24.03.2025
Nach der Verurteilung des liberischen Ex-Kommandanten Alieu Kosiah im Jahr 2021 hat das Bundesstrafgericht erneut seine universelle Kompetenz zur Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit wahrgenommen und den ehemaligen Innenminister von Gambia – Ousman Sonko – im Mai 2024 verurteilt. Auch wenn die Schweiz Fortschritte gemacht hat, bleiben gewisse Lücken bestehen: Es hab weder eine Verurteilung wegen sexueller Gewalt und noch war die Sensibilisierung der von diesen Verbrechen betroffenen Gemeinschaften ausreichend.

Diese erneute Verurteilung wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zeigt, dass die Schweizer Behörden ihre universelle Verantwortung übernehmen. Doch der Ablauf des Prozesses und das Urteil weisen darauf hin, dass die Behörden ihre Praktiken betreffend Zugang zur Justiz verbessern müssen.
Die systematische Verletzung von Menschenrechten in Gambia
Ab 1994 wurde Gambia von einer diktatorischen Regierung beherrscht: der Leutnant Yahya Jammeh hatte die Macht durch einen Staatsstreich an sich genommen und bis 2016 regiert er das Land autoritär. Während seinem Regime wurden Menschenrechte systematisch verletzt: Es gab willkürliche Inhaftierungen, Verschwindenlassen, Hinrichtungen ohne Prozess, Folter, Einschränkungen der Meinungsfreiheit, Verfolgung von homosexuellen Menschen, Vergewaltigungen.Die Präsidentschaftswahlen 2016 erschütterten die Regierung um Yahya Jammeh. Konfrontiert mit erheblichem Widerstand verlor er die Wahlen gegen Adama Barrow. Nach dieser Niederlage floh Yahya Jammeh ins Exil nach Äquatorialguinea, wo er bis jetzt durch Präsident Teodoro Obiang Nguema Mbasogo geschützt lebt. Da er somit zurzeit nicht vor Gericht gestellt werden kann, haben die Justizbehörden begonnen, die anderen Verantwortlichen des Regimes gerichtlich zu belangen, darunter auch Ousman Sonko, der zwischen 2006 und 2016 Innenminister von Gambia war. Als rechter Arm von Yahya Jammeh wurde er nach den Wahlen seines Amtes enthoben. Er floh nach Europa, wo er Asyl beantragen wollte. Als Schweden seinen Asylantrag ablehnte, stellte er am 10. November 2016 einen Asylantrag in der Schweiz.
Als die Nichtregierungsorganisation Trial International über Ousman Sonkos Anwesenheit in der Schweiz benachrichtig wurde, reichte diese bei der Generalstaatsanwaltschaft Bern eine Strafanzeige gegen ihn ein. Denn Ousman Sonko wurde beschuldigt Morde, Folter, Vergewaltigungen und willkürliche Inhaftierungen angeordnet und durchgeführt zu haben. Die Berner Behörden haben daraufhin eine Untersuchung eingeleitet und ihn im Durchgangszentrum für Asylsuchende Lyss im Kanton Bern festgenommen. Er kam am 26. Januar 2017 in Untersuchungshaft, wo er 7 Jahre lang auf den Beginn seines Prozesses wartete. Dieser begann am Montag, dem 8. Januar 2024 vor dem Bundesstrafgericht. Auf Basis des Universalitätsprinzips hatte sich das Bundestrafgericht als zuständig erklärt, über die Verbrechen gegen die gambische Bevölkerung, die durch Ousman Sonko in Gambia begangen wurden, zu urteilen.
Verbrechen, die in der Schweiz auch vor Gericht gestellt werden können
Während des Prozesses argumentierte die Verteidigung von Ousman Sonko, dass die meisten Anklagen gegen ihn verjährt seien und daher fallengelassen werden müssten. Der Staatsanwalt hat dagegen angeführt, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 101 Abs. 1 lit. a und b Strafgesetzbuch) unverjährbar seien, was bedeutete, dass sie auch nach vielen Jahren noch verfolgt werden können. Die Verteidigung hat sich zudem auf das Rückwirkungsverbot gestützt. Demnach kann ein Gesetz nicht auf Sachverhalte angewendet werden, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes ereignet haben. Sie argumentierten, dass die Ereignisse zwischen 2000 und 2006 nicht verhandelt werden dürften, da sie sich vor dem Inkrafttreten der Schweizer Strafnormen über die Zuständigkeit bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit ereignet hatten (Art. 264a Abs. 1 und 2 Strafgesetzbuch). Während das Strafgesetzbuch diesen Grundsatz des Rückwirkungsverbots vorsieht (Art. 2 Abs. 1 Strafgesetzbuch), sieht eine Bestimmung des Strafgesetzbuchs (Art. 101 Abs. 3 Strafgesetzbuch) vor, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit unverjährbar sind, solange sie nicht bereits vor dem 1. Januar 2011 verjährt sind. Deshalb konnten keine der Anklagen gegen Ousman Sonko als verjährt angesehen werden, auch nicht jene, die sich zwischen 2000 und 2016 ereigneten.
Der Staatsanwalt erinnerte dennoch zusätzlich daran, dass das Bundesstrafgericht für diese Verbrechen zuständig ist: Die Strafbestimmungen für Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die am 1. Januar 2011 in Kraft getreten sind, werden gemäss dem Internationalen Übereinkommen gegen Folter angewandt, welches im Jahr 1986 von der Schweiz ratifiziert wurde. Das Übereinkommen definiert die Pflicht des Staates, Beschuldigte wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit entweder vor Gericht zu stellen oder auszuliefern. Deshalb darf das Bundestrafgericht seine universelle Zuständigkeit ausüben. Dieser Mechanismus erlaubt die Verfolgung gewisser schwerer internationaler Verbrechen unabhängig des Orts des Verbrechens, der Nationalität der Opfer und der Verdächtigen.
Eine erste Etappe auf dem langen Weg der Opfer zur Gerechtigkeit
Dieses Urteil des Bundesstrafgerichts gegen einen hochrangigen Beamten Yahya Jammehs Regime sendet eine starke Botschaft an die gambischen Opfer in ihrem Streben nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Mit dieser Verurteilung wird nicht nur der 2017 in Gambia eingeleitete Prozess der Übergangsjustiz unterstützt, sondern ermutigt auch künftige Verurteilungen anderer Regimeverantwortlicher.
Im Jahr 2018 wurde die Kommission für Wahrheit, Versöhnung und Wiedergutmachung gebildet, um alle durch Yahya Jammehs Diktatur begangenen Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen. Die Kommission hat am 24. Dezember 2021 den Abschlussbericht veröffentlicht. Dank diesem Bericht konnte sich das Bundesstrafgericht mit den Verbrechen des ehemaligen Amtsträgers befassen. Im Fall Sonko bezog sich der Staatsanwalt hauptsächlich auf die Ergebnisse dieses Berichts, in dem die Schlüsselrolle von Ousman Sonko bei der Unterdrückung der Gambier*innen festgestellt wurde, darunter die Vertuschung des Massakers im Juli 2005 an 56 westafrikanischen Migrant*innen – 44 davon aus Ghana.
Zum Abschluss der Untersuchungen der Kommission hat die aktuelle gambische Nationalversammlung einen Gesetzesentwurf verabschiedet, die die Einrichtung einer Sonderstaatsanwaltschaft ermöglichte. Diese ist für die Zusammenstellung von Fällen zuständig, die für ein Urteil in Frage kommen. Ein weiterer Schritt wird ein hybrider Gerichtshof aus Gambia und der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) darstellen, der geschaffen werden soll, um über die schwersten Vergehen des ehemaligen Regimes zu urteilen.
Diese Verurteilung in der Schweiz reiht sich in eine umfassendere internationale Strafverfolgung von Amtsträgern der Regierung von Yahya Jammeh ein. Am 30. November 2023 haben die deutschen Behörden Bai Lowe – ein ehemaliges Mitglied der von Yahya Jammeh kreierten paramilitärischen Einheit «Junglers» – wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. Seit dem 16. September 2024 untersucht ein Bezirksgericht im US-Bundesstaat Colorado den Fall von Michael Sang Correa, einem vermuteten Mitglied der «Junglers», in welchem es ebenfalls um Verbrechen gegen die Menschlichkeit geht. Der Prozess wurde verschoben, um sicherzustellen, dass die Angeschuldigten im Einklang mit dem Recht auf ein faires Verfahren Zeugen für ihre Verteidigung benennen können.
Eine verpasste Gelegenheit, sexuelle Gewalt als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu behandeln
Auch wenn das Urteil historisch ist, hat das Gericht es verpasst, Vergewaltigungen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzustufen. Das Bundestrafgericht hat die Anschuldigungen von sexueller Gewalt zwischen 2000 und 2006 gegen Sonko, die insbesondere durch den Bericht der Kommission für Wahrheit, Versöhnung und Wiedergutmachung dokumentiert wurden, zu den Akten gelegt. Das Gericht hatte zwar die Vergewaltigungen nicht bestritten, beurteilte jedoch diese Handlungen als zu isoliert, um als „systematischer Angriff“ auf die Bevölkerung bezeichnet zu werden. Das Kriterium des „systematischen Angriffs“ ist entscheidend, um eine Strafverfolgung wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begründen (Art. 7 para. 1 Römer Statut des Internationalen Strafgerichthofs). Deshalb hatte das Bundesstrafgericht festgehalten, dass es aufgrund mangelnder universeller Kompetenz die Anschuldigungen wegen sexueller Gewalt nicht behandeln könne. Hierfür seien ausschliesslich gambische Gerichte zuständig.
Mehrere internationale und lokale Organisationen haben diese Entscheidung kritisiert. Trial International ist der Ansicht, dass gerade diese Fälle von Bedeutung sind, da das Regime von Yahya Jammeh sexuelle Gewalt als Waffe zur Unterdrückung einsetzte. Die Organisation bezieht sich hierbei auch auf den Abschlussbericht der Kommission für Wahrheit, Versöhnung und Wiedergutmachung. Dieser unterstreicht, dass die schwere und wiederholte sexuelle Gewalt im politischen Kontext des Landes betrachtet werden muss. Trial International befürchtet, dass die Entscheidung des Bundesstrafgerichts die falsche Vorstellung verstärkt, dass sexuelle Gewalt eine Privatangelegenheit ist, die ausserhalb des internationalen Strafrechts liegt. In Gambia haben mehrere Organisationen -darunter die Alliance of Victim-Led Organisation, die Women’s Association for Victims’ Empowerment und Women in Liberation and Leadership - erklärt, dass «die Nicht-Verurteilung von Ousman Sonko [für sexuelle Gewalt] ist ein Rückschritt für den Kampf nach Gerechtigkeit für Opfer und Überlebende von sexueller und geschlechterbasierten Gewalt».
Eine verpasste Gelegenheit, sexuelle Gewalt als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu behandeln
Die fehlende Übersetzung während des Prozesses stellte angesichts der Bedeutung des Falles für Gambia eine echte Lücke im Zugang zur Justiz dar. Das Bundesstrafgericht erinnerte daran, dass Deutsch die offizielle Verfahrenssprache ist und dass der Gebrauch von Englisch gesetzlich nicht vorgesehen ist. Diese Entscheidung wurde bedauert; so hatte Trial International gefordert, dass das gesamte Verfahren übersetzt werden müsse. Die fehlende Übersetzung schränkte das Verständnis des Prozesses sowohl für den Angeklagten ein, der den Inhalt der von den Parteien vorgetragenen Plädoyers und Schlussfolgerungen aufgrund fehlender Dolmetscher nicht verstand, aber auch für die Nebenklage, die Presse und die gambische Gemeinschaft. Dieser Faktor machte es für die Opfer und die gambischen Gemeinschaften schwierig, den Prozess zu verfolgen, zumal das Verfahren nicht übertragen wurde. Um diesen Mangel zu beheben und mehr Menschen zu erreichen, sorgten Überlebende, Opfergruppen und Verbände dafür, dass diese Informationen und Nachrichten über den Prozess in Gambia verbreitet wurden. Eine der Klägerinnen, so die Vorsitzende der Solo Sandeng Foundation, betonte, dass „die Entwicklung der Gerichtsverfahren in einem so wichtigen Fall den Gambier*innen, ob Opfer oder nicht, in der Sprache, die sie verstehen (also Englisch) zugänglich gemacht werden sollte, was das Interesse an dem Verfahren steigern wird“. Trial International ist der Ansicht, dass die Schweizer Behörden sicherstellen sollten, dass künftige Fälle mit universeller Zuständigkeit für alle Parteien zugänglich sind, indem sie insbesondere für eine angemessene Auslegung sorgen, auch wenn dies nach nationalem Recht nicht erforderlich ist.
Auch die Länge des Prozesses wurde bemängelt: Ousman Sonko beklagte Beeinträchtigungen seiner körperlichen und geistigen Integrität durch sieben Jahre Inhaftierung, zwei davon in Isolationshaft. Es ist nicht das erste Mal, dass eine Person, die von der Schweiz wegen im Ausland begangener Taten verurteilt wurde, das Verfahren in der Schweiz kritisiert; bei Erwin Sperisen dauerte es elf Jahre, und er wurde während seiner Untersuchungshaft fünf Jahre lang in Einzelhaft gehalten. Der ehemalige algerische Verteidigungsminister Khaled Nezzar sollte ebenfalls in der Schweiz vor Gericht gestellt werden. Er verstarb jedoch im Dezember 2024, worauf die zwölf Jahre langen Ermittlungen gegen ihn eingestellt werden mussten. Das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter (CPT) hat die Haftbedingungen bereits 2016 bemängelt. In Fall Sperisen war das Bundesgericht jedoch der Ansicht, dass die Verfahrensdauer nicht übermässig lang war und der Grundsatz der Beschleunigung nicht verletzt wurde. Dies wurde mit der Schwere der vorgeworfenen Taten sowie der Schwierigkeiten bei der Beweiserhebung, die mit dem internationalen Charakter des Falles, der geografischen Entfernung zwischen dem Ort des Urteils und dem Ort der Taten sowie der seit der Tat verstrichenen Zeit zusammenhängen, begründet.
Schliesslich wurde kritisiert, dass die meisten Verurteilungen durch internationale Strafgerichtshöfe wie den Internationalen Strafgerichtshof oder durch die Anwendung der universellen Gerichtsbarkeit nur afrikanische Staatschefs betreffen. Dies hat sich jedoch geändert seit die Vorverfahrenskammer I des Internationalen Strafgerichtshofs am 21. November 2024 Haftbefehle gegen Israels Premierminister Benyamin Netanyahu und Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen ausgestellt hat, die seit dem 8. Oktober 2023 auf dem Gebiet Palästinas begangen worden waren. Das Bundesamt für Justiz erklärte, dass die Schweiz als Vertragsstaat des Römer Statuts dazu verpflichtet sei, mit dem Internationalen Strafgerichtshof zusammenzuarbeiten und die beiden Angeklagten grundsätzlich bei einer möglichen Ankunft in der Schweiz festnehmen müsse. Doch ob die Behörden entsprechend handeln würden, ist angesichts der Haltung der französischen Regierung fraglich. Diese argumentiert, dass der israelische Regierungschef Immunität geniesse, da das Land den Römischen Vertrag zur Gründung des Internationalen Strafgerichtshof nicht unterzeichnet habe.