humanrights.ch Logo Icon

Racial Profiling: Schweiz in Strassburg verurteilt

18.12.2024

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat entschieden, dass im Fall Wa Baile gegen die Schweiz gegen das Diskriminierungsverbot und das Recht auf wirksame Beschwerde verstossen wurde. Das Urteil ist ein wichtiger Schritt im Kampf gegen Racial Profiling und institutionellen Rassismus.

Am 5. Februar 2015 wurde der Schweizer Staatsbürger Mohamed Wa Baile im Zürcher Hauptbahnhof von der Polizei zu einer Personenkontrolle angehalten. Die Beamt*innen gaben an, dass keine schwarze Person gesucht sei, es konnte also davon ausgegangen werden, dass es sich bei der Kontrolle um Racial Profiling handelte. Daher weigerte Wa Baile sich, seinen Namen zu nennen und sich auszuweisen. Daraufhin durchsuchten die Polizist*innen seinen Rucksack und fanden seinen AHV-Ausweis, worauf sie ihn gehen liessen. Am 16. März 2015 wurde Wa Baile ein Strafbefehl wegen Nichtbefolgens polizeilicher Anordnung mit einer Busse in der Höhe von 100 Franken zugestellt.

Dies war der Beginn der gerichtlichen Bearbeitung des Fall Wa Baile, der geprägt war von zurückgewiesenen Beschwerden und der Weigerung der Schweizer Gerichte, das Thema Racial Profiling zu behandeln. In seinem Urteil vom 24. Februar 2024 kam der EGMR schliesslich zum Schluss, dass die Schweiz gegen das Diskriminierungsverbot (Art. 14 EMRK) in Verbindung mit dem Recht auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK) sowie gegen das Recht auf wirksame Beschwerde (Art. 13 EMRK) verstossen hat.

Abgelehnte Beschwerden durch alle Schweizer Instanzen

Nach dem Erhalt des Strafbefehls reichte Mohamed Wa Baile mit der Unterstützung der Allianz gegen Racial Profiling Einsprache ein. Das Stadtrichter*innenamt wies die Einsprache ab, hiess damit den Strafbefehl gut und leitete die Akten zur Durchführung des Hauptverfahrens an das Bezirksgericht Zürich weiter. Am 7. November 2016 wurde die Einsprache vom Bezirksgericht Zürich abgewiesen und Wa Baile erstinstanzlich verurteilt. Daraufhin zog Wa Baile das Urteil mittels einer Beschwerde an das Obergericht Zürich weiter, welches am 25. August 2017 den Entscheid des Bezirksgerichts bestätigte. Ein paar Monate später, am 7. März 2018 entschied auch das Bundesgericht zugunsten der Vorinstanzen und wies die Beschwerde von Wa Baile ab.

Parallel zum Strafverfahren strebte Wa Baile auch ein verwaltungsrechtliches Verfahren an, um damit den Entscheid des Bundesgerichts bezüglich seiner Verurteilung anzufechten. Dazu reichte Wa Baile am Zürcher Verwaltungsgericht ein Feststellungsbegehren wegen Verletzung des Diskriminierungsverbots ein, welches nicht gutgeheissen wurde. Am 1. Oktober 2020 stellte das Bezirksgericht Zürich schliesslich die Rechtswidrigkeit des Strafbefehls mangels genügend objektiver Gründe zur Durchführung der Personenkontrolle fest, sah aber keine Verletzung des Diskriminierungsverbots. Die Aussage des zuständigen Polizeibeamten, dass die Hautfarbe des Betroffenen für die Kontrolle nicht ausschlaggebend gewesen sei, hielt es für glaubwürdig. Damit erkannte das Bezirksgericht den Aspekt der rassistischen Diskriminierung nicht als Element der Rechtswidrigkeit der betreffenden Polizeikontrolle an.

Wa Baile zog daraufhin seine Beschwerde in öffentlich-rechtlicher Angelegenheit ans Bundesgericht weiter. Dieses bestätigte am 23. Dezember 2020 das Urteil des Verwaltungsgerichts und wies die Beschwerde ab. Daraufhin wurden beide Beschwerden beim EGMR eingereicht. Dieser legte die beiden Verfahren zusammen und deklarierte 2022 den Fall Wa Baile als sogenannten «Impact»-Fall. Als solche werden nur sehr wenige EGMR-Fälle behandelt, die für den betreffenden Staat und/oder das EMRK-System insgesamt von Bedeutung sind und eine schnellere Bearbeitung rechtfertigen. Am 20. Februar 2024 stellte der EGMR eine zweifache Verletzung des Diskriminierungsverbots fest.

Eine erste Verurteilung wegen Racial Profiling

In seinem Urteil erinnerte der EGMR daran, dass die Problematik der rassistischen Diskriminierung besondere Wachsamkeit und eine energische Reaktion der Behörden erfordert: die Staaten müssen einen administrativen und rechtlichen Rahmen schaffen und eine angemessene Ausbildung der Polizeikräfte gewährleisten, um diskriminierende Praktiken oder Machtmissbrauch, insbesondere im Bereich des Racial Profilings, zu verhindern. Die Richter*innen bezogen sich insbesondere auf die Empfehlungen des Ausschusses der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (CERD), der die Ausbildung der Schweizer Polizeibeamt*innen in Themen wie Rassismus und Racial Profiling als ‘unzureichend’ beurteilt.

Der Gerichtshof entschied einstimmig, dass die Schweiz zweifach gegen das Diskriminierungsverbot gemäss Art. 14 EMRK in Verbindung mit Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privatlebens) verstossen habe. Erstens hätte es sich bei der Personenkontrolle um eine Diskriminierung Wa Bailes aufgrund seiner Hautfarbe gehandelt. Zweitens hätten die Schweizer Gerichte die vom Beschwerdeführer vorgebrachte Behauptung des Racial Profilings nicht eingehend geprüft, obwohl Art. 14 in Verbindung mit Art. 8 EMRK die Staaten verpflichtet, aktiv nach Verknüpfungen zwischen mutmasslich rassistischen Einstellungen und den strittigen Handlungen zu suchen. Wenn der Beschwerdeführer das Vorhandensein einer Ungleichbehandlung nachweisen kann, ist es die Aufgabe des Staates, zu beweisen, dass diese im vorliegenden Fall gerechtfertigt war, um einen wirksamen Diskriminierungsschutz zu gewährleisten, sowie potenziell rassistischem Verhalten vorzubeugen. Im vorliegenden Fall stellten die Strassburger Richter*innen jedoch fest, dass die Schweizer Justizbehörden Wa Baile die Beweislast auferlegt hatten, nachzuweisen, dass er einer diskriminierenden Behandlung unterzogen worden war. Und dies ohne, dass die Behörden eine gründliche Untersuchung der Umstände der Polizeikontrolle durchführten. Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass es der Schweizer Gerichten nicht gelungen ist, die starke Vermutung einer diskriminierenden Behandlung bei der Polizeikontrolle zu widerlegen.

Kein Zugang zum Recht für Opfer von Racial Profiling

Die Strassburger Richter*innen erinnerten daran, dass eine als wirksam geltende Beschwerde praktisch und rechtlich zugänglich sein muss, und nicht von den staatlichen Behörden ungerechtfertigt behindert werden darf. Der Gerichtshof stellte jedoch fest, dass das Bundesgericht, die Diskriminierungsfrage nicht behandelt hat. Darüber hinaus habe das Bundesgericht die Schutzwürdigkeit des Interesses des Beschwerdeführers verneint, die Aufhebung oder Änderung der angefochtenen Entscheidung zu verlangen. Der EGMR kommt daher zum Schluss, dass eine Verletzung des Rechts auf wirksame Beschwerde vorliegt. Wa Baile sei in Bezug auf seine Beschwerde vor den innerstaatlichen Gerichten kein wirksamer Rechtsbehelf zur Verfügung gestanden, um seinen Vorwurf der diskriminierenden Behandlung geltend zu machen.

Der EGMR kritisierte ausserdem, dass es nach Schweizer Rechtsprechung nicht möglich ist, die Rechtmässigkeit einer polizeilichen Anordnung anzufechten, die sich der Kontrolle der Schweizer Gerichte entzieht. Der Richter des Bezirksgerichts Zürich verurteilte Wa Baile am 7. November 2016 im verwaltungsrechtlichen Verfahren und vertrat die Ansicht, dass sich die Rechtmässigkeit des Strafbefehls nur auf diesen Punkt beziehe, ohne zu prüfen, ob die Polizeikontrolle des Beschwerdeführers aus diskriminierenden Erwägungen erfolgte.

Der Fall Wa Baile zeigt die vielfältigen Hürden auf, mit denen Personen, die in der Schweiz Opfer von Racial Profiling werden und sich auf rechtlichem Weg dagegen wehren möchten, konfrontiert sind. Der erschwerte Zugang zur Justiz kommt zur diskriminierenden Behandlung, der sie ausgesetzt sind, noch hinzu und erhöht damit die Belastung der betroffenen Personen.

Racial Profiling – Eine Realität in der Schweiz

Die Problematik des Racial Profilings, die seit 2013 weltweit von Aktivist*innen vor allem durch die Bewegung «Black lives matter» thematisiert wird, hat 2020 mit der Ermordung von Georges Floyd durch die Polizei in den USA an Legitimität und Sichtbarkeit gewonnen.

In der Schweiz ist die Problematik trotz dem Stattfinden von missbräuchlichen und gewalttätigen Verhaftungen von rassifizierten Personen, die manchmal bis zum Tod der verhafteten Personen führen, noch immer wenig anerkannt. Der Tod von Mike Ben Peter bei einer Polizeikontrolle in Lausanne im Jahr 2018 führte zu einem Gerichtsverfahren, das von seinen Angehörigen angestrebt worden ist. Eine unabhängige Expert*innenkommission möchte zudem den Tod von Roger Nzoy klären, der ebenfalls im Rahmen eines Polizeieinsatzes in Morges im Jahr 2021 verstarb. Auch Wilson A., der 2009 in Zürich gewaltsam festgenommen wurde, ist noch immer auf der Suche nach Gerechtigkeit. Der Fall von Lamin Fatty, der 2017 in einem Waadtländer Gefängnis starb, nachdem er mit einem anderen Mann verwechselt worden war, wurde hingegen neu aufgerollt.

In einem Schreiben an die Schweizer Behörden vom Juli 2024 äusserten die Working Group of experts on People of African Descent sowie die UN-Sonderberichterstatterin für zeitgenössische Formen von Rassismus ihre Besorgnis über mögliche «Verletzungen internationaler Menschenrechtsverpflichtungen durch die Schweiz». Die UN-Expert*innen wiesen insbesondere auf die Missstände im erstinstanzlichen Verfahren und im Berufungsverfahren gegen sechs angeklagten Polizist*innen hin, die im Juli 2024 vom Gericht freigesprochen wurden. Das Gericht hatte die Anklagen wegen fahrlässiger Tötung und Amtsmissbrauch im Fall Mike Ben Peter nicht aufrechterhalten.

In einem Schreiben an die Schweizer Behörden bereits im Jahr 2019 hatten sich die Expert*innen besorgt über den Tod mehrerer Menschen afrikanischer Abstammung geäussert, der auf die übermässige Gewaltanwendung durch die Polizeikräfte zurückzuführen sei. Der CERD zeigte sich auch besorgt über die Lücken im Antidiskriminierungsschutz der Schweiz und das Fehlen eines Gesetzes, das Racial Profiling ausdrücklich verbietet. Der Ausschuss forderte die Behörden auf, ihm bei seinem letzten Überwachungszyklus im Jahr 2021 entsprechende Hinweise zu geben.

Ein dringendes Signal an die Schweiz und andere Staaten

Das Urteil des EGMR hat wichtige Auswirkungen auf nationaler und internationaler Ebene. Im Jahr 2022 hatte der Gerichtshof den Fall als besonders wichtig für die Anwendung der EMRK angesichts neuer Herausforderungen eingestuft. Diese Entscheidung erinnert daran, dass die Problematik des Racial Profilings weltweit fortbesteht und dass die Staaten dringend wirksame Mechanismen zur Verhinderung und Bekämpfung rassistischer Diskriminierung und zur Gewährleistung eines fairen Zugangs der Opfer zur Justiz einführen müssen.

Auf nationaler Ebene zeigt das Urteil die Lücken im Schutz der Grundrechte im Schweizer Antidiskriminierungsrecht auf, insbesondere in Bezug auf die Beschwerdemechanismen für die Opfer von Racial Profiling. In ihrer Pressemitteilung vom 24. Februar 2024 listet die Allianz gegen Racial Profiling Massnahmen auf, um dem Urteil des EGMR nachzukommen und dieses umzusetzen: Die Schweiz muss die Problematik des institutionellen Rassismus und der Polizeigewalt anerkennen, unabhängige Studien über alle Polizeikorps in Auftrag geben und Empfehlungen für Präventions- und Interventionsmassnahmen gegen solche Taten aussprechen. Sowohl die Bundes- als auch die Kantonsbehörden müssen Bestimmungen erlassen, die diskriminierende Kontrollen klar verbieten, unabhängige kantonale Untersuchungsorgane schaffen, welche die Staatsanwaltschaften ersetzen, und eine unabhängige und systematische Verfolgung von Rassismusfällen innerhalb der Polizei gewährleisten.