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Klärung des Opferstatus im Asylverfahren: Herausforderungen und Lösungsansätze

13.02.2025

Das auch von der Schweiz ratifizierte Istanbul-Protokoll (IP) des Europarats ist ein Instrument zur Feststellung des Opferstatus im Asylverfahren, indem es ein Handbuch für die wirksame Untersuchung und Dokumentation von Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder entwürdigender Behandlung oder Strafe zur Verfügung stellt. Die Umsetzung des IP läuft wegen hoher Komplexität und fehlender Anerkennung harzig. Der Einsatz von Forensic Nurses in Bundesasylzentren könnte sowohl zur Umsetzung des IP wie auch zur besseren Wahrung der Rechte von Geflüchteten beitragen.

Gastbeitrag von Claudia Weidenhoffer, Expertin Intensivpflege NDS/ CAS Forensic Nursing UZH

In der Schweiz können Menschen Asyl beantragen, die in ihrem Herkunftsland aufgrund ihrer Ethnie, Religion, Nationalität, politischer Anschauung oder ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe ernsthaften Konsequenzen ausgesetzt sind. Eine entscheidende Rolle im Asylverfahren spielt die Feststellung der erlittenen ernsthaften Nachteile (gemäss Art. 3 AsylG) wie bspw. Folter oder sexueller Gewalt, da dies massgeblich über den Schutzstatus eines Antragstellers oder einer Antragsstellerin und dementsprechend über den Verfahrensausgang entscheidet. Geflüchtete, insbesondere jene, die aus Konfliktgebieten kommen, sind nicht nur in ihrem Herkunftsland Opfer von Missbrauch, Folter oder Verfolgung, sondern auch auf ihrer Flucht.

Die Beweisführung für die Darlegung dieser traumatischen Erfahrungen ist hingegen erschwert, da die psychischen und physischen Folgen häufig erst im Laufe der Zeit sichtbar werden oder von den Opfern selbst nicht benannt werden können. Insbesondere bei der Ermittlung von Folteropfern stellt sich eine Vielzahl von Herausforderungen, die sowohl die Asylverfahren als auch etwaige Revisionsverfahren erheblich beeinflussen können.

Istanbul-Protokoll: Anspruchsvolle Umsetzung

Opfer von Folter zu sein ist mit extremem physischem und psychischem Leiden verbunden, das sowohl für die betroffenen Personen als auch für die mit ihnen im Kontakt stehenden Fachleute eine Belastung darstellen. Um diesen enormen Herausforderungen gerecht zu werden, wurde das Istanbul-Protokoll (IP) entwickelt. Hierbei handelt es sich um ein internationales «Handbuch für die wirksame Untersuchung und Dokumentation von Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder entwürdigender Behandlung oder Strafe». Es wurde 1999 von der Turkish Human Rights Foundation und Physicians for Human Rights entwickelt und 2000 von der UNO-Generalversammlung verabschiedet. Mitte 2023 wurde die überarbeitete Version des IP implementiert.

Das IP formuliert internationale Richtlinien und beschreibt Untersuchungsmethoden und «Best Practice»-Standards. Die abgebildeten Prinzipien sind zwar nicht rechtsverbildlich, enthalten aber detaillierte Empfehlungen sowie praktische Hinweise für die Anwendenden. Wenn Staaten bekräftigen möchten, dass sie eine konsequente Prüfung von Foltervorwürfen durchführen, müssen sie sich jedoch an diese Richtlinien halten. Leider hat dieser Leitfaden bis heute noch nicht den notwendigen Stellenwert und die erforderliche Aufmerksamkeit erreicht. Sowohl in Deutschland, Österreich als auch in der Schweiz ist er unter Ärzt*innen und Rechtsexpert*innen noch ungenügend bekannt.
Dem Folterverdacht können sowohl Ärzt*innen, Anwält*innen, Psycholog*innen, Menschenrechtsbeobachter*innen oder Angehörige eines anderen Berufes nachgehen. Klar ist, dass zur Untersuchungskommission ein parteiloser und professioneller Rechtsbeistand gehören muss. Des Weiteren sollten Fachleute wie Patholog*innen, Gerichtsmediziner*innen, Psychiater*innen, Psycholog*innen, Gynäkolog*innen und Pädiater*innen für die Expertise zur Verfügung stehen. Zentral dabei ist jedoch die Einhaltung der ethischen Standards und das Einholen des Informed Consent (Einwilligung nach Aufklärung) vor jeder Untersuchung.

Im Rahmen meines CAS Forensic Nurse am Rechtsmedizinischen Institut, Zürich und meiner Projektarbeit zum Thema «Implementierung einer Forensic Nurse in einem Bundesasylzentrum, sinnvoll?» interviewte ich Fachleute aus der Medizin und Rechtswissenschaft zur Handhabung und Umsetzung des Istanbul Protokolls (IP) im Zusammenhang mit Geflüchteten in der Schweiz. Alle Expert*innen äusserten unabhängig voneinander dieselben Schwierigkeiten. Insgesamt kann festgestellt werden, dass eine der grössten Herausforderungen in der Anwendung des IP in der Praxis sicherlich dessen noch ungenügende Bekanntheit ist sowie das damit verbundene mangelnde Wissen und die spärliche Ausbildung in seiner Anwendung bei medizinischen und juristischen Fachkräften. Ebenfalls hindert die fehlende institutionelle und politische Unterstützung aufgrund der Komplexität und des enormen Ressourcenaufwandes die Fachleute, das Protokoll häufiger anzuwenden.

Ein Lösungsansatz: Einsatz der Forensic Nurses in den BAZ

Eine forensische Pflegekraft, eine sogenannte Forensic Nurse, bietet nicht nur die notwendige medizinische Versorgung. Sie verfügt ebenfalls über die Ausbildung und Expertise, sowohl Zeichen von körperlicher und sexueller Gewalt zu erkennen und zu dokumentieren als auch psychische Belastungen wie posttraumatische Belastungsstörungen, Angstzustände und Depressionen früh zu identifizieren. 

Die im Rahmen meiner Arbeit befragten Expert*innen sind einerseits skeptisch, dass mit dem Einsatz einer Forensic Nurse die konsequente Anwendung des Istanbul Protokolls zur Untersuchung von Folter im Asylzentrum gelingen würde. Dies aufgrund seiner expliziten Anforderungen und seiner Komplexität – die Implementierung dieses Handbuchs und die systematische Anwendung in einem definierten Zentrum sind aufgrund zeitlicher und finanzieller Ressourcenknappheit in der Regel unverhältnismässig.

Die Expert*innen sind sich andererseits aber einig, dass die Erfassung der Folterspuren durch eine Forensic Nurse grundsätzlich eine grosse Bedeutung für die Genauigkeit und Verlässlichkeit der Einschätzung des Opferstatus, allenfalls in einem späteren IP-Gutachten, hat. Eine ausgebildete Forensic Nurse kann zudem zur Erhöhung der Sicherheit und Wahrung der Rechte der Geflüchteten in einem Asylzentrum beitragen und hat durch die gut dokumentierte Beweisführung über das den Schutzsuchenden Widerfahrene entscheidende Bedeutung im Asylverfahren.

Weiterführende Informationen

  • Claudia Weidenhoffer (2024). Implementierung einer Forensic Nurse in einem Bundesasylzentrum, sinnvoll? Diplomarbeit im Rahmen des CAS Forensic Nurse am Rechtsmedizinischen Institut, Zürich.
  • Istanbul-Protokoll | V&R eLibrary Frewer, Furtmayr, Krása, & Wenzler (2012).