07.06.2021
Der Bundesrat will den Strafverfolgungsbehörden mittels sogenannter «Phänotypisierung» zukünftig erlauben, Augen-, Haar- und Hautfarbe sowie die «biogeografische» Herkunft und das biologische Alter aus DNA-Spuren herauszulesen. Neben einigen anderen Problemen besteht durch die Gesetzesvorlage insbesondere die Gefahr der institutionellen Diskriminierung von Minderheiten in der Schweiz.
Gastkommentar von grundrechte.ch
Am 04. Dezember 2020 hat der Bundesrat seine Botschaft zur Änderung des DNA-Profil-Gesetzes zuhanden des Parlaments verabschiedet. Die Gesetzesvorlage wurde von der Sicherheitspolitischen Kommission des Nationalrates am 23. Februar 2021 mit 18 zu 4 Stimmen bei 3 Enthaltungen angenommen. Auch der Nationalrat stimmte der Vorlage am 4. Mai 2021 mit 125 zu 54 Stimmen und 12 Enthaltungen zu. Der Bundesrat ist der Meinung, dass mit dem Gesetzesentwurf den Ermittlungsbehörden ein modernes, den neuesten technischen Entwicklung angepasstes Instrument in die Hände gegeben wird, um die «Ermittlungsarbeiten rascher und fokussierter zu gestalten».
Die neue Regelung sieht vor, dass aus «tatrelevantem biologischen Material (Spur)» Erkenntnisse «über äusserliche sichtbare Merkmale der Spurenlegerin oder des Spurenlegers gewonnen werden» können (Art. 1 Bst. a Ziff. 1 i.V.m. Art. 2b Abs. 1 E-DNA-Profil-Gesetz). Demnach dürfen die Strafverfolgungsbehörden zukünftig anhand von «speziellen DNA-Marker» aus der DNA-Spur die «Augen-, Haar- und Hautfarbe, die biogeografische Herkunft und das Alter» herauslesen (Art. 2b Abs. 1 Bst. a-c E-DNA-Profil-Gesetz).
Dies ist ein Paradigmenwechsel zum bisherigen Verfahren, bei welchem durch die Analyse gewisser Bereiche der DNA für jede Person ein charakteristisches DNA-Profil erstellt wird. Dieses wird als simpler Zahlencode dargestellt und kann verglichen werden – analog dem Fingerabdruck. Aktuell ist neben dem DNA-Profiling nur die Ermittlung des chromosomalen Geschlechts erlaubt.
Da die DNA den gesamten Bauplan unseres Körpers enthält, kann jedoch mit einem gewissen Grad an Wahrscheinlichkeit aus dem Erbgut auch auf das Aussehen einer Person geschlossen werden. Anhand der Phänotypisierung ginge es zukünftig nicht mehr einfach um den Vergleich von Zahlenreihen, sondern um den Zugriff auf die gesamte Erbinformation eines Menschen. Dabei fallen zwangsläufig sensible «Überschussinformationen», wie etwa zum Gesundheitszustand oder zu Krankheitsveranlagungen der Spurenleger*innen an. Im Unterschied zu heute geht es nicht mehr um die Zuordnung einer Tatortspur zu einer tatverdächtigen Person, sondern darum, aus der Tatortspur das potenzielle «Aussehen» der gesuchten Person zu bestimmen und diese Erkenntnis in den Ermittlungen und der Fahndung einzusetzen.
Eine altbekannte Debatte
Die DNA-gestützte Vorhersage des Erscheinungsbildes einer Person ist nicht neu. Bereits im Jahr 2002 konnte mit dieser Methode der «Baton Rouge Mörder» in den USA anhand einer Tatortspur gefasst werden. Nachdem die Polizei aufgrund von Zeugenaussagen zuerst nach einem hellhäutigen Mann gefahndet hatte, ergab die Analyse der DNA, dass es sich wahrscheinlich um einen dunkelhäutigen Täter handelte.
Der Bundesrat wollte sich bereits 2002 bei der Beratung des DNA-Profil-Gesetzes die Möglichkeit offenhalten, dass die Strafverfolgungsbehörde «ausnahmsweise […] für die Aufklärung von Verbrechen […] zur Identifizierung der Täterschaft oder zur Beweisführung» auf die codierten Abschnitte der DNA zugreifen kann. In der parlamentarischen Debatte hielt der damalige FDP-Nationalrat Felix Gutzwiller fest, dass die Kommission dieses «Türchen […] zu Recht zugemacht» habe. Zu gross waren die grundrechtlichen Bedenken eines gläsernen Menschen, welcher vom überwachenden Staat vollständig durchleuchtet wird.
Im Jahr 2015 kam die Phänotypisierung in der Folge des «Vergewaltigungsfalls von Emmen» wieder auf die politische Agenda. FDP-Nationalrat Albert Vitali reichte im selben Jahr eine Motion mit dem Titel «Kein Täterschutz für Mörder und Vergewaltiger» ein und forderte die Phänotypisierung gesetzlich zu erlauben – die Motion wurde vom National- und Ständerat angenommen und findet nun in der vorliegenden Gesetzesrevision ihren Abschluss.
Phänotypisierung: Eine Verletzung des Rechts auf Privatsphäre
Das Grund- und Menschenrecht der informationellen Selbstbestimmung gewährleistet die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden (Art. 13 Abs. 2 BV, Art. 8 EMRK und Art. 17 UNO-Pakt II). Das Bundesgericht qualifiziert das Erstellen eines DNA-Profils in konstanter Rechtsprechung als leichten Grundrechtseingriff, da in diesem Fall nur jene Bereiche auf der DNA untersucht werden, die keine persönliche Eigenschaft der betroffenen Person preisgeben (BGE 128 II 259, E.3.3.). Aufgrund der Fülle an Informationen, die Zellproben über den einzelnen Menschen besitzen, ist die Phänotypisierung im Gegensatz zur DNA-Profilerstellung jedoch klar als schwerer Grundrechtseingriff zu bewerten. Diese Differenzierung anhand der Methode und der Informationsfülle nimmt auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte vor, um die Zulässigkeit des Eingriffs in das Recht auf Privatleben zu beurteilen (vgl. S. und Marper gegen Vereinigtes Königreich, Ziff. 72-75, 86, 120; Aycaguer gegen Frankreich, Ziff. 33.).
Das Bundesgericht hat den Kerngehalt der Privatsphäre in der Bundesverfassung bisher nicht definiert. Anders das deutsche Bundesverfassungsgericht: Es sieht den absoluten geschützten Kernbereich dann als betroffen, wenn die «Eingriffsermächtigung» über den nicht-codierenden – zu etwa 30 Prozent aus Wiederholungseinheiten besehenden – Anteil der DNA hinaus geht, die DNA für mehr als nur zur Identitätsfeststellung verwendet und das Genmaterial nach der Identifizierung nicht vernichtet wird (BVerfGE 103, 21, Absatz 48.). Die nationale und europäische Rechtsprechung macht damit deutlich, dass es sich beim Zugriff auf die komplette Erbinformation um einen Eingriff in den Kerngehalt von Artikel 13 der Bundesverfassung handeln muss. Die Schwere des Eingriffs qualifiziert sich dabei nicht nur anhand der Informationen, die gewollt oder ungewollt anfallen, sondern ebenso an der Methode – mithin dem Weg der Informationsgewinnung.
Falsche Vorstellung der «äusseren Merkmale»
Der Bundesrat sieht gemäss seiner Botschaft ans Parlament keine Probleme für den Schutz der Privatsphäre, die mit der Phänotypisierung einhergehen. Dies begründet er damit, dass die Erkenntnisse aus der Phänotypisierung erstens immer nur personengruppenspezifisch seien – weil das DNA-Material am Tatort im Zeitpunkt der Auswertung nicht einer bestimmten Person zugeordnet werden könne – und zweitens mit der Phänotypisierung nur Merkmale ausgewertet würden, die sowieso «äusserlich sichtbar seien» (Botschaft zur Änderung des DNA-Profil-Gesetzes, S. 73).
Die Feststellungen des Bundesrates sind in mehrfacher Hinsicht falsch und höchst problematisch. Ziel der Auswertung einer Tatortspur ist immer die Ermittlung der verantwortlichen Person. Jede erfolgreich durchgeführte «Phänotypisierung» führt damit zwangsweise zu einem identifizierten genetischen Datensatz – ausser, die Ermittlungen bleiben erfolglos.
Zudem entsprechen ermittelte DNA-Werte nicht zwingend dem äusseren Erscheinungsbild einer Person. Die Phänotypisierung soll unter anderem zur Bestimmung des biologischen Alters verwendet werden, die Altersbestimmung über das Aussehen hat jedoch nichts mit der Altersbestimmung über die DNA gemeinsam. Erstere ist stark von Umweltfaktoren und vom Gesundheitszustand einer Person abhängig. So liegt das Alter von Personen mit früh auftretender Alzheimererkrankung gemäss DNA im Schnitt zehn Jahren über ihrem «tatsächlichen» Alter. Die Strafverfolgungsbehörde bestimmt anhand der Phänotypisierung also nicht das Alter im Pass, sondern trifft eine Aussage über den Alterungsprozess der DNA.
Die Phänotypisierung soll darüber hinaus zur Bestimmung der biogeografischen Herkunft zum Einsatz kommen. Die Feststellung des Bundesrates macht deutlich, wie tief die Vorstellung in der Gesellschaft verankert ist, dass es zwischen Aussehen und Herkunft einen Zusammenhang geben muss. Diese Vermischung von Aussehen, Ethnizität und Herkunft produziert rassifizierende Aussagen. Bei der Bestimmung der biogeografischen Herkunftsanalyse handelt es sich aber vielmehr um eine über mehrere Generationen durchgeführte Ahnenforschung, da durch Vererbung bestimmte Merkmale von den Vorfahren weitergeben werden und gewisse DNA-Fragmente daher in bestimmten Regionen häufiger vorkommen.
Die Untersuchung der DNA auf biogeografische Herkunft hat nichts mit der ethnischen Zugehörigkeit zu tun und sagt absolut nichts über das Aussehen einer Person aus. Gefährlich wird die Phänotypisierung in diesem Zusammenhang insbesondere dann, wenn eine individuelle DNA-Probe einer der sechs Weltregionen zugeschrieben wird und damit das Bild von klar definierten, rassistischen Zuschreibungen und Vorstellungen konstruiert werden.
Fahndung nach dem «Fremden»
Der Bundesrat verneint in seiner Botschaft, dass die Phänotypisierung eine Diskriminierung oder Racial Profiling zur Folge haben könne. Seiner Auffassung nach handelt es sich bei der Methode und insbesondere bei der Bestimmung der biogeografischen Herkunft um ein «wissenschaftliches, also wertneutrales Analyseverfahren». Es fände im Zeitpunkt der Analyse keine «Vorselektion zuungunsten einer bestimmten Population» statt (Botschaft zur Änderung des DNA-Profil-Gesetzes, S. 33).
Damit verkennt der Bundesrat die Diskriminierungsproblematik gänzlich. Mit der Phänotypisierung von DNA-Tatortspuren wird die institutionelle Diskriminierung von Minderheiten in der Schweiz verstärkt. Denn die Aussage «Hautfarbe: weiss; Herkunft: Europa» bietet in einer europäisch weissen Mehrheitsgesellschaft keinen Ansatz für eine Fahndung. Bei Minderheitenangehörigen besteht hingegen eine höhere Wahrscheinlichkeit für die Identifikation und sie rücken damit in den Fokus von Ermittlungen. Die Polizeiarbeit konzentriert sich folglich auf Menschen, die als «fremd» wahrgenommen werden.
Die auf die Abstammung abzielende Erfassung von Erbinformationen im Rahmen der Strafverfolgung birgt die Gefahr von Stereotypisierung, Diskriminierung und Genetic Racial Profiling. Die Phänotypisierung verstösst damit eindeutig gegen grundlegende Prinzipien des Europäischen Rahmenabkommens zum Schutz nationaler Minderheiten (Art. 1 bis 3) und des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von rassistischen Diskrimierungen (Art. 2 Abs.1).Neue Technologien bringen grosse Verantwortung mit sich
Sollte das Parlament die Türe zum «gläsernen Menschen» nicht wieder schliessen, muss es seinen gesetzgeberischen Verpflichtungen nachkommen und das Gesetz in einigen wichtigen Punkten nachbessern, um eine verhältnismässige und diskriminierungsfreie Anwendung in der Praxis zu garantieren (Art. 5, Art. 36 und 164 BV), insbesondere in folgenden Bereichen:
- Die Phänotypisierung muss sich auf tatsächliche «äussere Merkmale» beschränken und die Bestimmung des Alters und der biogeografischen Herkunft ausklammern. In dem Sinne hat auch Deutschland jüngst auf die Verwendung der Phänotypisierung für die Bestimmung der biogeografischen Herkunft verzichtet;
- Die Phänotypisierung darf nur für in einem Deliktskatalog aufgeführte schwerste Verbrechen zur Anwendung kommen, so wie es eine knappe Minderheit der vorberatenden Kommission vorgeschlagen hat. Diese Praxis wird auch in den Niederlanden praktiziert;
- Der Grundsatz der Subsidiarität muss explizit im Gesetz verankert werden: Die Phänotypisierung darf nur zur Anwendung kommen, wenn die bisherigen Untersuchungshandlungen erfolglos geblieben sind oder die Ermittlungen sonst aussichtslos wären oder unverhältnismässig erschwert würden;
- Die Erkenntnisse, welche eine Phänotypisierung zu Tage bringt, dürfen weder im Rahmen einer Öffentlichkeitsfahndung publiziert noch im Polizeifahndungssystem RIPOL gespeichert werden;
- Es braucht eine klare Regelung dafür, wie mit «Überschussinformationen» – jenen Erkenntnissen, die nicht die äusseren Merkmale der Person betreffen ¬– bei der DNA-Analyse durch die Labore umgegangen werden soll. Wie diese vermieden werden können, dass eine Pflicht zu deren Löschung besteht und keine Informationen dazu aus den Laboren an die Behörden weitergeleitet werden dürfen.
In einer demokratischen und freiheitlichen Gesellschaft sollte der Einsatz moderner wissenschaftlicher Techniken nicht um jeden Preis und nicht ohne sorgfältige Abwägung zugelassen werden. Zu der damit einhergehenden Verantwortung hält der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte deutlich fest: «Tout Etat qui revendique un rôle de pionnier dans l’évolution de nouvelles technologies porte la responsabilité particulière de trouver le juste équilibre en la matière» – Jeder Staat, der bei der Entwicklung neuer Technologien eine Vorreiterrolle für sich beansprucht, trägt auch eine besondere Verantwortung, die notwendige Sorgfalt walten zu lassen (S. und Marper gegen Vereinigtes Königreich, Ziff. 112 ff.).
Zusätzliche Informationen
- Erweiterte DNA-Analysen: Technische Aufrüstung mit rassistischen Verwicklungen
Artikel von CILIP, 8. September 2017 - Neue Anwendungen der DNA-Analyse: Chancen und Risiken. Interdisziplinäre Technikfolgenabschätzung
Studie in der TA-SWISS Publikationsreihe vom November 2020 - Vernehmlassungsantwort zum Bundesgesetz über die Verwendung von DNA-Profilen
DJS und grundrechte.ch, 27. November 2019 - Verbotener function creep. Biogeographische Herkunftsinformation im Spannungsfeld forensischer DNA-Analysen, polizeilicher Ermittlung und rechtlicher Vorgaben.
Kriminologisches Journal, Ausgabe 2 2021, Seite 86-104 - Factsheet Rechtsprechung des EGMR zum Schutz personenbezogener Daten
Press Unit EGMR, Mai 2021 - Forensische DNA-Analyse: So viel wie nötig, so wenig wie möglich?
Martin Ziegler im Jusletter vom 12. Oktober 2021