22.06.2017
(weitgehend von Schutzfaktor M übernommen)
Eine Frau aus Eritrea und ihr kleiner Sohn haben sich vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wegen der unhaltbaren Zustände in Italien gegen die Wegweisung aus der Schweiz nach Italien gewehrt. Der EGMR ist auf diese Beschwerde nicht eingetreten, da die Beschwerdeführer von Italien bereits als Flüchtlinge anerkannt worden sind und sie ihre Ansprüche deshalb in Italien durchsetzen müssen.
Sachverhalt
Die Beschwerdeführerin eritreischer Herkunft wurde 2006 in Italien als Flüchtling anerkannt. In Rom lebte sie während Jahren als Obdachlose unter sehr prekären Bedingungen. Im März 2009 stellte sie in der Schweiz ein Asylgesuch, und im Juni 2009 gebar sie ihren Sohn. Doch ihr Asylgesuch in der Schweiz wie auch ihr daraufhin in Norwegen gestelltes Asylgesuch wurden abgelehnt, und sie wurde beide Mal mit dem Kleinkind nach Italien ausgewiesen. Im November 2011 stellte sie ein erneutes Asylgesuch in der Schweiz, welches aufgrund ihres Status als anerkannter Flüchtling in Italien vom BFM (heutiges SEM) im Oktober 2012 wiederum abgewiesen wurde.
Im September 2013 stellte die Beschwerdeführerin zusammen mit ihrem Sohn ein Wiedererwägungsgesuch vor dem Bundesverwaltungsgericht (BVGer). Trotz verspäteter Eingabe untersuchte das BVGer, ob die Eritreerin und ihr Sohn nach der Wegweisung nach Italien einer menschenrechtswidrigen Behandlung ausgesetzt wären. Gemäss des BVGer könne Italien aber nicht vorgeworfen werden, seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht nachzukommen. Zudem würden die Beschwerdeführer als anerkannte Flüchtlinge in Italien Bewegungsfreiheit geniessen, womit sie sich grundsätzlich am Ort ihrer Wahl niederlassen könnten. Auch wenn das BVGer bestätigt, dass in Rom unhaltbare Zustände für gewisse Personengruppen bestehen, sei nicht ganz Italien von strukturellen Mängeln betroffen und die Beschwerdeführer hätten in anderen Regionen Italiens bessere Möglichkeiten, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Aus diesem Grund wies das BVGer das Gesuch der Beschwerdeführer ab und bestätigte die Wegweisung zurück nach Italien.
Vor dem EGMR klagt die eritreische Mutter mit ihrem Sohn sowohl gegen die Schweiz als auch Italien und macht eine Verletzung des Verbots von Folter und unmenschlicher Behandlung (Art. 3 EMRK) sowie des Rechts auf das Privat- und Familienleben (Art 8 EMRK) geltend. Die Schweiz habe zudem ihr Recht auf eine wirksame Beschwerde (Art. 13 EMRK) verletzt.
EGMR tritt auf Beschwerde nicht ein
In früheren sogenannten Dublin-Urteilen hat der EGRM entschieden, dass eine Rückführung von Asylsuchenden in denjenigen EU-Staat, wo sie den ersten Asylantrag gestellt haben, ohne vorgängige vertiefte Abklärungen über die dortigen Verhältnisse die EMRK verletzen kann (z.B. Tarakhel gegen Schweiz vom 04. November 2014). Im Unterschied zu diesen Fällen geht es im vorliegenden Fall aber nicht um Personen, welche sich noch im Asylverfahren befinden, sondern um in Italien bereits anerkannte Flüchtlinge.
Gemäss des EGMR ist die Beschwerde offensichtlich unbegründet, weshalb nicht darauf eingetreten wird. Damit stützt der EGMR das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts. Ausschlaggebend ist, dass es sich bei den Beschwerdeführenden um durch Italien bereits anerkannte Flüchtlinge handelt, welche demnach in Italien einen Anspruch auf Sozialhilfe hätten. Zudem würde der Mutter das Recht auf Arbeit zustehen. Der EGMR folgt seiner früheren Rechtsprechung, wonach Art. 3 EGMR keinen generellen Anspruch auf Unterkunft und finanzielle Unterstützung garantiert.
Der EGMR hält fest, dass die Beschwerdeführer zuerst in Italien versuchen müssen, ihre Ansprüche durchzusetzen, die sie aufgrund ihrer bereits anerkannten Flüchtlingseigenschaft haben. Italien habe vor dem Gerichtshof des Weiteren erklärt, dass den Beschwerdeführern nach ihrer Rückkehr eine familiengerechte Unterkunft zur Verfügung gestellt wird. Die Schweiz kann die Mutter und ihren Sohn somit nach Italien ausweisen, unter der Voraussetzung, dass sie die italienischen Behörden darüber informiert.
EGRM stützt erneut Schweizer Behörden
Mit dem Urteil vom 22. Juni 2017 hat der EGMR somit erneut die Schweizer Behörden bei einer angefochtenen Wegweisung gestützt. Insbesondere erachtet der EGMR die italienische Erklärung, die internationalen Standards einzuhalten, als ausreichend. Schutzfaktor M bedauert allerdings, dass weder das Bundesverwaltungsgericht noch der EGMR die Frage des Kinderwohls näher geprüft haben. Zudem sollte die Schweiz die Angelegenheit beobachten und kontrollieren, ob die Beschwerdeführer in Italien tatsächlich eine familiengerechte Unterkunft erhielten.
- E.T. und N.T. v. Schweiz und Italien
EGMR-Entscheid vom 30. Mai 2017 (Beschwerde-Nr. 79480/13) - E.T. und N.T. v. Schweiz und Italien (online nicht mehr verfügbar)
Medienmitteilung von Dialog EMRK vom 22. Juni 2017 - EGMR-Fall Tarakhel: Wichtiger Entscheid für den Schutz von Flüchtlingen in Europa
humanrights.ch