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Tatort Ausland: Nicht alle Betroffenen von Menschenhandel werden in der Schweiz unterstützt

31.05.2022

Das Schweizer Opferhilfegesetz greift nur, wenn eine Straftat in der Schweiz begangen wurde oder die Betroffenen zum Tatzeitpunkt über einen Wohnsitz in der Schweiz verfügen. In Fällen von Menschenhandel, welcher oftmals ein grenzübergreifendes Delikt darstellt, führt dies zu einem fragwürdigen Resultat: zahlreiche Betroffene erhalten in der Schweiz keine Unterstützung.

In der Schweiz beruht die Unterstützung für Betroffene von Menschenhandel auf dem Opferhilfegesetz OHG. Demnach haben Personen, die in ihrer sexuelle, körperlichen oder psychischen Integrität verletzt wurden, dann Anspruch auf staatlich finanzierte Hilfe, wenn sie zum Zeitpunkt der Straftat ihren Wohnsitz in der Schweiz hatten (Art. 17 OHG) oder die Straftat in der Schweiz begangen wurde (Art. 3 OHG). Obwohl die Problematik der fehlenden Unterstützung für Betroffene von Menschenhandel bei Tatort im Ausland im Nationalen Aktionsplan (NAP) gegen Menschenhandel 2017-2020 erfasst wurde, kommt die Umsetzung der Lösungsansätze nicht voran. Laut Géraldine Merz von der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration FIZ besteht in der Schweiz weiterhin eine «Zweiklassen-Opferhilfe»: Während Betroffene von Menschenhandel mit Tatort in der Schweiz Unterstützungsleistungen erhalten, kommt Personen mit Tatort im Ausland rechtlich keine Opferhilfe zu.

Die Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration betreibt auf Spendenbasis eine ambulante Beratungsstelle für Betroffene von Menschenhandel mit Tatort im Ausland. Géraldine Merz kommentiert «Bis vor kurzem gab es keine Chance auf irgendeine Finanzierung in solchen Fällen. Und das, obwohl wir insbesondere aus dem Asylbereich immer mehr Menschen zugewiesen bekommen, bei denen genau diese Konstellation vorherrscht – in den letzten drei Jahren je über 90 Personen.»

Im Asylverfahren wird bei Verdacht auf Menschenhandel vom Staatssekretariat für Migration SEM eine vertiefte Anhörung durchgeführt, ohne dass die betroffene Person zuvor Zugang zu einer spezialisierten Opferberatungsstelle erhält. Géraldine Merz kritisiert «In der Praxis bedeutet das, dass eine höchst traumatisierte Person ohne jegliche vorherige Stabilisierung oder Rückzugsmöglichkeit vom SEM zum Sachverhalt des Menschenhandels befragt wird». Die Gefahr einer Retraumatisierung ist dabei hoch.

Anschliessend wird den Betroffenen gemäss dem von der Schweiz ratifizierten Übereinkommen zur Bekämpfung des Menschenhandels eine Erholungs- und Bedenkzeit von 30 Tagen eingeräumt (Art. 13 EKM). Bei Aussagebereitschaft wird ein Kurzaufenthalt von drei bis sechs Monaten erteilt. In dieser Zeit wohnen die Personen in Schutzunterkünften und können sich erholen. Das gilt jedoch nicht für Menschen, welche im Ausland Opfer von Menschenhandel geworden sind: Die im Europaratsübereinkommen vorgesehenen Unterstützungsleistungen – spezialisierte Unterbringung, Zugang zu Beratung und Übersetzungen, Unterstützung im Strafverfahren sowie materielle, medizinische und psychologische Nothilfe – bleiben den Betroffenen unter diesen Umständen verwehrt.

Diese Praxis steht im Widerspruch zu den menschenrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz. Als Vertragsstaat des Übereinkommens zur Bekämpfung des Menschenhandels ist sie dazu verpflichtet ihre medizinischen oder sonstigen Hilfeleistungen allen Betroffenen zur Verfügung stellen, «die sich rechtmässig in ihrem Hoheitsgebiet aufhalten» (Art. 12 Abs. 3 EKM). Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hält in seinem Urteil J. und andere gegen Österreich explizit fest, dass der Zugang zum Opferschutz für Betroffene von Menschenhandel bei Tatort im Ausland sichergestellt sein muss. In diesem Zusammenhang verstösst die Schweiz ausserdem gegen die von ihr ratifizierten Istanbul-Konvention (Art. 20, 22 und 23 IK), die Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 1 EMRK) und gegen die Empfehlungen des Palermo-Protokolls (Art. 6 Abs. 5 PP). Für ihre Praxis wurde sie von der Expertengruppe des Europarates gegen Menschenhandel GRETA bereits mehrfach kritisiert.

Die Schweiz verletzt mit der Verweigerung von Schutz und Unterstützung für Betroffene von Menschenhandel mit Tatort im Ausland ihre menschenrechtlichen Verpflichtungen. Zur Unterstützung der Betroffenen braucht es schnellstmöglich eine pragmatische Lösung und einen Ausbau der staatlichen Finanzierung von Opferhilfeleistungen.