15.04.2021
Der Entscheid des Obergerichts Aargau vom 29. März 2021 ist historisch: Ein im Ausland gestrichener Geschlechtseintrag muss in der Schweiz anerkannt werden. In der Schweiz ist es das erste rechtliche Bekenntnis zur Existenz nicht binärer Menschen. Es müssen nun die nötigen Schritte eingeleitet werden, damit sich nicht binäre Menschen auch in der Schweiz korrekt registrieren können.
Julian P. (Name geändert) wohnte aus beruflichen Gründen in Deutschland. P. liess beim Standesamt den Vornamen ändern und den amtlichen Geschlechtseintrag streichen. In der Schweiz beantragte P. im vergangenen Juni beim Heimatort im Kanton Aargau die Übernahme der Änderung des Vornamens und der Streichung des Geschlechtseintrags ins Schweizer Register. Das zuständige Departement lehnte den Antrag auf Streichung des Geschlechtseintrages ab.
Mit Unterstützung des Transgender Network Switzerland (TGNS) legt P. Beschwerde beim Obergericht Aargau ein. Gemäss dem fallführenden Anwalt Stephan Bernard galt es hauptsächlich dem Argument des Verstosses gegen den sog. Ordre public in der Verfügung der Vorinstanz entgegenzuhalten:
«Die Vorinstanz erachtete die Anerkennung von P.s Nicht-Eintrag aus Deutschland offensichtlich als unvereinbar mit den aktuellen Werten der Schweiz. Dem ist klar entgegen zu halten, dass es nicht genügt, dass eine im Ausland getroffene Entscheidung vom Schweizer Recht abweicht oder unbekannt ist. Der ausländische Entscheid muss zentrale Säulen des Schweizer Rechtsystems ritzen. Ausserdem sind hiesige Wertvorstellungen relativ und ändern sich mit der Zeit, weshalb der Ordre public-Vorbehalt wandelbar ist. Die aktuellen gesellschaftlichen Debatten sprechen im Gegenteil dafür, dass der vorliegende Fall eben gerade nicht gegen den Ordre public verstösst. Im Schweizer Parlament sind 2018 zwei Vorstösse angenommen worden, welche den Bundesrat mit der Prüfung der Einführung eines dritten Geschlechts einerseits und des möglichen Verzichts einer Geschlechterzuschreibung andererseits beauftragt. Eine analoge Empfehlung gibt es von der Nationalen Ethikkommission im Bereich Humanmedizin (NEK). Nicht binäre Geschlechtsidentitäten sind auch in der Schweiz bereits gesellschaftliche Realität, was sich z.B. beim BAG Corona-Check und in Werbekampagnen von Firmen zeigt, bei denen als Geschlechtsbezeichnung «Andere» zugelassen sind oder der Gender* verwendet wird.»
Bernard führt in der Beschwerdeschrift weiter aus, dass die Nichtanerkennung der Streichung der Geschlechtsangabe im Personenstandsregister einer Verletzung von Artikel 8 Absatz 1 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) in Verbindung mit Artikel 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) gleichkommt. Dabei stützt er sich insbesondere auch auf Entscheide des Bundesverfassungsgerichts Deutschland, des belgischen Verfassungsgerichts und des Österreichischen Verfassungsgerichtshofs. Bei der Auslegung des schweizerischen ordre public sind die Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention ohnehin mitzuberücksichtigen, da diese ebenfalls ein zentraler Bestandteil der schweizerischen Rechtsordnung sind.
Das Obergericht heisst am 29. März 2021 die Beschwerde gut und folgt den Argumenten der Beschwerdeführenden in allen Punkten. Alecs Recher, Leitung der Rechtsberatung von TGNS, ist erleichtert:
«Mit diesem Entscheid zeigt das Obergericht unmissverständlich auf, dass das binäre Geschlechtermodell ausgedient hat. Der Entscheid betrifft jedoch nur die Anerkennung eines gestrichenen Geschlechtseintrages aus dem Ausland. Zur Möglichkeit, den Geschlechtseintrag ohne Entscheid aus dem Ausland streichen zu lassen, äussert er sich nicht. Wir erwarten jetzt vom Bund, dass er die nötigen Schritte zur korrekten Registrierung nicht binärer Menschen einleitet.»
Der Entscheid ist noch nicht rechtskräftig, sondern kann innerhalb von 30 Tagen beim Bundesgericht angefochten werden.