12.05.2021
Die Coronapandemie zeigt: Grundrechte sind auch in der Schweiz nicht selbstverständlich und die staatlichen Schutzmassnahmen werfen komplexe Fragen auf. Welche Massnahmen sind verhältnismässig? Was, wenn sich Menschenrechte – etwa das Menschenrecht auf Gesundheit und die Bewegungs- oder Versammlungsfreiheit – gegenüberstehen? In zukünftigen Krisen kann eine Nationale Menschenrechtsinstitution (NMRI) in dieser Hinsicht eine hilfreiche Rolle spielen. Jetzt entscheidet das Parlament über eine Gesetzesvorlage – Knackpunkt ist der finanzielle Rahmen.
Der Bundesrat will nach nicht weniger als 20 Jahren Vorgeschichte eine Nationale Menschenrechtsinstitution schaffen. In den meisten Ländern der Welt gibt es sie bereits, so in 41 von 47 Mitgliedstaaten des Europarates. Der Gesetzesvorschlag zur Errichtung einer solchen Institution wird 2021 im Parlament verhandelt. Hätte die Schweiz bereits heute eine starke NMRI, könnten gesellschaftliche Diskussionen – wie jene, die wir in der Coronapandemie führen – sich stärker an menschenrechtlichen Leitplanken ausrichten. Eine NMRI kann die Arbeit der Behörden unterstützen und sie entlasten, beim Bund, in den Kantonen und Gemeinden. Sie kann einen Beitrag dazu leisten, die Bevölkerung für transparent begründete und solidarisch getragene Massnahmen zu gewinnen. Etwa indem gezeigt wird, dass diese die Menschen vor Diskriminierung schützen und – bei allen notwendigen Abwägungen – den Schutz der Freiheitsrechte nie ausser Acht lassen.
Die Coronakrise stellt uns im Alltag und in der Politik vor akute Fragen zum Grundrechtsschutz. Betroffen von Eingriffen sind alle Menschen, am stärksten die verletzlichsten Mitglieder der Gesellschaft. Entscheidend ist das Gleichgewicht: Auf der einen Seite stehen der Schutz der Gesundheit, der diskriminierungsfreie Zugang zu medizinischer Versorgung, das Recht auf Leben. Auf der anderen befinden sich die zur Erhaltung dieser Grundrechte eingesetzten Einschränkungen von Menschenrechten.
Wo sind die roten Linien? Was ist verhältnismässig? Wenn es um das Recht auf Privatsphäre und Selbstbestimmung, um Besuchsrechte und die Bewegungsfreiheit älterer Menschen geht. Wenn epidemiologische Massnahmen von der Maskentragpflicht bis zu Impfnachweisen oder gar Impfobligatorien diskutiert und verordnet werden. Wenn das Recht auf Gesundheit des Gesundheitspersonals auf dem Spiel steht. Wenn Einschränkungen der Meinungsäusserungs- und Versammlungsfreiheit wie der Wirtschaftsfreiheit je nach Kanton und Gemeinde unterschiedlich – und häufig ohne politische Debatte – durchgesetzt werden. Wenn Gewalt an Frauen und häusliche Gewalt aufgrund der pandemiebedingten Einschränkungen ansteigen. Oder wenn die Bildung aller Kinder unter erschwerten Umständen auch aus menschenrechtlicher Perspektive beurteilt werden muss.
In der Schweiz gibt es kaum Analysen, welche das epidemiologische Wissen und eine grundrechtliche Einordnung miteinander verbinden. Gerade in unserem föderalistischen System wäre dies aber von grösster Bedeutung. Hier kann die NMRI einen wichtigen Beitrag leisten. Allerdings nur, wenn sie mit den minimal notwendigen Ressourcen ausgestattet ist; mit der vom Bundesrat vorgeschlagenen Million Schweizer Franken droht die Institution die Erwartungen zwangsläufig zu enttäuschen und wird letztlich scheitern.
Der Bundesrat formuliert sechs Aufgaben für die neue Institution. Sie richten sich an den internationalen Richtlinien aus: den Pariser Prinzipien der UNO. Aus dieser prinzipiell einleuchtenden Prioritätensetzung ergeben sich zentrale und exemplarische Fragestellungen für die zukünftige Arbeit:
- Information und Dokumentation: Wo steht die Schweiz bei der Umsetzung der internationalen Menschenrechtsabkommen? Welche Lücken im Diskriminierungsschutz müssen geschlossen werden? Wo gibt es auf Bundes-, Kantons- oder Gemeindeebene – gerade im Umgang mit Krisen und Konflikten – exemplarische Entwicklungen, von denen andere lernen können?
- Praxisorientierte Forschung: Wie können etwa Verantwortlichkeiten und Gewaltenteilung in einer besonderen oder aussergewöhnlichen Lage praxistauglicher und grundrechtskonformer ausgestaltet werden?
- Beratung der Verwaltung – auch von Kantonen und Gemeinden – sowie der Wirtschaft und von zivilgesellschaftlichen Organisationen: Welche konkreten Massstäbe und Werkzeuge helfen den Behörden, die Notwendigkeit und Verhältnismässigkeit von Massnahmen zu überprüfen, welche beispielsweise die Meinungs- und Versammlungsfreiheit einschränken?
- Förderung von Dialog und Zusammenarbeit: Wie können durch frühzeitige Vernetzung unterschiedlichster Akteur*innen im Menschenrechtsbereich Doppelspurigkeiten und langwierige Rechtsstreitigkeiten vermieden werden, was zu Effizienz und Kosteneinsparungen führt?
- Menschenrechtsbildung und Sensibilisierung: Wie kann etwa das Verständnis für Grundrechtsfragen bei Menschen in verschiedenen Berufsfeldern verstärkt werden – vom Schulbereich über den Strafvollzug oder die Psychiatrie bis hin zu den Behörden, welche für die Betreuung von älteren Menschen verantwortlichen sind.
- Internationaler Austausch: Wie kann die Schweiz am internationalen Wissens- und Erfahrungsaustausch partizipieren, der sich gerade in der Coronakrise sehr bewährt – wie die Zusammenstellungen der globalen NMRI-Dachorganisation GANHRI, der europäischen NMRI-Dachorganisation ENNHRI oder das neue Handbuch der OSZE/ODIHR zum Handeln der NMRI in Notstandssituationen zeigen?
Die Schweiz zeigt sich bereit, die Coronakrise mit wirkungsvollen und sehr kostspieligen Massnahmen zu bewältigen. Der Weg aus einer solchen Krise darf nicht auf Kosten der Grundrechte erfolgen, sondern muss zum Schutz und der Förderung der Menschenrechte beitragen. Die Schweiz braucht dazu – nicht nur in Zeiten von Corona – eine starke NMRI.
Die NGO-Plattform Menschenrechte Schweiz fordert, dass die Nationale Menschenrechtsinstitution, um ihre Aufgaben glaubwürdig und wirkungsvoll wahrnehmen zu können, den internationalen Standards vollumfänglich entsprechen muss. Entscheidend hierfür ist ihre Unabhängigkeit: Es braucht einen offenen Aufgabenkatalog und ein solides Budget mit langfristiger Planungssicherheit.
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Tarek Naguib
Koordinator der NGO-Plattform Menschenrechte Schweiz
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