12.08.2024
Das SEM hat am 17. Juli 2023 eine Praxisänderung entschieden, wonach Afghaninnen als Opfer diskriminierender Gesetzgebung und wegen religiöser Verfolgung in der Schweiz leichter den Flüchtlingsstatus erhalten. Gemäss Urteil vom 27. März 2024 des Bundesverwaltungsgerichts ist diese Praxisänderung jedoch nicht auf humanitäre Visa übertragbar.
Eine Frau aus Afghanistan hat zusammen mit ihren zwei Töchtern und ihrem minderjährigen Sohn in Pakistan ein Gesuch für ein humanitäres Visum gestellt. Sie argumentierte, dass sie, weil sie verwitwet ist, von den Taliban bedroht werde. Das Gesuch wurde abgelehnt. Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte den negativen Entscheid des SEM. Die Frau hätte nicht überzeugend darlegen können, dass sie einer offensichtlichen und unmittelbaren, ernsthaften und konkreten Gefahr für Leib und Leben im Sinne von Art 4 Abs. 2 der Verordnung über die Einreise und Visumerteilung ausgesetzt wäre, die sich massgeblich von anderen dort lebenden Personen abhebe. Die blosse Eigenschaft, in Afghanistan eine Frau zu sein und nicht über ein «männliches Familienoberhaupt» zu verfügen, führe nicht zu einem Anspruch auf ein humanitäres Visum.
Situation von Frauen und Mädchen in Afghanistan
Seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan im August 2021 hat sich die Situation insbesondere für Frauen und Mädchen im Land drastisch verschlechtert. Die Scharia wurde als Rechtsgrundlage eingesetzt, Todes- und Körperstrafen wieder eingeführt. Afghanischen Frauen werden Grundrechte verwehrt und sie sind Diskriminierung ausgesetzt.
Praxisänderung SEM
Am 17. Juli 2023 hat das SEM eine Praxisänderung betreffend Frauen und Mädchen, die aus Afghanistan geflüchtet sind, in Kraft gesetzt. Weibliche Asylsuchende aus Afghanistan können seither als Opfer von diskriminierender Gesetzgebung und religiös motivierter Verfolgung betrachtet werden. Diese Praxisänderung bedeutet verbesserte Chancen auf einen positiven Entscheid. Das SEM begründete diese Praxisänderung mit der verschlechterten Situation von Afghaninnen in verschiedenen Lebensbereichen. Zudem folgte die Praxisänderung einer Empfehlung der Europäischen Asylagentur (EUAA), die festgestellt hat, dass Frauen und Mädchen unter der Herrschaft der Taliban begründete Angst vor flüchtlingsrelevanter Verfolgung haben.
Humanitäre Visa
Das humanitäre Visum wurde in der Schweiz 2012 eingeführt. Es löste das «Botschaftsasyl» ab und wurde bewusst strenger als dieses geregelt. Es sollte die «humanitäre Tradition» der Schweiz beibehalten und an Personen ausgestellt werden, die im Herkunftsstaat unmittelbar, ernsthaft und konkret an Leib und Leben gefährdet sind.
Beweisanforderungen
Der Fall der afghanischen Witwe und ihrer Kinder scheiterte vor dem Bundesverwaltungsgericht daran, dass die Anforderungen an die Beweise, die die Gesuchsstellenden erbringen müssen, sehr hoch angesetzt sind. Im Unterschied zum Asylverfahren, wo ein «Glaubhaftmachen» ausreicht, muss beim Gesuch auf ein humanitäres Visum «offensichtlich» werden, dass die Person sich in Lebensgefahr befindet. Dass im Asylverfahren keine hohen Beweisanforderungen, sondern ein Glaubhaftmachen gilt, trägt der schwierigen Situation von Flüchtenden Rechnung. Der Gesetzgeber hat hier anerkannt, dass die Beschaffung und der Erhalt von Beweismitteln auf der Flucht schwierig sind. Im Urteil vom 27. März 2024 hat das Bundesverwaltungsgericht zum Beispiel die Aussage der Beschwerdeführenden, ihr Haus sei von den Taliban durchsucht und abgebrannt worden, nicht in die Beurteilung des Falles einfliessen lassen können, da die Aussage ohne weitere Beweismittel nicht als bewiesen gilt. Hätte die Frau in einem Asylverfahren davon erzählt, wäre ihre Aussage jedoch bloss auf Glaubhaftigkeit überprüft worden.
Sowohl das Asyl als auch das humanitäre Visum sind darauf ausgelegt, an Leib und Leben bedrohten und verfolgten Menschen zu helfen. Menschen, die sich in Krisengebieten aufhalten und auf der Schweizer Botschaft Hilfe in Anspruch nehmen wollen, müssen jedoch deutlich höhere Anforderungen erfüllen als Menschen, die bereits in der Schweiz sind.
Weitere Urteile
Das Urteil vom 27. März 2024 reiht sich in eine Reihe von Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts ein, die sich mit abgewiesenen Gesuchen für humanitäre Visa von Afghan*innen beschäftigen.
Im Urteil vom 8. September 2023 wurde einem ehemaligen Staatsanwalt aus Afghanistan und seiner Familie das Gesuch auf ein humanitäres Visum gutgeheissen. Das Gericht bestätigte, dass der Beschwerdeführer als Staatsanwalt ein gewisses Risikoprofil aufweise. Das Urteil wurde von Organisationen, die sich für Geflüchtete einsetzen, begrüsst.
Im Urteil vom 7. März 2024 wurde einer afghanischen Frauenrechtlerin, welche in ihrem Heimatland früher die Abteilung für Frauenangelegenheiten geleitet hatte, das humanitäre Visum verwehrt. Das Gericht meinte zwar, dass sie durchaus über ein gewisses Risikoprofil verfügte, liess den Fall jedoch an den Anforderungen an die Beweise scheitern.
(Republik Artikel: Fall von Frauenrechtlerin)
Auch bei den Urteilen über Asylgesuche von Afghan*innen ist die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht einheitlich. So wurde Ende November 2023 in einem Urteil die Praxisänderung des SEM bestätigt. Das Urteil setzte sich vertieft mit der zunehmend schlimmer werdenden Situation für Frauen und Mädchen in Afghanistan auseinander und gewährte den Gesuchstellerinnen, zwei Schwestern aus Afghanistan, Anspruch auf Asyl. Im April 2024 fällte ein anderes Richter*innen-Gremium des Bundesverwaltungsgerichts jedoch ein Urteil (BVGer E-2303/2020), in welchem sie zwar bestätigten, dass die Praxisänderung des SEM so ausgelegt werden könnte, dass alle Afghaninnen in der Schweiz Anspruch auf Asyl hätten, dies würde jedoch «weder im Einklang mit der Praxis, noch mit den Gesetzen» stehen.