08.06.2022
Gemäss dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte war das vom Bundesrat verhängte allgemeine Veranstaltungsverbot während der Covid-19-Pandemie unverhältnismässig. Der Gerichtshof anerkennt die besonderen Umstände der Pandemiebekämpfung, unterstreicht jedoch die Bedeutung der Versammlungsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft.
In seinem Urteil vom 15. März 2022 stellt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) fest, dass die Schweiz mit dem allgemeinen Verbot von öffentlichen Veranstaltungen– inklusive den strafrechtlichen Sanktionen bei Nichtbeachtung – gegen das Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit der Europäischen Menschenrechtskonvention verstossen hat (Artikel 11 EMRK).
Das Verbot von öffentlichen Veranstaltungen war zwischen dem 17. März und 30. Mai 2020 in Kraft und basierte auf der Verordnung 2 über Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus (Covid-19-Verordnung 2). Gegen die Massnahme reichte der Verein Communauté genevoise d'action syndicale (CGAS) am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Beschwerde ein.
Die Strassburger Richter*innen kritisieren insbesondere, dass die vom Bundesrat ergriffenen Massnahmen nicht durch Schweizer Gerichte auf ihre Verhältnismässigkeit überprüft worden sind. Zudem stehe das absolute Verbot von öffentlichen Veranstaltungen in keinem Verhältnis zu den verfolgten Zielen, insbesondere dem Schutz von Leben und Gesundheit.
Eine Beschwerde aus Genf
Aufgrund der Coronavirus-Pandemie stufte der Bundesrat die Situation in der Schweiz am 16. März 2020 als «ausserordentliche Lage» gemäss Artikel 7 des Epidemiengesetzes ein. Ab dem Folgetag waren gemäss der Covid-19-Verordnung 2 alle öffentlichen und privaten Veranstaltungen sowie Vereinsaktivitäten verboten – ohne Ausnahme für die Ausübung politischer Rechte. Das allgemeine Veranstaltungsverbot war mit strengen strafrechtlichen Sanktionen verbunden: Wer eine Demonstration organisiert oder durchgeführt hat, konnte mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder einer Geldstrafe belegt werden (Art. 10 ff. Covid-19-Verordnung 2).
Die Organisation Communauté genevoise d'action syndicale hatte auf den 1. Mai 2020 eine Demonstration geplant. Sie zog ihr Demonstrationsgesuch allerdings zurück, weil sie nach eigenen Angaben von den Behörden dazu gezwungen worden war. Am 26. Mai 2020 legte der Verein daraufhin eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein und machte geltend, dass die Covid-19-Verordnung 2 mit der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht zu vereinbaren sei.
Mangel an Verhältnismässigkeit
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte anerkennt in seinem Urteil die Ernsthaftigkeit und Komplexität der Bedrohung durch das Coronavirus und das Erfordernis einer schnellen Reaktion durch den Bundesrat. Er erinnert zudem an die diversen Interessen, welche die Schweiz in dieser Situation zu berücksichtigen hatte – insbesondere die Achtung des Rechts auf Leben (Art. 2 EMRK). Eine allgemeine Massnahme wie das Verbot öffentlicher Veranstaltungen erfordert gemäss den Richter*innen in Strassburg jedoch eine solide Rechtfertigung. Die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit darf in einer demokratischen Gesellschaft nur eingeschränkt werden, wenn dies zum Schutz der Gesundheit notwendig ist (Art. 11 Abs. 2 EMRK).
Eine derartige Begründung hat die Regierung gemäss dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte jedoch nicht vorgebracht. Vielmehr habe der Bundesrat die Durchführung von öffentlichen Veranstaltungen im Freien auch bei Einhaltung der Hygienevorschriften nicht erlaubt, während sich Arbeitnehmer*innen im Frühjahr 2020 unter Einhaltung bestimmter Hygienemassnahmen weiterhin am Arbeitsplatz aufhalten durften– selbst wenn sich damit hunderte Menschen zeitgleich an einem Ort befanden. In diesem Zusammenhang hält der Gerichtshof fest, dass eine Massnahme in einer demokratischen Gesellschaft als unverhältnismässig angesehen werden muss, wenn mit einer milderen – das betreffende Grundrecht weniger einschneidenden – Vorkehrung das gleiche Ziel erreicht werden kann.
Weiter weisen die Richter*innen auf die ausserordentliche Strenge der vorgesehenen Strafen – bis zu drei Jahre Freiheitsentzug – hin. Sie erinnern daran, dass Strafen dieser Art einer besonderen Rechtfertigung bedürfen und eine friedliche Demonstration grundsätzlich nicht Gegenstand einer strafrechtlichen Sanktion sein sollte. Sanktionen dieser Art könnten auf potenzielle Teilnehmer*innen und Organisator*innen zudem eine abschreckende Wirkung haben.
Schliesslich erinnert der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte daran, dass die Schweiz von ihrem Recht auf «Abweichen im Notstandsfall» (Art. 15 EMRK) keinen Gebrauch gemacht habe, wodurch sie unter Berücksichtigung ihres Ermessenspielraums die Anforderungen der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit vollständig zu erfüllen habe. Der Gerichtshof zieht den Schluss, dass die Schweiz den Schutz der Gesundheit auch mit geringeren Einschränkungen als einem absoluten Verbot öffentlicher Veranstaltungen hätte gewährleisten können und die Massnahme damit in keinem angemessenen Verhältnis zu den verfolgten Zielen stand. Damit hat die Schweiz die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gemäss Artikel 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt.
Fehlende Rechtsmittel und gerichtliche Kontrolle
Die Verhältnismässigkeit einer derartigen Einschränkung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und der damit vorgesehenen Sanktionen hätte gemäss dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte besonders ernsthaft und durch ein befugtes Gericht überprüft werden müssen. In Krisenzeiten würden unter dem Vorwand der Dringlichkeit oft weitgehende Einschränkungen der Menschenrechte beschlossen. Dabei gewährleiste der Zugang zu einer unabhängigen und effektiven gerichtlichen Kontrolle einen Schutz vor Exzessen und Machtmissbrauch durch die Exekutive. Im vorliegenden Fall haben die Schweizer Gerichte, insbesondere das Bundesgericht, jedoch keine Abwägung der auf dem Spiel stehenden Interessen vorgenommen, was der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit Blick auf die Dauer des allgemeinen Veranstaltungsverbots als besonders problematisch erachtet.
Entgegen der Meinung des Bundesrates stellt der Gerichtshof zudem fest, dass der Verein Communauté genevoise d'action syndicale nicht über wirksame innerstaatliche Rechtsbehelfe verfügt hat und aus diesem Grund – ungeachtet der prozessualen Nachrangigkeit des Gerichtshofes gegenüber den innerstaatlichen Instanzen (Art. 35 Ziff. 1 EMRK) – direkt an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gelangen durfte. Das Schweizer Bundesgericht habe in einem ähnlichen Fall (BGE 1C_524/2020) die Beschwerde gegen eine verweigerte Demonstrationsbewilligung wegen fehlendem aktuellen Interesse für unzulässig erklärt, unter anderem weil das Datum der Demonstration bereits in der Vergangenheit lag und die geltenden Beschränkungen wieder aufgehoben waren. Der Gerichtshof erachtet es entsprechend als unwahrscheinlich, dass die Schweizer Gerichte im vorliegenden Fall innerhalb einer nützlichen Frist eine Vorabprüfung der Covid-19-Verordnung 2 vorgenommen hätten, wodurch dem Verein Communauté genevoise d'action syndicale kein wirksamer Rechtsbehelf zu Verfügung gestanden hat.
Die Bedeutung der Versammlungsfreiheit in einer Demokratie
Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verdeutlich einmal mehr, welche Bedeutung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit in einem demokratischen Kontext und insbesondere zur Wahrung aller anderen Menschenrechte zukommt. Der Strassburger Richter Krenc betont, dass dieses Recht «Einzelpersonen ermöglicht, kollektiv und öffentlich ihren Protest gegen andere Einschränkungen von Rechten und Freiheiten zum Ausdruck zu bringen». Die Gewährleistung der Versammlungsfreiheit ist in Krisenzeiten umso wichtiger, da die Menschenrechte mit der Machtverschiebung zur Exekutive stärker unter Druck geraten und eine demokratische politische Debatte und damit die Achtung der Grund- und Menschenrechte sichergestellt werden müssen.
Die Argumentation des Gerichtshofes beruht auf dem holistischen Ansatz der Europäischen Menschenrechtskonvention: Ein Recht muss immer unter Berücksichtigung aller anderen durch die Konvention garantierten Rechte ausgelegt werden. Bei der Interessenabwägung im konkreten Fall sind daher insbesondere die bürgerlichen und politischen Rechte zu berücksichtigen und die Aufrechterhaltung wirtschaftlicher Aktivitäten nicht ungerechtfertigt anderen Grundrechten vorzuziehen. Das Urteil stellt ebenso klar, welche Bedeutung dem Zugang zum Recht und der gerichtlichen Kontrolle in Krisenzeiten zukommt. Das verdeutlich nicht zuletzt auch der Umstand, dass gemäss Communauté genevoise d'action syndicale der Bundesrat seine Verordnung änderte und politische Demonstrationen wieder zuliess, als sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit dem vorliegenden Fall befasste. Bei der Sicherstellung der Menschenrechte in zukünftigen Krisen wird schliesslich auch die künftige Nationale Menschenrechtsinstitution (NMRI) eine wichtige Rolle einnehmen.