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Das Gesundheitswesen im Strafvollzug – Zwischen Fürsorge und Repression

12.09.2024

Gemäss dem jährlichen Statusbericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) leiden Personen im Strafvollzug überproportional häufig an komplexen Gesundheitsproblemen, wie Sucht-  oder Infektionskrankheiten (z.B. Hepatitis A, B, C, HIV und Tuberkulose). Inhaftierte Menschen im Vereinigten Königreich suchen im Durchschnitt dreimal häufiger medizinische Fachpersonen auf als die allgemeine Bevölkerung, in Belgien sogar 3,8-mal häufiger. Eine Studie von 2007 im Genfer Gefängnis Champ-Dollon deutet darauf hin, dass die Situation in der Schweiz ähnlich ist.

Trotz dieser erhöhten medizinischen Bedürfnisse ist die sogenannte intramurale Gesundheitsversorgung in der Schweiz nur unzureichend gesetzlich geregelt. Internationale Richtlinien dienen oft als Grundlage, während die Regelungen auf kantonaler Ebene stark variieren. Einer der wichtigsten menschenrechtlichen Grundsätze ist das Äquivalenzprinzip, das besagt, dass die medizinische Versorgung im Strafvollzug in Qualität und Umfang derjenigen der Allgemeinbevölkerung gleichwertig sein muss. Es handelt sich demnach um den Massstab, nach dem sich die intramurale Gesundheitsversorgung hinsichtlich Art und Umfang richten soll. So simpel der Grundsatz auf den ersten Blickt erscheint, stellen sich bei der Umsetzung zahlreiche Herausforderungen.

Ein Schlüsselelement für eine gleichwertige Gesundheitsversorgung ist der Abbau von Barrieren, die Inhaftierte daran hindern, notwendige medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Dabei spielt das Vertrauen in die behandelnden Ärzt*innen und deren Unabhängigkeit eine entscheidende Rolle. Um dies zu gewährleisten, fordert das Äquivalenzprinzip eine organisatorische und hierarchische Trennung zwischen dem medizinischen Personal und der Vollzugsverwaltung. Auf Anstaltsebene bedeutet dies, dass der medizinische Dienst klar von der Gefängnisadministration getrennt sein muss. Diese Forderung wird auch in den Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) und im Bericht der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) unterstützt.

Trotz dieser klaren Empfehlungen und menschenrechtlichen Anforderungen werden sie in den meisten Schweizer Kantonen nicht umgesetzt. Besonders in der Deutschschweiz sind die medizinischen Dienste oft direkt der Gefängnisleitung unterstellt, was aus menschenrechtlicher Perspektive problematisch ist, denn die ärztlichen Entscheidungen dürfen nicht von den Interessen der Gefängnisleitung beeinflusst werden.

Eine weitere Herausforderung im Strafvollzug ist die Kostenbeteiligung. Unter anderem aufgrund der sehr tiefen Entlohnung der Arbeitspflicht, befinden sich viele Inhaftierte in einer sehr prekären finanziellen Lage. Hohe Krankenkassenprämien und Selbstbehalte führen dazu, dass dringend benötigte medizinische Behandlungen oft nicht oder zu spät in Anspruch genommen werden. Auch die bevorstehende parlamentarische Initiative, die vorsieht, das Krankenkassenobligatorium auf alle Inhaftierten auszuweiten, löst dieses Problem nicht. Denn die Vorlage sieht eine Kostenbeteiligung der inhaftierten Personen «soweit zumutbar» vor. Krankenkassenprämien und Kostenbeteiligungen gelten als persönliche Auslagen, die durch die Arbeit der Inhaftierten bezahlt werden müssen. Wenn dies nicht möglich ist, kann eine Prämienverbilligung beim Kanton beantragt werden, deren Höhe jedoch im Ermessen des Kantons liegt. Da inhaftierte Personen nur 25 bis 28 Franken pro Tag verdienen, wird diese Regelung nichts an der grundsätzlichen Problematik der Kostenbarriere ändern.

Inhaftierte leiden überproportional häufig an Gesundheitsproblemen wie Sucht- und Infektionskrankheiten. Trotz des erhöhten Bedarfs ist die Gesundheitsversorgung im Schweizer Strafvollzug gesetzlich unzureichend geregelt. Das Äquivalenzprinzip fordert eine gleichwertige medizinische Versorgung wie für die Allgemeinbevölkerung, jedoch mangelt es in der Schweiz an unabhängigen medizinischen Diensten, da diese oft der Gefängnisleitung unterstellt sind. Zudem erschweren geringe Löhne und hohe Kostenbeteiligungen den Zugang zu notwendiger Behandlung. Um die Gesundheitsrechte der Inhaftierten zu wahren und menschenwürdige Haftbedingungen sicherzustellen, muss die Schweiz das Gesundheitssystem in den Gefängnissen folglich deutlich reformieren.

Literatur

  • Fazel Seena/Bains Parveen/Doll Helen: Substance abuse and dependence in prisoners: a systematic review, in: Addiction, 2/2006, S. 181 ff.
  • Dolan Kate et al: Global burden of HIV, viral hepatitis, and tuberculosis in prisoners and detainees, in: Lancet 388/2016, S. 1089 ff.
  • Niveau Gérard: Relevance and limits of the principle of “equivalence of care” in prison medicine, in: Journal of Medical Ethics October 10/2007, S. 610 ff.  
  • Feron Jean-Marc et al: Substantial use of primary health care by prisoners: epidemiological description and possible explanations, in: J Epidemiol Community Health, 59/2005 S.651 ff. 
  • Wolff Hans: Gute Versorgung in Haft!? Betrachtung ausserhalb deutscher Zwänge: Genf, Schweiz, in: Lehmann Marc, Behrens Marcus, Drees Heike (Hrsg.): Gesundheit und Haft, Handbuch für Justiz, Medizin, Psychologie und Sozialarbeit, Lengerich 2014 S. 556 ff.
  • Brägger Benjamin F./Zangger Tanja: Freiheitsentzug in der Schweiz, Handbuch zu grundlegenden Fragen und aktuellen Herausforderungen, Bern 2020.
  • Meier Bernd-Dieter: Äquivalenzprinzip, in: Keppler Karlheinz, Stöver Heino (Hrsg.): Gefängnismedizin, Medizinische Versorgung unter Haftbedingungen, Stuttgart 2009, S. 76 ff. 
  • Sprumont Dominique et al. - Zusammenfassung: Ärztliche Praxis in Hafteinrichtungen, Wirksamkeit der Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften zur Ausübung der Ärztlichen Tätigkeit bei inhaftierten Personen, Neuchatel 2009.
  • Salathé Michelle: Die Bedeutung der ärztlichen Unabhängigkeit in der Vollzugsmedizin, in: Franz Riklin/ Bettina Mez: Materialien der “Fachgruppe Reform im Strafwesen”, Gefängnismedizin und Strafjustiz, eine unheilvolle Verbindung?, Bern 2012, S. 65 ff.