15.06.2016
Der Verein Fanarbeit Schweiz hat seinen Jahresbericht 2015 dem Thema der Internetfahndung gewidmet. Entstanden ist ein spannendes Heft, das diese umstrittene Fahndungsmethode aus unterschiedlichen Blickwinkeln – aber immer mit Bezug auf die grundrechtliche Problematik – reflektiert.
Der Oberstaatsanwalt
Der Zürcher Oberstaatsanwalt Andreas Eckert wird befragt, ob es verhältnismässig sei, wenn zur Aufklärung von nicht besonders schweren Delikten wie leichter Sachbeschädigung, einfacher Körperverletzung, Raufhandel oder Landfriedensbruch die Öffentlichkeitsfahndung eingesetzt wird. Der Oberstaatsanwalt bejaht diese Frage mit dem Hinweis auf eine «konkrete Gefährdung einer grossen Zahl von Personen» bei solchen Sportanlässen sowie dem Hinweis, dass es sich im Rahmen der Ermittlungen zu einer Straftat um ein letztes Mittel handle, die nur dort zum Zuge komme, wo die andern Methoden nichts gebracht hätten und wo zudem ein dringender Tatverdacht bestehe.
Grundsätzlich werde die Internetfahndung in einem 3-Stufenmodell eingesetzt: erstens öffentliche Ankündigung einer Internetfahndung, zweitens Aufschalten verpixelter Bilder von Tatverdächtigen und drittens Entpixelung und Blossstellung der Tatverdächtigen.
Das Verbot, jemanden unter Druck zu setzen, damit er sich selbst belastet, sieht der Staatsanwalt durch das dreistufige Verfahren ebenso wenig verletzt wie die Unschuldsvermutung oder das rechtliche Gehör. Zum Problem hingegen, dass die Fahnungsbilder im Internet weiter zirkulieren, auch nachdem sie die Polizei längst vom Netz genommen hat, weiss er auch keine Lösung.
- «Die Internetfahndung ist und bleibt eine notwendige Fahndungsmassnahme»
Interview mit Andreas Eckert, Oberstaatsanwalt Kt. Zürich, aus: Fanarbeit Schweiz, Jahresbericht 2015 (pdf, 3 S.)
Die Rechtsanwältin
Die Rechtsanwältin Manuela Schiller gibt Einblicke in die schwierigen Entscheidsituationen von Betroffenen, wenn verpixelte Fahndungsbilder aufgeschaltet werden. Dabei geht es immer auch um die Frage, wie das soziale Umfeld reagieren wird, wenn eine Person auf einem Fahndungsbild erkennbar ist.
Weil die Unschuldsvermutung tangiert sei, gibt die Anwältin weiter zu bedenken, sei eine Internetfahndung nur bei einem schweren Delikt gerechtfertigt. Es bestehe aber nicht immer ein Konsens darüber, was ein schweres Delikt ist bzw, was die Schwere eines Delikts ausmacht. Ausserdem gebe es Kantone, welche explizit auch Vergehen wie einfache Körperverletzung, Sachbeschädigung, Gewalt und Drohung gegen Beamte und Widerhandlungen gegen das Sprengstoffgesetz als Voraussetzung für Internetfahndungen gelten lassen.
Überhaupt sei die Handhabung dieser Fahndungsmethode in den Kantonen sehr uneinheitlich. Auch komme es in der Öffentlichkeitsfahndung immer wieder zu Fehlern und Pannen zu Lasten von Unschuldigen. Folgerichtig verlangt Manuela Schiller eine schweizweite selbstkritische Evaluation der bisherigen Internetfahndungen.
- «Der Zweck heiligt nicht alle Mittel»
Interview mit Manuela Schiller, Rechtsanwältin, aus: Fanarbeit Schweiz, Jahresbericht 2015 (pdf, 5 S.)
Juristische Aufklärung
Der redaktionelle Hintergrundartikel betreibt eine in diesem Rahmen vorbildliche juristische Aufklärung: Er stellt die Argumente pro und contra Internetfahndung zusammen, bezeichnet die Grundrechte, die auf dem Spiel stehen, erläutert die rechtlichen Voraussetzungen für eine Einschränkung dieser Grundrechte und schlägt schliesslich den Bogen zum nationalen Parlament.
- «Effiziente Massnahme oder Pranger?»
von Senad Gafuri, aus: Fanarbeit Schweiz, Jahresbericht 2015 (pdf, 7 S.)
Weitere Perspektiven
Auch die weiteren Interviews im Heft bringen neue Aspekte ins Spiel: So den medienethischen und –rechtlichen Blick von Dominique Strebel, die sehr lebensnahe Perspektive eines jungen Betroffenen und die Einschätzungen des ehemaligen Luzerner Polizeikommandanten Beat Hensler, der die Internetfahndung als erster im Hooligan-Umfeld eines Fussballspiels eingesetzt hat.
- «Das Strafverfolgungsinteresse überwiegt nicht immer über den Schutz der Privatsphäre»
Interview mit Dominique Strebel, Jurist / Journalist, aus: Fanarbeit Schweiz, Jahresbericht 2015 (pdf, 4 S.) - «Zuerst herrschte Panik …»
Interview mit einem Betroffenen, aus: Fanarbeit Schweiz, Jahresbericht 2015 (pdf, 2 S.) - «Natürlich hat das Ganze eine Prangerwirkung»
Interview mit Beat Hensler, ehemaliger Luzerner Polizeikommandant, aus: Fanarbeit Schweiz, Jahresbericht 2015 (pdf, 3 S.)
Zivilisierung des Prangers
Als Schlussfolgerung fasst die Redaktion des Hefts einige Empfehlungen zusammen. Die Internetfahndung soll an strengere Voraussetzungen geknüpft werden, weil sie einen schweren Eingriff in das soziale Leben und in verschiedene Grundrechte der Betroffenen darstellt. Fanarbeit Schweiz fordert insbesondere:
- eine einheitliche Regelung in der eidg. Strafprozessordnung
- einen klar umrissenen Deliktkatalog mit Berücksichtigung der Schwere der Tat im Einzelfall
- eine vorgängige richterliche Überprüfung der Verhältnismässigkeit der Massnahme
- Massnahmen zur Reduzierung von Pannen
- Massnahmen zur Gewährleistung des Rechts auf Vergessen
- eine öffentliche Auswertung von allen Internetfahndungen
Die Umsetzung dieser Massnahmen würde voraussichtlich das Risiko von Grundrechtsverletzungen im Zusammenhang mit Internetfahndungen deutlich verringern.
- Anpassungsvorschläge
von Senad Gafuri, aus: Fanarbeit Schweiz, Jahresbericht 2015 (pdf, 2 S.)
Dokumentation
- Um Hinweise aus der Bevölkerung wird gebeten - Internetfahndung in der Schweiz
Jahresbericht 2015 von Fanarbeit Schweiz / Suisse / Svizzera (ganzes Heft, pdf, 36 S.)