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Strassburg verurteilt die Schweiz erneut wegen Rückführung eines Homosexuellen

23.01.2025

Das Urteil M.I. gegen die Schweiz markiert erneut eine Verurteilung der Schweiz durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen Verstosses gegen das Verbot von Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (Art. 3 EMRK). Der Gerichtshof stellte fest, dass die Rückführung eines homosexuellen iranischen Asylbewerbers in sein Herkunftsland diesen einem realen Risiko unmenschlicher Behandlung aussetzen würde.

In seinem Urteil vom 12. November 2024 kommt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zum Schluss, dass die Schweizer Behörden das Risiko einer Misshandlung eines homosexuellen iranischen Staatsbürgers nicht ausreichend geprüft und den fehlenden Schutz des iranischen Staates vor einer solchen Behandlung durch die Familie oder andere nichtstaatliche Akteur*innen nicht berücksichtigt haben. Das Gericht entscheidet daher, dass die Rückführung ohne eine erneute Prüfung zu einem Verstoss gegen Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) führen würde. Dieses neue Urteil schliesst sich an den Fall B. und C. gegen die Schweiz an, in dem die Schweiz 2020 wegen der Abschiebung eines homosexuellen Bürgers nach Gambia wegen Verstosses gegen das Verbot der unmenschlichen Behandlung verurteilt worden war. Die Schweiz hatte nicht ausreichend geprüft, ob in Gambia, wo ein weitgehend homophobes Klima herrscht, der Schutz vor Verfolgung durch nichtstaatliche Akteur*innen gewährleistet ist.

Trotz der Risiken in den Iran zurückgeschickt

M.I. beschloss, sein Land zu verlassen, nachdem er von seiner Familie aufgrund seiner sexuellen Orientierung verfolgt worden war. Er flüchtete 2019 in die Schweiz und stellte dort am 28. März einen Asylantrag. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) lehnte das Gesuch mit der Begründung ab, es sei vernünftig, von einer asylsuchenden Person zu erwarten, dass sie ihre sexuelle Orientierung ausserhalb ihres engsten Freund*innenkreises geheim hält. Der Asylsuchende reichte daraufhin eine Beschwerde gegen den Entscheid des SEM beim Bundesverwaltungsgericht (BVGer) ein. In seinem Urteil vom 2. Juni 2021 lehnte das BVGer die Beschwerde ab und bestätigte den Entscheid des SEM. M.I stellte daraufhin einen Antrag auf Revision der Entscheidung des BVGer, der am 1. Dezember 2022 ebenfalls abgewiesen wurde. Der Beschwerdeführer stellte schliesslich einen Antrag auf einstweilige Massnahmen beim EGMR.

Der Beschwerdeführer warf den Schweizer Behörden vor, keine sorgfältige, genaue und unabhängige Prüfung der Situation im Iran durchgeführt zu haben und insbesondere den sozialen Kontext im Iran, der von einer feindlichen Haltung gegenüber LGBTQIA+ Personen geprägt ist, nicht berücksichtigt zu haben. M.I. behauptete, dass eine Rückkehr in den Iran ihn vielfältigen Risiken wie Verhaftung, Misshandlung oder sogar dem Tod aussetzen würde, die sowohl von den Behörden als auch von seiner Familie oder anderen nichtstaatlichen Akteur*innen ausgehen würden.

Die Schweizer Behörden bezweifelten die Glaubwürdigkeit der Erzählung des Beschwerdeführers und warfen ihm vor, die Ereignisse zu vage und unvollständig beschrieben zu haben. Sie waren der Ansicht, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in den Iran keine Misshandlung drohe, sofern er seine Homosexualität «diskret» auslebe, da er in den letzten acht Jahren im Iran nicht mit solchen Risiken konfrontiert worden sei.

Die sexuelle Orientierung soll nicht verheimlicht werden müssen

Am 23. November 2021 entschied der EGMR positiv über den Antrag des Beschwerdeführers und teilte der Schweiz mit, dass sie den Beschwerdeführer nicht abschieben könne, solange das Verfahren noch liefe. In seinem Urteil vom 22. November 2024 kam der Gerichtshof zunächst unter Bezugnahme auf das Urteil J.K. und andere gegen Schweden zu dem Schluss, dass die nationalen Behörden bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Aussagen von Asylbewerber*innen im Zweifel für den Angeklagten entscheiden müssen, insbesondere wenn Beweise für Verfolgung schwer zu beschaffen seien. Der Gerichtshof wies auch darauf hin, dass die Risikoprüfung durch nationale Berichte und andere zuverlässige und objektive Quellen unterstützt werden müsse.

Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass die sexuelle Orientierung des Beschwerdeführers, unabhängig davon, ob sie den iranischen Behörden, Familienmitgliedern oder der Öffentlichkeit bekannt ist, später entdeckt werden könnte, wenn der Beschwerdeführer in den Iran zurückgeschickt würde. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) ist ebenfalls der Ansicht, dass die Tatsache, dass ein*e Antragsteller*in Verfolgung vermeiden kann, indem er/sie sich verheimlicht, oder dass er/sie dies in der Vergangenheit tun musste, kein triftiger Grund für die Verweigerung des Flüchtlingsstatus ist. Er weist darauf hin, dass die Geheimhaltung der sexuellen Orientierung an sich keine Lösung darstellt, und ist der Ansicht, dass das Risiko der Verfolgung und Entdeckung nicht nur vom Verhalten des Einzelnen abhängt, sondern auch vom gesellschaftlichen Kontext, der von jeder Person verlangt, sich an gesellschaftliche Normen (wie Heiraten, Kinder haben) zu halten.

Kein Schutz für LGBTQIA+ Personen im Iran

Die Strassburger Richter*innen sind ausserdem der Ansicht, dass die Schweizer Behörden nicht ausreichend geprüft haben, ob die iranischen Behörden willens und in der Lage wären, den Beschwerdeführer im Falle einer Verfolgung nach seiner Rückkehr wirksam zu schützen.

Unter Bezugnahme auf das Urteil F.G. v. Schweden erinnert der EGMR daran, dass in solchen Asylantragskontexten, in denen ein allgemeines Risiko wohlbekannt ist, die nationalen Behörden von Amts wegen eine Risikobewertung im konkreten Fall vornehmen müssen.

Im Fall des hier relevanten Beispiels des Iran sind die Menschenrechtsverletzungen an LGBTQIA+ Personen jedoch hinreichend und umfassend dokumentiert. Die Organisationen Stonewall und African Rainbow Family bestätigten in einer Drittintervention die verschiedenen Risiken, denen LGBTQIA+ Personen ausgesetzt sind. Dazu zählen Zwangsheirat, Belästigung, Gewalt und Ehrenmorde, die sowohl von Familienmitgliedern als auch von nichtstaatlichen Akteur*innen begangen werden. Das Urteil stützt sich auch auf den Bericht des Sonderberichterstatters über die Menschenrechtslage in der Islamischen Republik Iran, der die Risiken für LGBTQIA+ Personen im Iran dokumentiert. Letzteren drohen Strafen von Auspeitschen bis hin zur Todesstrafe, wie die beiden für 2021 erfassten Hinrichtungen belegen.

Der britische Länderbericht «Country Policy and information Note: sexual orientation and gender identity or expression, Iran, June 2022» betonte nicht nur, dass es im Iran keine Gesetze zum Schutz von LGBTQIA+ Personen gibt, sondern auch, dass der Staat nicht gewillt ist, einen solchen Schutz einzuführen. Die Berichte erwähnen auch die Weigerung der iranischen Behörden, Gewalt gegen diese Personengruppe zu untersuchen, zu verfolgen und zu bestrafen.

Auch wenn die Existenz von Gesetzen, die homosexuelle Handlungen unter Strafe stellen, nicht dazu führt, dass die Ausweisung einer Person in dieses Land gegen Artikel 3 EMRK verstösst, so ist dies nach Ansicht des EGMR dann der Fall, wenn ein reales Risiko besteht, dass diese Gesetze tatsächlich angewendet werden. Der Gerichtshof ist zudem der Ansicht, dass ein staatlicher Schutz von den Schweizer Behörden hätte eingerichtet werden müssen.