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Aufhebung vorläufiger Aufnahmen: Das Verhältnismässigkeitsprinzip muss beachtet werden

28.04.2021

Bei der periodischen Überprüfung der vorläufigen Aufnahme von Ausländer*innen in der Schweiz hat das Staatssekretariat für Migration (SEM) das Verhältnismässigkeitsprinzip zu beachten. Zu diesem Schluss kommt das Bundesverwaltungsgericht in einem Grundsatzurteil. Im Konkreten Fall hat die Migrationsbehörde durch die Aufhebung der vorläufigen Aufnahme das Verhältnismässigkeitsprinzip verletzt: Das Interesse des Beschwerdeführers am Verbleib in der Schweiz überwiege dem öffentlichen Interesse an seiner Abschiebung.

In einem Urteil vom 28. Oktober 2020 hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass für die periodische Überprüfung der vorläufigen Aufnahme andere Kriterien massgebend sind, als für die erstmaligen Gewährung des F-Status. Insbesondere der Grad der Integration – im konkreten Fall eines eritreischen Staatsangehörigen – ist hierbei entscheidend. Bei der periodischen Überprüfung ist zudem immer eine umfassende Interessenabwägung vorzunehmen, auch wenn die Voraussetzungen für den Vollzug der Wegweisung nach Artikel 83 Absatz 2 und 4 des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG) erfüllt sind. Künftig müssen die Migrationsbehörden demnach die augenblickliche Situation der vorläufig aufgenommenen Personen, welche sich mit der Zeit stark verändern kann, bei der periodischen Überprüfung stärker berücksichtigen.

Würdigung der Integrationsbemühungen

Das Bundesverwaltungsgericht ist auf die Beschwerde eines jungen Eritreers eingetreten, der 2015 kurz nach seiner Volljährigkeit in die Schweiz kam, um sich der Wehrpflicht in Eritrea zu entziehen. Das Staatssekretariat für Migration verweigerte dem Beschwerdeführer damals den Status eines anerkannten Flüchtlings und lehnte seinen Asylantrag ab. Es gewährte ihm unter Berücksichtigung der Lage in Eritrea und seiner persönlichen Situation jedoch die vorläufige Aufnahme. Gestützt auf ein Urteil aus dem Jahr 2017 (BVG-Urteil D-2311/2016, E. 17.2), in welchem das Bundesverwaltungsgericht die «erhöhten Anforderungen an den Wegweisungsvollzug» nach Eritrea aufhob, widerrief das Staatssekretariat für Migration jedoch seine Aufenthaltsbewilligung F und ordnete im Jahr 2019 die Wegweisung an.

Vor dem Bundesverwaltungsgericht konnte das Staatssekretariat für Migration mit diesem Vorgehen nicht überzeugen. In seinen Erwägungen weist das Gericht darauf hin, dass die Prüfung zur Aufhebung der vorläufigen Aufnahme nicht mit der Prüfung für die erstmalige Genehmigung des F-Status gleichgesetzt werden kann: Der Verlust der Aufenthaltsgenehmigung führt zu einschneidenden Veränderungen für die Betroffenen, welche sich zum Teil seit vielen Jahren rechtmässig in der Schweiz aufhalten und hier ein Leben aufgebaut haben. Etwa müssen sie sich bei Verlust des F-Status der Nothilfe unterwerfen. Das Gericht stellt klar, dass eine vorläufige Aufnahme auch bei Wegfall aller (früheren) Vollzugshindernisse (Art. 83 Abs. 2 bis 4 AIG) nur aufgehoben werden kann, wenn sich die Wegweisung gleichzeitig auch als verhältnismässig erweist. Die Migrationsbehörde müsse deshalb immer zwischen dem öffentlichen Interesse an der Durchsetzung der Wegweisung einerseits und dem persönlichen Interesse an Verbleib in der Schweiz andererseits abwägen. Bei der Interessensabwägung sei dem Integrationsgrad der asylsuchenden Person und möglichen Schwierigkeiten bei einer Rückkehr in das Herkunftsland besondere Beachtung zu schenken.

Im konkreten Fall stellt das Gericht fest, dass der Beschwerdeführer seit seiner Ankunft im Kanton Waadt mit grossem Eifer Französischkurse besucht habe und eine Ausbildung anstrebte. Nach Praktika und temporären Jobs habe er im August 2019 eine Lehre als Elektriker begonnen. Alle Zeugnisse und Zertifikate zeigten, dass er hoch motiviert sei und geschätzt würde. Das Gericht hebt hervor, dass der junge Mann sich fünf Jahre lang «in besonderem Masse um eine Ausbildung und einen schnellen Einstieg in den Arbeitsmarkt» bemüht habe. Die Aufhebung seines Aufenthaltsstatus würde alle seine Bemühungen zunichtemachen. Ausserdem sei der Beschwerdeführer nicht wegen einer Straftat verurteilt oder strafrechtlich verfolgt worden und habe sich in keiner Weise verhalten, die mit der öffentlichen Ordnung der Schweiz unvereinbar sei. Das Bundesverwaltungsgericht kommt zum Schluss: Das Interesse des Beschwerdeführers am Verbleib in der Schweiz überwiegt dem öffentlichen Interesse an seiner Rückführung. Der Entscheid ist endgültig und kann vor Bundesgericht nicht mehr angefochten werden.

Urteil setzt der Praxis des SEM Grenzen

Das Staatssekretariat für Migration überprüft periodisch, ob eine Person die gesetzlichen Auflagen für ihre vorläufige Aufnahme noch erfüllt (Art. 83 Abs. 2 bis 4 AIG). Ist dies im Einzelfall nicht mehr gegeben, kann die Behörde die vorläufige Aufnahme aufheben und den Vollzug der Wegweisung anordnen (Art. 84 Abs. 2 AIG). Nach ständiger Rechtsprechung darf eine vorläufige Aufnahme grundsätzlich nur dann aufgehoben werden, wenn die Vollstreckung der Wegweisung rechtmässig ist und die Rückkehr in das Herkunftsland zumutbar. Es liegt in der Verantwortung der Migrationsbehörde zu überprüfen, ob die genannten Bedingungen kumulativ erfüllt sind.

Nachdem das Bundesverwaltungsgericht im Jahr 2017 die Rückführung von Eritreer*innen in ihr Herkunftsland unter bestimmten Voraussetzungen wieder für rechtmässig erklärt hatte, kündigte das SEM prompt an, den Status von 2’800 vorläufig aufgenommenen eritreischen Staatsangehörigen erneut zu prüfen – Im Rahmen eines Pilotprojektes wären bereits 250 Eritreer*innen überprüft worden. In Erfüllung einer Motion aus dem Jahr 2018 erstellte der Bundesrat schliesslich einen Bericht zur Überprüfung von vorläufigen Aufnahmen wegen Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs durch das Staatssekretariat für Migration. Aus dem Bericht des Bundesrates geht hervor, dass das Staatssekretariat für Migration in 5,2 Prozent der untersuchten Fälle zu dem Schluss kam, dass die Aufhebung von Zulassungen verhältnismäßig und rechtlich vertretbar war. In allen anderen untersuchten Fällen war eine Aufhebung der vorläufigen Aufnahme nicht möglich: Entweder wurde die Rückkehr der Betroffenen nach Eritrea nach wie vor nicht als sinnvoll erachtet oder die Aufhebung der vorläufigen Aufnahme als Verstoss gegen den Grundsatz der Verhältnismässigkeit erachtet.

Das neue Grundsatzurteil des Bundesverwaltungsgerichtes setzt der Praxis des SEM nun wieder stärkere Grenzen. Indem es eine umfassende Interessenabwägung und die Berücksichtigung der aktuelle Situation der Betroffenen vorschreibt, bekräftigt es die Tatsache, dass die Aufhebung einer vorläufigen Aufnahme nur unter strengen Voraussetzungen zulässig ist.

Eritreer*innen weiterhin stark bedroht

Obwohl das Bundesverwaltungsgericht der restriktiven Praxis des SEM Grenzen setzt, kommt es in seinem Grundsatzurteil auch zum Schluss, dass die allgemeine Menschenrechtssituation in Eritrea kein Hindernis für eine Abschiebung ist. Wie bereits in seinem Urteil vom August 2017, weist das Gericht darauf hin, dass sich die Lebensbedingungen in Eritrea in den letzten Jahren – insbesondere im Hinblick auf den Zugang zu Bildung, Trinkwasser, Nahrung und medizinischer Grundversorgung – erheblich verbessert haben.

Die Realität sieht jedoch anders aus. Das Observatoire romand du droit d’asile et des étrangers (ODAE) kritisiert in einem Dossier die Vorgehensweise der Migrationsbehörde und des Bundesverwaltungsgerichtes, welche die Möglichkeiten für Wegweisungen nach Eritrea immer weiter öffnen, während sich die Menschenrechtslage in Eritrea keineswegs verbessere. In einem Bericht zur Menschenrechtslage in Eritrea wies die Sonderberichterstatterin des UNO-Menschenrechtsrates noch 2018 auf das «düstere Bild» der Menschenrechtssituation in Eritrea hin. Im selben Jahr stellt der UNO-Ausschuss gegen Folter fest, dass die Schweiz mit der Rückführung eines eritreischen Staatsangehörigen nach Eritrea gegen das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe verstossen hat. Während der Bundesrat behauptet, Entscheide zur Aufhebung von vorläufigen Aufenthalten würden stets «im Einklang mit der Bundesverfassung und der Antifolterkonvention» stehen, bleibt die Praxis des Staatssekretariats für Migration diesbezüglich aus menschenrechtlicher Perspektive höchst problematisch. Zahlreiche Berichte internationaler Organisationen weisen auf die Gefahr der Rekrutierung in die Armee und die unmenschliche Behandlung von eritreischen Asylbewerber*innen im Falle ihrer Rückkehr hin. Durch die Flucht – die gleichgestellt wird mit Opposition gegen das eritreische Regime – werden sie zur Zielscheibe staatlicher Verfolgung und laufen Gefahr, unterdrückt zu werden.

Doch solange Eritrea Zwangsrückführung ablehnt, dürfen auch Personen, deren vorläufige Aufnahme aufgehoben wurde, nicht ausgeschafft werden. Die Aufhebung der vorläufigen Aufnahme zwingt die Betroffenen daher ins Nothilfesystem, welches kein menschenwürdiges Dasein ermöglicht. Im konkreten Fall hätte die Aufhebung des F-Status des Beschwerdeführers auch bedeutet, dass er in der Schweiz mit einem Arbeitsverbot belegt worden wäre, wodurch er jegliche Perspektive verloren hätte. Dieses Schicksal droht allen Eritreer*innen, deren vorläufige Aufnahme nicht verlängert wird.

Auch wenn die Behörden eine vorläufige Aufnahme gewähren oder fortsetzen, führt diese jedoch nicht zur Aufhebung der Ausreiseverpflichtung. Sie ist lediglich eine Ersatzmassnahme für einen undurchführbaren Wegweisungsvollzug. Die Wegweisung darf nicht vollstreckt werden, es sei denn, die Person kehrt freiwillig nach Eritrea zurück. Die Lebensbedingungen von vorläufig aufgenommenen Menschen in der Schweiz sind dementsprechend schlecht. So sind vorläufig Aufgenommene in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt und auf dem Arbeitsmarkt stark benachteiligt.  Bedenken, welche die Zivilgesellschaft seit langer Zeit immer wieder anbringt. Doch wie die jüngsten Absichten des Bundesrates verdeutlichen, wird sich die Situation der Betroffenen in naher Zukunft nicht verbessern.

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