23.11.2013
Am 20. November 2013 hat der Bundesrat entschieden, dem Parlament zu beantragen, die SVP-Durchsetzungsinitiative für teilweise ungültig zu erklären. Folgender Satz im Initiativtext soll nicht zur Abstimmung kommen: «Als zwingendes Völkerrecht gelten ausschliesslich das Verbot der Folter, des Völkermords, des Angriffkrieges, der Sklaverei sowie das Verbot der Rückschiebung in einen Staat, in dem Tod oder Folter drohen.» Diese enge Definition des zwingenden Völkerrechts erachtet der Bundesrat als nicht sachgerecht und zu einengend. So würde das zwingende Völkerrecht auch Ausschaffungen verbieten, wenn eine grausame oder unmenschliche Behandlung im Zielstaat drohen. Auch gehörten zum zwingenden Völkerrecht die Grundsätze des humanitären Völkerrechts sowie gewisse Verfahrensrechte.
- Durchsetzungsinitiative: Statement von Bundesrätin Simonetta Sommaruga
Medienkonferenz vom 20. Nov. 2013 - Rechtlich mangelhafte Durchsetzungsinitiative: Zwingendes Völkerrecht verletzende Staatsakte sind nicht durchsetzbar
NZZ online vom 20.11.2013
Missverständliches Zitat von humanrights.ch in der Berichterstattung
In der Berichterstattung zum Bundesratsentscheid haben die Tageszeitungen «Der Bund» und «Tages-Anzeiger» am 21. Nov. 2013 zur Stützung der SVP-Position aus einem älteren Artikel auf humanrights.ch einen Satz zitiert, wonach es der Schweiz unbenommen sei, «den Begriff «zwingendes Völkerrecht» eigenständig/autonom zu interpretieren, also mehr oder weniger Regeln darunter zu fassen».
Der Leiter der Informationsplattform humanrights.ch Alex Sutter hat dieses Zitat am 21. Nov. umgehend dementiert: «Das ist nicht so zu verstehen, dass die Schweiz auf landesrechtlicher Ebene den internationalen Minimalkonsens zum zwingenden Völkerrecht unterlaufen dürfte. Viel mehr wurde damit gemeint, dass die Schweiz das zwingende Völkerrecht weiter fassen darf als den internationalen Minimalkonsens, und innerhalb dieses Handlungsspielraums kann sie mehr oder weniger Regeln festlegen.» Dabei räumte Alex Sutter ein, dass für die Fehlinterpretation eine missverständliche Formulierung auf humanrights.ch verantwortlich gewesen sei, wofür er sich entschuldigte.
Ungeachtet dieser Klarstellung hat SVP-Nationalrat Adrian Amstutz in der TV-Sendung «Arena» vom 22. Nov. 2013 das Gerücht kolportiert, wonach humanrights.ch die Meinung vertreten würde, die Schweiz sei frei, das zwingende Völkerrecht nach eigenem Gutdünken in der Verfassung zu definieren.
Um jedes Missverständnis auszuräumen, sahen wir uns gezwungen, die missverständliche Formulierung im Artikel «Glossar zur Reform des Initiativrechts» zu tilgen und unsere Position zum zwingenden Völkerrecht nachstehend klarzustellen.
- Sommaruga sucht erneute die Kraftprobe mit der SVP
Artikel von Fabian Renz in «Der Bund» vom 21.11.2013 (pdf, 2 S.)
Überblick zum «zwingenden Völkerrecht»
Die aktuelle rechtliche Situation
Wird eine Volksinitiative bei der Bundeskanzlei eingereicht, kontrolliert diese die Gültigkeit der Unterschriften. Das Parlament entscheidet dann, ob diese Intiative gültig ist (Art. 173 Bst. f BV). Sie ist es gemäss Bundesverfassung (Art. 139 Abs. 3) nur, wenn sie den Grundsätzen der Einheit der Form und der Einheit der Materie entspricht und nicht gegen «zwingende Bestimmungen des Völkerrechts» verstösst. Dazu kommt ein viertes ungeschriebenes Kriterium, welches das Bundesgericht in seiner Rechtssprechung zu kantonalen Initiativen entwickelt hat, jenes der offensichtlichen Nicht-Durchführbarkeit.
In der gegenwärtigen Diskussion steht das Kriterium der «zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts» (auch «jus cogens» genannt) im Zentrum. Bisher hat das eidgenössische Parlament lediglich eine einzige Volksinitiative für ungültig erklärt, weil sie gegen zwingendes Völkerrecht verstiess, nämlich die Initiative «Für eine vernünftige Asylpolitik» der Schweizer Demokraten, 1996. Das Kriterium der «zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts» ist von besonderem Interesse, weil es juristischer und politischer Art ist.
- Für ungültig erklärte Volksinitiativen
Liste auf der Website des Bundes
«Jus cogens» im Wiener Abkommen über das Vertragsrecht
Das Wiener Abkommen über das Recht der Verträge (Art. 53) vom Jahr 1969 versteht unter «jus cogens» Regeln, die von der internationalen Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit angenommen und anerkannt werden als eine Norm, von der nicht abgewichen werden darf. Gemeint ist also ein Kern des Völkerrechts, der durch andere Verträge nicht abgeschwächt werden kann. Die inhaltliche Bestimmung dieses Kerns sollte aus der Praxis der Staaten sowie der Rechtssprechung internationaler Gerichte fliessen. Auf internationaler Ebene gibt es inhaltlich bisher keine präzise Eingrenzung, obwohl einige Teilgehalte des harten Kerns unbestritten sind.
Inhaltliche Festlegung des Bundesrats
Der Bundesrat hat seine Auffassung der «zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts» seit 1996 entwickelt und zum Beispiel in seinem Bericht «Das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht» S. 52-53 detailliert dargelegt. Etwas vereinfacht gesagt versteht der Bundesrat unter dem «zwingenden Völkerrecht»
- das zwischenstaatliche Gewaltverbot;
- die Verbote von Folter sowie grausamer oder unmenschlicher Behandlung oder Strafe (inkl. Non-Refoulement), des Völkermords und der Sklaverei;
- die Grundzüge des humanitären Völkerrechts (insb. das Verbot von Angriffen auf Leib und Leben, der Gefangennahme von Geiseln, der Beeinträchtigung der persönlichen Würde sowie von Verurteilungen und Hinrichtungen ohne vorhergehendes Urteil eines ordnungsmässig bestellten Gerichtes);
- die notstandsfesten Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention EMRK. Die notstandsfesten Garantien der EMRK umfassen nach Artikel 15 EMRK das Verbot willkürlicher Tötung (Art. 2 Abs. 1), der Folter (Art. 3), der Sklaverei, Leibeigenschaft und Zwangsarbeit (Art. 4 Abs. 1) sowie den Grundsatz «nulla poena sine lege» (keine Strafe ohne Gesetz, Art. 7).
- die notstandsfesten Garantien des UNO-Paktes über bürgerliche und politische Rechte. Darunter fallen gemäss Art. 4 Abs. 2 des UNO-Pakts II die folgenden Menschenrechte: das Recht auf Leben (Art. 6), das Verbot der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (Art. 7), das Verbot der Sklaverei und der Leibeigenschaft (Art 8 Abs. 1 u. 2), das Verbot der Schuldhaft (Art. 11), der Grundsatz «Keine Strafe ohne Gesetz» (Art. 15), das Prinzip der Rechtsfähigkeit der Person (Art. 16), die Religionsfreiheit (Art. 18).
Diese Umschreibung muss allerdings nicht als abschliessend und erschöpfend betrachtet werden. Es ist daran zu erinnern, dass es auch de facto «zwingendes Völkerrecht» gibt, insbesondere von der Schweiz ratifizierte internationale Abkommen, die unkündbar sind. Dies ist beim UNO-Pakt über bürgerliche und politische Rechte der Fall. Beim UNO-Pakt II ist das Szenario «künden und mit Vorbehalt neu ratifizieren» nicht nur politisch kaum vorstellbar (wie bei der EMRK), sondern auch juristisch unmöglich.
Die Auffassung des zwingenden Völkerrechts durch die Schweiz muss aber auch offen bleiben gegenüber der internationalen Rechtsentwicklung. Denn der internationale Minimalkonsens kann sich auch erweitern durch die internationale Rechtsprechung und andere Faktoren.
- Das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht
Bericht des Bundesrats vom 5. März 2010, BBl 2010 2263 - Europäische Menschenrechtskonvention EMRK
Dokumentation auf humanrights.ch - UNO-Pakt über bürgerliche und politische Rechte
Dokumentation auf humanrights.ch - Antwort des Bundesrats auf das Postulat der Nationalrätin Bea Heim (09.3118)
Website des Parlaments, 13. Mai 2009
Versuche einer einengenden Definition
Die SVP hatte bereits im Jahre 2009 eine parlamentarische Initiative eingereicht, welche bezweckte, die Bestimmungen des zwingenden Völkerrechts materiell klar unterhalb des vom Budesrat festgelegten Niveaus abschliessend fest zu schreiben. Sie wurde schon damals vom Nationalrat deutlich zurückgewiesen. Wenn nun die SVP denselben Ansatz in ihre Durchsetzungsinitiative eingebaut hat, ist es nur konsequent, dass der Bundesrat mit dem Antrag auf Teilungültigkeit entschieden dagegen Stellung nimmt.
- Nationalrat will zwingendes Völkerrecht nicht eng definieren
Artikel von humanrights.ch vom 1. Oktober 2010
Politische Instrumentalisierung der Debatte
Die TV-Diskussion «Arena» vom 22. Nov. 2013 hat in aller Deutlichkeit eine politische Fallgrube in der Debatte um das zwingende Völkerrecht offengelgt. Denn die anwesenden bürgerlichen Politiker, insbesondere die Parteipräsidenten von FDP und CVP, haben sich zwar zum einen für die unbedingte Geltung des zwingenden Völkerrechts ausgesprochen, haben aber im gleichen Zug die Geltung des «normalen» Völkerrechts mehr oder weniger explizit unter den mystifizierten «Volkswillen» herabgestuft.
Man steht also nur noch zu den notstandsfesten Elementen in der Europäischen Menschenrechtskonvention EMRK; die übrigen EMRK-Rechte werden zur Disposition bzw. unter den Vorbehalt von direktdemokratischen Verfassungsänderungen gestellt. Sollte diese Art Kurzschluss in den bürgerlichen Parteien um sich greifen, dann «Gute Nacht» für die Geltung der Grund- und Menschenrechte in der Schweiz: eine allfällige SVP-Initiative «Landesrecht vor Völkerrecht» hätte unter dieser Prämisse ein leichtes Spiel.
- Arena vom 22. Nov. 2013
- Politische Folgen der SVP-Polemik gegen den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
humanrights.ch vom 2.11.2013