30.11.2021
Viele Frauen werden jedes Jahr von den Steuerbehörden für die Steuerschulden ihrer (Ex-)Ehemänner belangt. Der Kanton Waadt ist einer der letzten Schweizer Kantone, der die solidarische Haftung der Eheleute für alle zum Zeitpunkt der Trennung noch offenen Steuerbeträge vorsieht. Alle vom Waadtländer Kantonsgericht verhandelten Fälle betrafen zur Solidarhaftung verpflichtete Frauen; trotzdem weigern sich bis anhin alle Schweizer Instanzen, die dadurch versursachte indirekte Diskriminierung zu anerkennen.
Frauen sind in der Schweiz mit zusätzlichen und geschlechterspezifischen Hürden konfrontiert. Diese gründen in gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Diskriminierung, sexistischen Vorurteilen, Geschlechterstereotypen und manchmal in den rechtlichen Rahmenbedingungen. Der Staat hat sich demgegenüber verpflichtet, alle Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht gleich zu behandeln (Art. 8 Abs. 3 BV, Art. 14 EMRK). Dieser verfassungsrechtliche Anspruch muss von allen staatlichen Behörden gewährleistet werden (Art. 35 BV).
Das Diskriminierungsverbot in der Bundesverfassung schützt auch vor indirekter Diskriminierung aufgrund des Geschlechts: Dem Anschein nach neutral formulierte Bestimmungen, welche in ihrer konkreten Anwendung dennoch negative Auswirkungen auf eine gleichgeschlechtliche Gruppe haben, ohne dass dies objektiv gerechtfertigt werden kann, sind unzulässig. Der Kanton Waadt verletzt diese verfassungsmässige Pflicht aufgrund seiner Gesetzgebung im Steuerbereich: Die im Gesetz über die direkten kantonalen Steuern verankerte uneingeschränkte Steuersolidarität zwischen Eheleuten und eingetragenen Partner*innen benachteiligt in der Praxis mehrheitlich Frauen. In Anbetracht der Steuerschulden ihrer (Ex-)Ehemänner oder Partner können die betroffenen Frauen in ernsthafte finanzielle Schwierigkeiten geraten. Damit führt die Praxis der Waadtländer Steuerbehörden zu einer indirekten Diskriminierung aufgrund des Geschlechts.
Von den neun Kantonen in der Schweiz, welche die Steuersolidarität bei Trennung der Eheleute noch nicht abgeschafft haben, führen nur Waadt und die beiden Appenzeller Halbkantone eine sehr restriktive Praxis. Die übrigen sechs Kantone – Neuenburg, Zürich, Solothurn, St. Gallen, Nidwalden und Graubünden – heben die steuerliche Solidarität bei Insolvenz einer der beiden Ehegatt*innen in der Praxis auf.
Unbegrenzte und rückwirkende Solidarität zwischen Eheleuten
Auf Bundesebene bedeutet die solidarische Haftung von Eheleuten für Steuerschulden, dass die beiden in einem gemeinsamen Haushalt lebenden Personen ihre (noch ausstehenden) Steuern solidarisch bezahlen (Art. 13 DBG). Die steuerliche Situation der Eheleute ändert sich jedoch, wenn sie sich trennen, einen getrennten Haushalt führen oder geschieden werden: Bei rechtlich oder tatsächlich getrennter Ehe entfällt die Solidarhaftung auch für alle noch offenen Steuerschulden (Art. 13 Abs. 2 DBG). Um der finanziellen Situation der*des finanziell schlechtergestellten Partner*in Rechnung zu tragen, beschränkt das Bundesgesetz über die direkte Bundessteuer (DBG) die Solidarhaftung von getrennt lebenden oder geschiedenen Ehegatt*innen auf ihren jeweiligen Anteil an der Gesamtsteuer.
Der Umgang mit Steuerschulden auf Kantonsebene hängt jedoch von der jeweiligen Gesetzgebung ab. Die grosse Mehrheit der Schweizer Kantone – alle Westschweizer Kantone mit Ausnahme des Kantons Waadt – haben das Bundesrecht übernommen, indem sie die Eheleute von der solidarischen Haftung für alle zum Zeitpunkt der Trennung noch ausstehenden Steuerbeträge befreien und/oder vorsehen, dass die Eheleute nur für ihren Anteil an der Gesamtsteuer haften. Der Kanton Waadt sieht demgegenüber eine unbegrenzte und rückwirkende Solidarität zwischen Eheleuten und Personen in einer eingetragenen Partnerschaft (Art. 9a Abs. 1 LIVD) für Steuerschulden vor, die vor der Trennung entstanden sind (Art. 14 LIVD). Wenn also die Person mit dem höheren Einkommen und Vermögen ihre Steuerschuld nicht bezahlt, muss der*die finanziell schwächere Ehepartner*in die gesamten Steuern bezahlen, welche das Paar vor der Trennung geschuldet hat.
Die Waadtländer Steuergesetzgebung belastet den*die Ehepartner*in mit dem niedrigeren Einkommen schwer – und das betrifft mehrheitlich Frauen. Gemäss den Daten des Bundesamtes für Statistik arbeiten 80 Prozent der Männer in einer Ehe mit Kindern Vollzeit, während 70 Prozent der Frauen entweder Teilzeit arbeiten oder kein Einkommen haben. Es überrascht in dem Sinne nicht, dass die vor Gericht behandelten Fälle im Zusammenhang mit der Waadtländer Praxis ausschliesslich Frauen betrafen, welche in Solidarität für die Steuerschulden ihrer Ex-Männer herangezogen wurden – und das Steuergesetz in seiner Umsetzung damit vorwiegend Frauen benachteiligt.
Diesen Umstand hat das Waadtländer Kantonsgericht sogar selbst anerkannt: Bei verheirateten Paaren sei der Steueranteil, welcher durch die Erwerbstätigkeit von Frauen generiert werde, im Allgemeinen niedriger als derjenige von Männern. Damit sei im Falle der Insolvenz das Risiko für Frauen, mehr als ihren Steueranteil zahlen zu müssen, grösser als für Männer. In diesem Zusammenhang hat das Bundesgericht vor langer Zeit festgelegt, dass die gemeinsame Veranlagung der Eheleute nicht zu einer Überbesteuerung aufgrund der Ehe führen darf. Dies würde zu einer nicht zu rechtfertigenden Diskriminierung aufgrund des Familienstandes führen.
Beschwerden systematisch abgewiesen
Seit vielen Jahren gelangen Frauen in der Schweiz vergeblich vor Gericht, um die Entscheidungen der Waadtländer Steuerbehörde und ihren Status als Solidarschuldnerinnen anzufechten – auf kantonaler Ebene (vgl. RDAF 1997 II, FI.1997.0061, FI.2005.0015, FI.2007.0106, FI.2017.0049) wie auch vor Bundesgericht (vgl. BGE 122 I 139, BGer 2P.201/2005, BGer 2C_723/2015).
Die Waadtländer Gerichte anerkennen zwar, dass das kantonale Gesetz über die direkten kantonalen Steuern von der Bundesgesetzgebung abweicht, es stimme jedoch mit den Grundsätzen der Verfassung überein. Die kantonale Rechtsprechung brachte zusätzliche Besonderheiten hervor: In einem Urteil aus dem Jahr 2018 bestätigte das Waadtländer Kantonsgericht einen Entscheid der Steuerverwaltung, wonach sie einen Antrag zur Aufhebung der Steuersolidarität bei der direkten Bundessteuer guthiess, diesen jedoch in Bezug auf die Kantons- und Gemeindesteuern ablehnte (Erw. 1).
Das Bundesgericht anerkennt bis anhin in der Waadtländer Rechtsprechung keine Verletzung verfassungsmässiger Rechte. Im Jahr 2016 brachte eine Beschwerdeführerin am Bundesgericht vor, dass die Waadtländer Behörden gegen das Diskriminierungsverbot der Verfassung (Art. 8 Abs. 2 BV) verstiessen, wonach niemand aufgrund des Geschlechts diskriminiert werden darf. Der Grossteil der Personen, die von der Aufrechterhaltung der Steuersolidarität nach der Scheidung der Eheleute betroffen sind, seien nämlich Frauen – deren Durchschnittseinkommen in der Schweiz niedriger sei als das der Männer. Das Bundesgericht stellte fest, dass die Einkommen von Frauen insgesamt tatsächlich niedriger sind und die Wahrscheinlichkeit von Zahlungsausfällen bei Männern deutlich höher (Erw. 4.3). Dennoch wies es die Beschwerde ab: Die Ungleichbehandlung, auf die sich die Beschwerdeführerin berufe, bestehe in gleicher Weise und unabhängig davon, ob das Paar einen gemeinsamen Haushalt führe, getrennt lebe oder geschieden sei. Es würden nur die Steuerschulden berücksichtigt, die während des Zusammenlebens des Paares entstanden seien. Unter diesen Umständen würden die von der Beschwerdeführerin geforderten Beträge nicht auf einer indirekten Diskriminierung von Frauen aufgrund des Waadtländer Steuergesetzes beruhen, sondern seien eine Folge der vom Bundesgesetzgeber festgelegten gemeinsamen Besteuerung der Eheleute. Es sei jedoch nicht ausgeschlossen, dass der Bundesrat demnächst eine Reformvorlage zu diesem Thema ausarbeiten würde.
Ein neues Urteil des Bundesgerichts vom 16. Juni 2021 schliesst sich ein weiteres Mal den Schlussfolgerungen der Waadtländer Gerichte an und verneint die indirekte Diskriminierung von Frauen durch die Steuergesetzgebung im Kanton Waadt.
Statistiken verweigert
Eine indirekte Diskriminierung ist rechtlich dann nicht hinnehmbar, wenn statistisch nachgewiesen werden kann, dass eine Bestimmung oder Massnahme eine Gruppe von Personen zahlenmässig häufiger benachteiligt als andere und dass die Ungleichbehandlung ein bestimmtes Mass an Intensität erreicht.
Gemäss der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) muss die Person, welche sich über mittelbare Diskriminierung beschwert, lediglich einen Anfangsbeweis erbringen (Fall Di Trizio gegen die Schweiz). Die Strassburger Richter*innen führten in ihrer Rüge gegen die Schweiz aus: «Wo der Kläger auf der Grundlage offizieller Statistiken, die nicht umstritten sind, einen Anfangsbeweis dafür erbringen kann, dass eine Massnahme – obwohl neutral formuliert – tatsächlich einen wesentlich höheren Prozentsatz von Frauen als von Männern betrifft, obliegt es der beklagten Regierung nachzuweisen, dass dies das Ergebnis objektiver Faktoren ist, die nicht mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts in Verbindung stehen.» Es obliegt nach dem Anfangsbeweis also dem Staat, das Gegenteil zu beweisen.
Das Bundesgericht leugnet jedoch nicht nur die indirekte Diskriminierung von Frauen – ohne zu beweisen, dass die Solidarhaftung in der Praxis Frauen und Männer gleichermassen betrifft –, sondern verweigert den Beschwerdeführenden den Zugang zu Statistiken. Die Statistiken zu den Gerichtsfällen würden aber eben als Beweis dafür dienen, dass die Waadtländer Steuersolidarität von Eheleuten eine unverhältnismässig nachteilige Wirkung auf Frauen hat – und rechtlich nicht hinnehmbar ist.
So hat Yves Noël, Anwalt und Professor für Steuerrecht an der Universität Lausanne, im Jahr 2015 im Rahmen einer Beschwerde am Bundesgericht erfolglos beantragt, Zugang zu Statistiken zu erhalten. Er wollte erfahren, welchem Geschlecht die Personen angehörten, die für die Steuerschulden von Ex-Ehepartner*innen bislang solidarisch belangt worden sind. Auch politische Vertreter*innen nahmen sich dieser Frage in der Vergangenheit auf kantonaler Ebene an: Muriel Thalmann, Abgeordnete des Grossen Rats des Kantons Waadt, beantragte im Jahr 2021 Zugang zu entsprechenden Statistiken. Der Staatsrat antwortete ihr, dass die kantonale Steuerverwaltung nicht wisse, welche*r der Ehegatt*innen den geschuldeten Betrag beglichen habe. Zudem existiere keine Solidarhaftungsklage im eigentlichen Sinne, wodurch die Behörden nicht in der Lage seien, die gewünschte Statistik zu liefern.
Da die kantonale Steuerverwaltung die Solidaritätszahlungen von Einzelpersonen einfordert, müsste ihr jedoch bekannt sein, welche*r Ehegatt*in belangt wird. Zudem lässt sich dieser Umstand auch aus diversen kantonalen Urteilen (FI.2007.0106, BGer 2P.201/2005, FI.2015.0105 Erw. 1) ablesen. Entgegen der Behauptung des Staatsrats müsste die Steuerbehörde also in der Lage sein, die zur Solidarität verpflichtete Personen zu identifizieren und die geforderten Statistiken zu liefern. Das Problem liegt nicht im Mangel an verfügbaren Daten, sondern in der fehlenden Transparenz.
Ein Verstoss gegen die UNO-Frauenrechtskonvention
Die Schweiz hat das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) ratifiziert. Daher ist sie dazu verpflichtet, alle geeigneten – auch gesetzgeberischen – Massnahmen zu ergreifen, um Gesetze, Vorschriften, Bräuche oder Praktiken, die eine Diskriminierung der Frau darstellen, zu ändern oder aufzuheben (Art. 2 lit. f CEDAW).
Das Bundesgericht hat weiter bestätigt, dass Völkerrecht dem innerstaatlichen Recht vorgeht, insbesondere wenn es dem Schutz der Menschenrechte dient (BGE 122 II 485 Erw. 3a). Es hat zudem festgestellt, dass das Diskriminierungsverbot der Europäischen Menschenrechtskonvention entgegenstehendem Schweizer Recht vorgeht und direkte Wirkung hat (BGE 131 II 352, Erw. 1.3.1; BGer 2A.7/2004, Erw. 4.1). Aus diesen Gründen wäre das Bundesgericht verpflichtet, die Waadtländer Behörden zur Erstellung und Herausgabe von Statistiken zu verpflichten und bei fehlendem Gegenbeweis einer indirekten Diskriminierung die Anwendung der Waadtländer Solidarhaftung zu verweigern.
In der Waadtländer Politik hat sich mittlerweile etwas getan: Im Jahr 2019 reichten die in der «Intergroupe F» zusammengeschlossenen Frauen des Grossen Rates im Kanton Waadt eine Motion ein, um die diskriminierende Bestimmung des Waadtländer Steuergesetzes zu streichen. Sie hielten dabei fest, dass «in der Praxis die solidarische Haftung für die Bezahlung der gesamten Steuerschuld überwiegend auf Frauen lastet». Im Juni 2021 wurde die Motion vom Grossen Rat mit einer grossen Mehrheit angenommen. Damit wurde der Staatsrat aufgefordert, das Gesetz über die direkten kantonalen Steuern (LIVD) umgehend zu ändern und die als frauendiskriminierend erachtete unbeschränkte und rückwirkende Steuersolidarität zwischen Eheleuten abzuschaffen.