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Wegweisungen aus der Schweiz: Die Praxis der Migrationsbehörden gefährdet Menschenrechte

17.03.2021

Immer wieder bestätigt das Bundesverwaltungsgericht die Ausweisung von Menschen in sogenannte «sichere Drittstaaten» oder «sichere Heimat- oder Herkunftsstaaten», ohne die Menschenrechtssituation in diesen Ländern ausreichend zu prüfen und mögliche Gefahren für die Betroffenen sorgfältig abzuklären. Wiederholt werden vorsorglichen Massnahmen – interim measures – gegen die Schweiz gesprochen, anhand welcher die UNO-Ausschüsse drohende Ausweisungen vorläufig stoppen. Daraus folgt: Der Prüfungsmassstab der Schweizer Behörden ist aus menschenrechtlicher Sicht unzulänglich.

Eine alleinstehende Frau mit Kindern flüchtet aus einem Bürgerkriegsland nach Bulgarien, wo sie den Flüchtlingsstatus erhält. Vor Ort wird sie Opfer von häuslicher Gewalt. Weil sie keinen Schutz von den bulgarischen Behörden erhält, flieht sie gemeinsam mit ihren Kindern in die Schweiz. Das Staatssekretariat für Migration tritt auf ihr Asylgesuch nicht ein. Die Begründung: Sie könne nach Bulgarien – in einen «sicheren Drittstaat» – zurückkehren. Der Entscheid wird vom Bundesverwaltungsgericht* bestätigt.

Gemäss Asylgesetz wird in der Regel nicht auf ein Asylgesuch eingetreten, wenn die betroffene Person in einen «sicheren Drittstaat» zurückkehren kann, in welchem sie sich vor Einreichung ihres Asylgesuches in der Schweiz aufgehalten hat (Art. 31a AsylG). Als sichere Drittstaaten gelten in der Schweiz EU- und EFTA-Staaten, da diese die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert haben und, so des Staatssekretariats für Migration, in der Praxis auch anwenden. Zudem kann der Bundesrat weitere Länder als «sichere Drittstaaten» bezeichnen, wenn für die Betroffenen vor Ort ein effektiver Schutz vor Rückschiebung im Sinne des Non-Refoulement Prinzips besteht. Letztlich gelten Länder als «sichere Heimat- oder Herkunftsstaaten», wenn Asylsuchende dort vor Verfolgung sicher sind (Art. 6a Abs. 2 Bst. a und b AsylG).

Die asylsuchende Mutter und ihre Kinder richten sich mit Unterstützung der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) mit einer Individualbeschwerde an den UNO-Ausschuss für Kinderrechte. Das Gremium fordert die Schweiz umgehend dazu auf, die Rückführung der Familie zu unterlassen, um nicht wiedergutzumachende Schäden für die Kinder durch Menschenrechtsverletzungen abzuwenden. In dem Sinne kann das Gremium nicht ausschliessen, dass die Familie in Bulgarien einer Gefahr ausgesetzt ist. Gemäss Adriana Romer, Expertin für Europa bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, macht der Entscheid eines deutlich: «Der pauschale Verweis auf die Einhaltung der völkerrechtlichen Verpflichtungen durch einen Staat reicht gerade bei einem Land wie Bulgarien nicht aus. Wenn Hinweise auf mögliche Menschenrechtsverletzungen bestehen, braucht es eine sorgfältige Abklärung und Abwägung im Einzelfall.» 

Dies veranschaulicht auch der Fall einer Asylsuchenden, welche aus einem griechischen Flüchtlingslager in die Schweiz floh. Gemäss Bundesverwaltungsgericht machte sie keine Umstände geltend, welche Griechenland als «sicheren Drittstaat» in Frage stellen würden (BVG-Urteil E-1657/2020 vom 26. Mai 2020). Dass sie im Flüchtlingslager mehrfach vergewaltigt worden war und vor Ort keinen Zugang zu psychologischer Unterstützung hatte, fand keine Berücksichtigung. Rund einen Monat später intervenierte der UNO-Frauenrechtsausschuss (CEDAW). Ähnlich erging es einem Folterüberlebenden, der in Griechenland als Flüchtling anerkannt worden war. Obschon der Betroffene in Griechenland auf der Strasse leben musste und keinen Zugang zu medizinischer Versorgung hatte, entschieden das Staatssekretariat für Migration und das Bundesverwaltungsgericht, dass für Griechenland in dem Fall die «sichere Drittstaatenvermutung» gelte (BVG-Urteil E-2714/2020 vom 9. Juni 2020). Auch hier intervenierte der UNO-Antifolterausschuss und verhinderte die Ausschaffung. Für Stephanie Motz, Rechtsanwältin aus Zürich, die in allen drei Verfahren – zweimal zusammen mit dem Verein AsyLex und einmal mit Rechtsanwältin Fanny de Weck – prozessierte, ist klar: «Die Situation in den Drittstaaten wird vom SEM nur summarisch erhoben und eine rechtsgenügliche Sachverhaltserstellung findet nicht statt. Zudem klärt das Bundesverwaltungsgericht die Menschenrechtslage in solchen Staaten häufig nicht vertieft ab, sondern stellt auf pauschale Behauptungen ab. Daher intervenieren vermehrt UNO-Ausschüsse in solchen Verfahren.»

Nicht zuletzt sind auch Überstellungen in Anwendung der Dublin Verordnung – mittels welcher Asylsuchende in den Mitgliedstaat überwiesen werden, in dem sie ihren ersten Asylantrag gestellt haben – von unsorgfältigen Prüfmassstab der Schweizer Behörden betroffen. Ende letzten Jahres sah sich der UNO-Ausschuss gegen Folter angehalten, eine Dublin-Rückführung aus der Schweiz nach Polen vorläufig zu stoppen (BVG-Urteil F-3666/2020 vom 23. Juli 2020).

Schliesslich intervenierte Anfang dieses Jahres auch der UNO-Antirassismusausschuss, als die Schweiz ein Roma-Ehepaar nach Nordmazedonien abschieben wollte (BVG-Urteil E-3257/2017 vom 30. Juli 2020, E.10.2). Das Paar war vor Ort ernsthaften Risiken ausgesetzt und wurde von den nordmazedonischen Behörden nicht ausreichend geschützt. Nachdem das Bundesverwaltungsgericht Nordmazedonien als «sicheres Herkunftsland» bezeichnet hatte, reichte das Ehepaar mit Unterstützung vom Solidaritätsnetz Bern eine Individualbeschwerde beim UNO-Antirassismusausschuss ein und kann vorläufig in der Schweiz bleiben. Beide Fälle führte Vadim Drozdov, ein auf das Asylrecht spezialisierter Jurist aus Schaffhausen. Im Januar 2020 gelang es ihm zudem, vor dem UNO-Ausschuss für Kinderrechte die Wegweisung eines 12-jährigen Mädchens aus der Schweiz nach Georgien zu stoppen (BVG-Urteil E-5049/2019 vom 6. Dezember 2019). Dies nachdem die Schweiz das Land am 1. Oktober 2019 als verfolgungssicheren Staat («Safe Country») eingestuft hatte.

Bis die UNO-Ausschüsse in den aufgeführten Fällen definitive Entscheide treffen, können mehrere Jahre vergehen – in drei der Verfahren ist das Staatssekretariat für Migration nun aber auf die Asylgesuche eingetreten. Dank der interim measures sind auch die Beschwerdeführenden in den verbleibenden beiden Fällen geschützt, während das Gremium das konkrete Risiko für Menschenrechtsverletzungen prüft.

Indem die Schweizer Behörden eine Vielzahl von Staaten pauschal als «sicher» einstufen, setzen sie Asylsuchende einem massiven Risiko aus. Auch in demokratischen Ländern werden Menschenrechte verletzt. Die zahlreichen Interventionen der UNO-Ausschüsse machen deutlich: Die Schweizer Praxis genügt aus menschenrechtlicher Sicht nicht.

*zum Schutz der betroffenen Familie wird die dazugehörige Referenz nicht veröffentlicht.

Interim measures: Was seither geschah