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Kulturelle Praktiken

22.11.2022

Weltweit existieren zahlreiche Praktiken, Bräuche und Rituale, in welchen sich das Selbstverständnis von Gemeinschaften widerspiegelt. Einige davon stehen jedoch in einem Spannungsverhältnis oder gar im Konflikt zu den internationalen Menschenrechten.

Gemäss dem UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte stellen etwa die Verstümmelung weiblicher Genitalien, Zwangsheirat, Kinderheirat, verwandtschaftsbasierte Tötung, extreme Ernährungsbeschränkungen, traditionelle Geburtspraktiken, Kindstötung, Kinderschwangerschaft sowie die Bevorzugung des männlichen Nachwuchses und die sich daraus ergebende Benachteiligungen von Frauen und Mädchen eine Verletzung der Menschenrechte dar. Im Bereich der sexuellen und reproduktiven Rechte werden zudem weitere kulturelle Praktiken, so etwa geschlechtsverändernde Operationen an intergeschlechtlichen Kindern und das Abschneiden der männlichen Vorhaut, kritisch diskutiert.

Obwohl die individuellen Implikationen dieser Praktiken für die leidvoll Betroffenen auf der Hand liegen, ist im entsprechenden Diskurs immer auch die kolonialistische Vergangenheit sowie die eurozentristischen Ausrichtung der Menschenrechte zu thematisieren. Die diskursive Gewalt, welche sich etwa gegen verschiedene afrikanische, hinduistische oder muslimische Praktiken richtet, steht in einer langen (post)kolonialen Tradition.

Aktuelle Herausforderungen

Kulturelle Praktiken und Überzeugungen werden oft über viele Generationen hinweg von den Mitgliedern einer Gemeinschaft mitgetragen. Sie geniessen eine grosse Akzeptanz und werden von den Praktizierenden oft als moralische Verpflichtung aufgefasst. Dies gilt auch für Bräuche und Rituale, welche nicht allen Mitgliedern einer Gemeinschaft – sei das die Gesamtgesellschaft oder eine einzelne Familie – zugutekommen und sich negativ auf das Wohlbefinden und die Rechte der Betroffenen auswirken; so etwa das Recht auf Leben, Gesundheit, Selbstbestimmung und Bildung.

Die daraus folgenden kurz- und langfristigen physischen, psychologischen, wirtschaftlichen und sozialen Schäden erschweren den leidvoll Betroffenen ihre persönliche Entfaltung und die vollständige Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Aus Angst vor gesellschaftlicher Ausgrenzung oder aufgrund der Tabuisierung kommt es zudem nicht selten vor, dass Menschen in die Durchführung kultureller Praktiken entgegen ihren eigenen Interessen einwilligen. Unter den negativen Auswirkungen kultureller Praktiken leiden besonders oft Frauen und Kinder, da hinter sozialen und/oder religiösen Traditionen nicht selten adultistische und patriarchalische Machtverhältnisse stehen.

Schliesslich besteht auch ein Mangel an Daten und Statistiken über diese Phänomene. Gemäss UNO-Expertengremien verschieben sich gewisse Praktiken in neue geographische Räume, verstärken sich aufgrund von Konflikten oder nehmen über die Zeit zu oder ab. Darüber hinaus rücken aufgrund des veränderten Zeitgeistes immer wieder neue Praktiken in den Fokus, welche von leidvoll Betroffenen als Belastung empfunden werden; so aktuell etwa geschlechtsverändernde Operationen an intergeschlechtlichen Kindern.

Kulturelle Praktiken im internationalen Recht

Die internationalen Rechtsgrundlagen zu kulturellen Praktiken finden sich insbesondere in den Verträgen zum Schutz der Kinder- und Frauenrechte. Gemäss der UNO-Kinderrechtskonvention sind die Vertragsstaaten verpflichtet, überlieferte Bräuche, welche für Kinder gesundheitsschädigend sind, abzuschaffen (Art. 24 Abs. 3 KRK). Das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau erwähnt unter anderem, dass die Vertragsstaaten sich verpflichten, «alle [...] Bräuche oder Praktiken, die eine Diskriminierung der Frau darstellen, zu ändern oder aufzuheben» (Art. 2 Buchst. f CEDAW) und «einen Wandel in den sozialen und kulturellen Verhaltensmustern von Mann und Frau zu bewirken, um so zur Beseitigung von Vorurteilen sowie von [durch Stereotype und Rollenbilder geprägten] Praktiken zu gelangen» (Art. 5 Bst. a CEDAW).

Die jeweiligen UNO-Überwachungsausschüsse der beiden Übereinkommen haben im zudem im Jahr 2014 eine gemeinsame allgemeine Empfehlung veröffentlicht, in welcher sie kulturelle Praktiken, welche die Menschenrechte der Betroffenen beeinträchtigen, als «in der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, des Alters und anderer Gründe verwurzelt» bezeichnen. Seitdem wurde die Sichtweise erweitert: Während der Fokus zuvor auf einer kleinen Anzahl kultureller Praktiken in bestimmten Ländern lag – was aufgrund des reduzierten Blickwinkels für Kritik sorgte – werden entsprechende Bräuche und Rituale nun als Ergebnis sozial konstruierter Machtverhältnisse innerhalb unterschiedlicher Gesellschaften verstanden. Eine Sichtweise, welche nicht zuletzt den Einbezug neuer und anderer kultureller Praktiken ermöglicht.

Regionale Menschenrechtsabkommen wie das Zusatzprotokoll der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker zu den Frauenrechten und die Afrikanische Charta der Rechte und des Wohlergehens des Kindes enthalten schliesslich Normen, welche sich ausdrücklich und als Ganzes gegen bestimmte kulturelle Praktiken wenden. Auf europäischer Ebene sieht die von der Schweiz ratifizierte Istanbul-Konvention unter anderem vor, dass Kultur, Sitte, Religion, Tradition oder die sogenannte «Ehre» nicht als Rechtfertigung für Gewalttaten gelten dürfen (Art. 12 Abs. 5 IK). Bestimmte spezifische Praktiken wie die Zwangsheirat werden zudem in zahlreichen Konventionen auf regionaler und internationaler Ebene geächtet.

Postkoloniale Menschenrechtskritik

Innerhalb der Debatte über die Zulässigkeit bestimmter kultureller Praktiken sind die Bedürfnisse der leidvoll Betroffenen von höchster Bedeutung. Die Wirkmächtigkeit des Menschenrechtsdiskurses ist jedoch stets auch aus postkolonialistischer Perspektive zu reflektieren. So etwa im Zusammenhang mit dem Begriff «schädliche kulturelle Praktiken»: Die vielfach verwendete Bezeichnung wird dafür kritisiert, dass sie eine sehr vereinfachte Abwertung der betreffenden Kulturen mit sich bringt, von einem westlichen, kolonialistischen Narrativ geprägt ist, die geschlechterspezifischen Dimensionen der Praktiken verschleiert und Vorurteile gegenüber bestimmten Kulturgemeinschaften und Religionen verstärkt.

Schliesslich wird in den «traditionellen» kulturellen Praktiken ehemals kolonialisierter Länder oft die Quelle des Unrechts – so etwas der Unterdrückung der Frauen – gesucht, während bestimmte westliche Werte per se als modern und emanzipatorisch gelten. Es besteht die Tendenz und Gefahr, aussereuropäische lokale Kulturen im Namen des Universalismus der Menschenrechte schlichtweg als patriarchalisch zu essenzialisieren, während der damit einhergehende Kulturrelativismus unreflektiert in Kauf genommen wird.

humanrights.ch führt Artikel über folgende kulturelle Praktiken:

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