweiz lebt. Dies zeigt eine Studie des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte vom Jahr 2015 (siehe dazu unseren Artikel).

Die strenge Anwendung der Dublin (III) – Verordnung durch die Schweiz schränkt auch das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens und das Recht auf Familie ein, welche in den Artikeln 13 und 14 der schweizerischen Bundesverfassung (BV) verankert sind. Kritisiert wird die Schweiz insbesondere dafür, dass sie Menschen auf Basis der Dublin Verordnung  in andere Dublin-Staaten rückführt ohne dabei zu berücksichtigen, ob diese Personen in der Schweiz eine Familie haben. Am 20. November 2017 wurde eine von 33‘000 Personen und 200 Organisationen unterzeichneter Appell an den Bundesrat eingereicht, um die blinde Anwendung der Dublin-Verordnung durch die Schweiz anzuprangern und eine flexiblere Handhabung zu beantragen.

36 Empfehlungen

Der Menschenrechtskommissar gibt in seinem Bericht 36 Empfehlungen an die Mitgliedsstaaten des Europarates ab, um solche Missstände zu beheben. Die Dublin-Verordnung soll flexibler angewendet werden, damit die Familieneinheit respektiert und sichergestellt werden kann. Das Verfahren zur Familienzusammenführung muss schnell und effektiv für alle Flüchtlinge gelten, auch für diejenigen, welche bloss subsidiären Schutz geniessen. Die Forderung nach dieser Gleichbehandlung ist die Kernaussage des Berichts.

Schliesslich soll auch die Definition der Familienmitglieder, welche für die Wiedervereinigung in Frage kommen, ausreichend weit gefasst werden. Weiter wird empfohlen, dass nicht zwischen Familien unterschieden werden soll, die vor oder nach der Flucht gebildet wurden.

Diese Forderungen sollte die Schweiz als Mitglied des Europarates ernst nehmen. Die Empfehlungen betreffen sie direkt.

Dokumentation