10.08.2020
Selbständige, welche in der Armee, dem Zivildienst oder dem Rotkreuz Dienst leisten, haben für ihren Erwerbsausfall Anspruch auf eine Betriebszulage von 67 Franken am Tag. Selbständig erwerbenden Müttern steht neben der Grundentschädigung eine solche Hilfeleistung nicht zu. Das Bundesgericht verneint eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, die Politik sieht jedoch Handlungsbedarf.
Mit Urteil vom 22. Juni 2020 hält das Bundesgericht fest, dass selbständig erwerbende Mütter gestützt auf das Erwerbsersatzgesetz neben der Mutterschaftsentschädigung keinen zusätzlichen Anspruch auf Betriebszulagen haben. Eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts liege nicht vor.
Bei der Beschwerdeführerin handelt es sich um eine selbständige Rechtsanwältin, welche nach der Geburt ihres Kindes Betriebszulagen bei der Zürcher Ausgleichskasse beantragte. Sinn und Zweck der Betriebszulagen ist es, selbständig Erwerbenden während der Erwerbspause einen Teil ihrer Fixkosten (Bsp. Geschäftsmiete, Löhne der Mitarbeitenden), zurückzuerstatten. Nachdem auch das Zürcher Sozialversicherungsgericht ihren Anspruch auf die Versicherungsleistung verneint hatte, focht die Mutter den kantonalen Entscheid beim Bundesgericht an.
Namentlich brachte die Beschwerdeführerin vor, dass das Erwerbsersatzgesetz (EOG) bei verfassungskonformer Auslegung einen Anspruch auf Betriebszulage bei Mutterschaft enthalte und rügte eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts im Schutzbereich des Privat und Familienlebens gemäss der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 8 i.V.m. Art. 14 EMRK). Sozialversicherungsleistungen müssten gemäss Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte diskriminierungsfrei angeboten werden (vgl.«Di Trizio gegen die Schweiz»). Die vorliegende Ungleichbehandlung sei zudem mit der UNO-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) nicht zu vereinbaren (Art. 11 i.V. m. Art. 13 CEDAW). Gegebenenfalls sei zudem eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts gemäss Artikel 8 Absatz 2 und 3 der Bundesverfassung zu prüfen.
Bundesgericht: Ungleichbehandlung ist expliziter Wille des Gesetzgebers
Das Bundesgericht kommt zum Schluss, dass die analoge Anwendung der Bestimmung über die Betriebszulage für den Bereich der Mutterschaft unzulässig sei. Es entspreche vielmehr dem expliziten Willen der Gesetzgebenden, selbständigen Müttern bei Erwerbsausfall nur die Grundentschädigung zuzugestehen (Art. 8 EOG).
Dies gehe aus einem Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates hervor (S. 7547). Hiernach umfasse die Mutterschaftsentschädigung aufgrund der andernfalls anfallenden Mehrkosten weder Kinderzulagen, Zulagen für Betreuungskosten noch eine Betriebszulage für Selbständigerwerbende, was von National- Ständerat diskussionslos übernommen wurde. Eine Abweichung vom gesetzgeberischen Willen würde gemäss Bundesgericht den Rahmen einer verfassungskonformen Auslegung hinsichtlich des Gebots der Gleichbehandlung von Mann und Frau nach Artikel 8 Absatz 3 der Bundesverfassung sprengen.
Keine vergleichbaren Sachverhalte
Das Bundesgericht verneint weiter eine Anwendbarkeit des Diskriminierungsverbotes der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 14 EMRK), da zwei unterschiedliche Sachverhalte vorlägen: Die Mutterschaft könne nicht mit dem Erwerbsausfall der Dienstleistenden verglichen werden.
Ausschlaggebend dafür sei die Anknüpfung der schweizerischen Mutterschaftsversicherung an die biologische Mutterschaft. Das versicherte «Risiko» einer Mutterschaft könne sich nur bei Frauen verwirklichen. Dies bedeute, dass Männer durch die Regelung der Mutterschaftsversicherung rechtlich nicht diskriminiert werden, obwohl sie vom Genuss der Versicherungsleistungen ausgeschlossen werden. Andererseits folge daraus, dass durch die Mutterschaftsversicherung begünstigten Frauen keine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts geltend machen können, wenn eine andere Sozialversicherung Entschädigungen allenfalls abweichend ausgestalte.
Das Erwerbsersatzgesetz regle zwar sowohl den Entschädigungsanspruch für Dienstleistende (Art. 1a ff. EOG) als auch denjenigen bei Mutterschaft (Art. 16b ff. EOG). Nur weil sich diese Regelungen jedoch im gleichen Gesetz befänden, könne – entgegen einiger Lehrmeinungen – für sich alleine nicht auf das Vorliegen vergleichbarer Sachverhalte geschlossen werden. Die Entschädigungsansprüche knüpften an verschiedene versicherte Lebenssachverhalte an und in den Schutzbereich von Artikel 8 EMRK falle nur die Mutterschaft.
Kein Anspruch auf Gleichbehandlung
Gemäss Bundesgericht ist es letztlich nicht Sache des Gerichts, sondern des Gesetzgebers, über die unterschiedliche Ausgestaltung der Erwerbsersatzordnung zu entscheiden. Zudem bestehe „kein genereller Grundsatz, nach welchem der Staat seine Bürgerinnen und Bürger vor sämtlichen Unwägbarkeit des Lebens gleichermassen abzusichern hätte“.
Die Prüfung der UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau lässt das Bundesgericht aus, da die Rüge der Beschwerdeführerin nicht dem Begründungserfordernis entspreche. Schliesslich bestehe auch kein Anlass zur Prüfung des Erwerbsersatzgesetzes auf seine Vereinbarkeit mit dem Gleichstellungsartikel in der Verfassung (Art. 8 Abs. 3 BV) – ein Anspruch auf Prüfung der Verfassungsmässigkeit von Bundesgesetzen existiere nicht.
Dringender Handlungsbedarf: die Politik reagiert
Es lässt sich gleichstellungspolitisch nicht rechtfertigen, dass – vorwiegend männliche - Dienstpflichtige neben der Grundentschädigung zusätzliche Kinderzulagen, Betriebszulagen und bei Bedarf Betreuungszulagen erhalten, während Müttern diese Hilfeleistungen nicht zustehen. Schliesslich verfolgt das Erwerbsersatzgesetz das Ziel eines angemessenen Lohnersatzes bei Dienstpflicht ebenso wie der Mutterschaft und als Selbständige sind Mütter in gleichem Masse von weiterlaufenden Betriebskosten betroffen wie Dienstleistende.
Besonders stossend ist, dass der Erwerbsersatz von Männern und Frauen – demnach auch von selbständigen sowie unselbständigen arbeitstätigen Frauen – finanziell mitgetragen wird. Dass der Höchstsatz im Militärdienst 245 Franken pro Tag beträgt, während das Mutterschafts-Taggeld auf 196 Franken pro Tag limitiert ist, kommt erschwerend hinzu. Die Unterschiedliche Behandlung aus rein finanzpolitischen Überlegungen ist nicht einzusehen und in höchstem Masse unsachlich.
Immerhin hat das Parlament den Handlungsbedarf in der Sache erkannt: Im Herbst 2019 wurde von der ehemaligen Genfer SP-Ständerätin Liliane Maury Pasquier und der Zürcher SP-Nationalrätin Min Li Marti je eine Motion eingereicht, welche die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für Betriebszulagen zugunsten selbständig erwerbender Mütter fordern. Nachdem der Bundesrat die Motionen zur Annahme empfohlen hatte, stiessen beide Geschäfte im Erstrat auf Zustimmung.
Verabschiedet das Parlament das Anliegen, ist es Sache des Bundesrates eine gesetzliche Grundlage zu schaffen, welche die bestehende Ungleichbehandlung beseitigt. Die Einführung einer Betriebszulage für selbständig erwerbende Mütter wird allenfalls im Rahmen der Einführung eines zweiwöchigen Vaterschaftsurlaubs erfolgen, da das Erwerbsersatzgesetz dann ohnehin geändert würde.
Weitere Informationen
- Mütter bekommen weniger als Soldaten
TagesAnzeiger, 24. September 2019 - Selbständige sind für die Dienstpflicht besser abgesichert als für die Mutterschaft – laut Bundesgericht ist das keine Geschlechterdiskriminierung
NZZ, 15. Juli 2020