28.04.2014
Die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein kommunaler Sozialdienst als disziplinarische Massnahme die Sozialhilfe in welchem Umfang kürzen darf, ist und bleibt teilweise umstritten. Dies zeigen zwei kürzlich publik gewordene Fälle, in denen sich Sozialhilfebezüger/innen gegen die Streichung der Sozialhilfe wegen bestimmter Pflichtsverweigerungen juristisch zur Wehr gesetzt und Recht erhalten haben.
Recht erhalten? An den Pranger!
Im ersten Fall hatte die Gemeinde Berikon einem jungen Sozialhilfebezüger den Grundbedarf der Sozialhilfe mit der Begründung des Rechtsmissbrauchs in Reaktion auf dessen nicht-kooperatives Verhalten gestrichen. Der Betroffene reichte beim Bezirksamt Beschwerde ein und bekam zum grössten Teil Recht.
Dieser «Fall Berikon» wurde von einem unwürdigen medialen Kesseltreiben überschattet, nachdem das Bundesgericht die Einsprache der Gemeinde gegen den Entscheid der zweiten Instanz zugunsten des Sozialhilfebezügers abgewiesen hatte. In der anschliessenden Kampagne wurde der betroffene Sozialhilfebezüger an den Pranger gestellt, und einige Politiker/innen schufen mit dem Stereotyp der «jungen renitenten Sozialhilfebezüger» eine neue Feindbild-Kategorie.
- Jagdszenen in den Niederungen
Artikelvon Paul Ignaz Vogel, Mediendienst «Hälfte / Moitié», 11.3.2013 (online nicht mehr verfügbar) - Kopfgeld auf renitenten Sozialhilfebezüger
Tages-Anzeiger vom 25.2.2013 zum «Fall Berikon - Urteil 8C_500/2012 des Bundesgerichts vom 22. Nov. 2012
«Tatbeweis» verweigert = Ausschluss?
Im zweiten Fall wehrte sich ein 60jähriger Sozialhilfebezüger, dessen Sozialhilfe gestrichen worden war, nachdem er sich nur unter bestimmten Bedingungen damit einverstanden erklärt hatte, an einem Arbeitsprogramm teilzunehmen, das den Zweck gehabt hätte, die Glaubwürdigkeit seiner Angaben zu testen.
Das Bernische Obergericht kam zum Schluss, die vom stadtbernischen Sozialamt verhängte unbefristete Einstellung der Sozialhilfe-Unterstützung sei unzulässig gewesen. Das Sozialamt hätte höchstens eine befristete Einstellung für die Dauer des vorgesehenen Arbeitseinsatzes verfügen dürfen, befand das Gericht. Als Antwort auf diesen Entscheid erwägt das Sozialamt, das Kontrollinstrument des «Testarbeitsprogramms» von einem Monat auf drei Monate auszudehnen, vermutlich, um die Abschreckungswirkung im Verweigerungsfall zu erhöhen.
Am 29. Juli 2013 hat das Bundesgericht eine Beschwerde gegen den Entscheid des Bernischen Obergerichts betreffend die temporäre Einstellung der Sozialhilfe für die Dauer des verweigerten Arbeitseinsatzes abgewiesen. In diesem Urteil äussert sich das Bundesgericht ausgesprochen rigide zum Konzept der «zumutbaren Arbeit».
- «Ich bin weder arbeitsscheu noch ein Sozialschmarotzer»
Berner Zeitung vom 30.1.2013 - Streichung der Sozialhilfe. Teilnahme an Arbeitsprogramm verweigert
NZZ vom 16. Aug. 2013 (pdf, 1 S.) - 8C_962/2012
Bundesgerichtsurteil vom 29. Juli 2013
Komplexe rechtliche Situation
Die rechtliche Ausgangslage für diese und weitere Fälle ist komplex. Zum einen gelten die kantonalen Sozialhilfegesetze; zum andern bieten die Vorgaben der «Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe SKOS» einen relevanten gesamtschweizerischen Orientierungsrahmen, und zum dritten hat der Art. 12 BV, das Recht auf Hilfe in Notlagen, für diese Fragen eine grundlegende Bedeutung. Wegleitend für die Interpretation dieser Normen im Einzelfall sind die einschlägigen Entscheide des Bundesgerichts.
Klar ist, dass eine Leistungskürzung als Sanktion für ein pflichtwidriges Verhalten einer Sozialhilfebezügerin nur bis zum Existenzminimum (Grundbedarf I) gehen kann. Daneben ist in bestimmten Fällen aber gemäss Bundesgericht auch eine völlige Einstellung der Unterstützungsleistungen gerechtfertigt, namentlich, wenn ein Sozialhilfebezüger das Prinzip der «Subsidiarität» verletzt, d.h. wenn sich die Person weigert, eine ihr zumutbare und konkret angebotene Arbeit anzunehmen. Damit verlagert sich die Problematik auf die Kriterien für die «Zumutbarkeit» einer zwangsweise verfügten Arbeit (z.B. Beschäftigungsprogramm).
Grundrecht nicht gleich Menschenrecht
In der Frage der disziplinarisch motivierten Streichung der Sozialhilfe scheiden sich nicht nur die Geister, sondern auch Recht und Ethik, und eventuell auch Grundrecht und Menschenrecht. Denn anders als die vorherrschende Interpretation des Grundrechts auf Hilfe in Notlagen (Art. 12 BV) bindet der UNO-Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Art. 11) das Recht auf Existenzsicherung nicht an die Verpflichtung der Person, alles zu tun, um sich selbst aus der Notlage zu befreien.
Zugespitzt gefragt: Ist ein verfügter Arbeitseinsatz, der mit der Drohung verbunden ist, die Sozialhilfe im Falle einer Weigerung zu streichen, mit dem in der Bundesverfassung (Art. 41) verankerten Prinzip der Selbstverantwortung zu legitimieren? Oder handelt sich sich dabei um eine menschenrechtlich verbotene Variante der Zwangsarbeit gemäss Art. 8 Abs. 3 des UNO-Pakts über bürgerliche und politische Rechte? Oder ist gar beides richtig und deshalb der/die ausführende Sozialarbeitende in einem Dilemma?
Es ist sehr zu begrüssen, dass der schweizerische Berufsverband der Sozialarbeitenden «Avenir Social» sich dieser und ähnlicher Streitfragen rund um die Sanktionen in der Sozialhilfe angenommen hat. Das Resultat der internen Konsultationen liegt seit April 2014 in Form eines Positionspapiers vor.
Nachtrag: Das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte SKMR hat in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern Soziale Arbeit das Thema der Sanktionen in der Sozialhilfe aus grund- und menschenrechtlicher Sicht praxisnah bearbeitet. Die Resultate dieser Arbeiten wurden im April 2015 veröffentlicht. (Vgl. unseren Artikel dazu.)
Dokumentation
- Sanktionen in der Sozialhilfe : Die Position von AvenirSocial
Avenir Social vom April 2014 - Zwiespältige Bilanz zu Grundrechtschutz auf Existenzsicherung (online nicht mehr verfügbar)
Kurt Pärli, ZHAW Winterthur, auf agile.ch