14.01.2025
Im Juni 2023 entschied der europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass die Schweiz im Sperisen-Prozess das Recht auf ein faires Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht nach Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt hat. Der Gerichtshof stellte fest, dass die vorsitzende Richterin der Berufungs- und Revisionsinstanz nicht die geforderte Unparteilichkeit geboten hat.
Gemäss dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg vom 13. Juni 2023, kam der EGMR zum Schluss, dass im Sperisen-Prozess hinsichtlich des Rechts auf ein unparteiisches Gericht tatsächlich Sperisens Menschenrechte verletzt wurden. Sperisen beanstandete die Unparteilichkeit der vorsitzenden Richterin der Berufung- und Revisionsinstanz des Kantons Genf, da diese mehrere Beschlüssen Formulierungen verwendete, die Zweifel an ihrer Unparteilichkeit aufkommen liessen.
Der Sperisen-Prozess beschäftigt die Schweizer Gerichte bereits seit 2014. Nachdem Sperisen wegen der Ermordung sieben Gefangener während der Erstürmung der Haftanstalt Pavon Guatemala zu 15 Jahren Haft verurteilt wurde, begann 2014 ein Prozess, der sich bis ins Frühjahr Jahr 2024 hinzog und auch dann noch immer nicht abgeschlossen zu sein schien. Die Grundzüge des Sperisen-Prozesses wurden von humanrights.ch bereits in einem Artikel beschrieben.
Der EGMR befasste sich in seinem Entscheid mit den Vorwürfen der Unparteilichkeit der leitenden Richterin, welche von Sperisen erhoben wurden. Nachdem Sperisen am 27. April 2018 erneut durch die Berufung- und Revisionsinstanz verurteilt wurde, legten seine Anwälte Beschwerde beim Bundesgericht ein und beantragten den Ausstand der Gerichtspräsidentin der kantonalen Berufungs- und Revisionskammer. Das Ausstandsgesuch wurde vom Bundesgericht abgelehnt. Der EGMR hingegen beurteilte die Bemerkungen der Richterin in einer Stellungnahme vom 3. Oktober 2017 als «über den Ausdruck eines blossen Verdachts hinausgehend» und befand, dass Sperisen vernünftigerweise vermuten durfte, dass die vorgefasste Meinung der Richterin über seine Schuld, auch in ihre Funktion als Berufungsrichterin einfliesst. Folglich wurde Sperisen aufgrund der fehlenden Unparteilichkeit der Richterin das Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 EMRK verwehrt.
Fehlende Unparteilichkeit der Richterin
Ein von Sperisen gestellter Antrag auf Haftentlassung im Jahre 2017 wies die Richterin, welche in ihrer Funktion als Haftrichterin handelte, zurück. Nach weiteren Anhörungen mit derselben Richterin, stellte Sperisen seinen ersten Antrag. Darin forderte er, dass die Richtern aufgrund fehlender Unparteilichkeit in den Ausstand treten solle. Die ihr vorgeworfene Voreingenommenheit soll unter anderem dazu veranlasst haben, die von Sperisen geforderte Haftentlassung abzulehnen. Sämtliche gestellten Ausstandsgesuche wurden abgelehnt.Im April 2018 wurde Sperisen vom Berufungs- und Revisionsgericht in Genf der Beihilfe zum Mord schuldig gesprochen und zu 15 Jahren Haft verurteilt. Die besagte Richterin, welche die Haftentlassung abgelehnt hatte, agierte dabei in ihrer Funktion als Berufungsrichterin. Daraufhin focht Sperisen das Urteil an, unter anderem auf der Basis des Beschwerdegrunds, dass seitens der Richterin angebrachten Begründungen in den Haftentlassungsgesuchen zeigten, dass sie in als Berufungsrichterin nicht unparteiisch war.
Der EGMR definiert die Unparteilichkeit im Fehlen von Vorurteilen und Voreingenommenheit. Er stellt klar, dass die alleinige Tatsache, dass ein Berufungsrichter bereits vor dem Prozess Entscheidungen traf, insbesondere über die Untersuchungshaft, keine Unparteilichkeit begründet.
Der Gerichtshof befasste sich hingegen mit der von der Richterin getätigten Aussage im Rahmen des Haftentlassungsgesuches. Sie brachte zum Ausdruck, dass gegen Herr Sperisen «hinreichende Anschuldigungen» vorlägen, die die Aussicht auf eine Verurteilung «wahrscheinlich» machten und dass Teile der Strafakte «für eine Schuld sprechen». Die Richterin hat sich auf Ermittlungsakten abgestützt, die bereits vollständig und abgeschlossen waren und nicht auf diejenigen zum Zeitpunkt des Ermittlungsbeginns. Der Gerichtshof geht schliesslich davon aus, dass die Richterin in ihrer Stellungnahme über die Äusserung eines blossen Verdachts hinausging und sie keine Differenzierung mehr zeigte zwischen der Beurteilung der Notwendigkeit der weiteren Haft und der Feststellung der Schuld am Ende des Verfahrens. Sperisen musste daher befürchten, dass die Richterin in ihrer Funktion als Berufungsrichterin eine vorgefasste Meinung über seine Schuld hatte. Der EGMR befand, dass die von der entsprechenden Richterin geleitete Berufungsinstanz, nicht die Garantien der Unparteilichkeit bot, welche Art. 6 Abs. 1 EMRK fordert.
Er kritisierte zudem die Haftbedingungen im Gefängnis von Champ-Dollon, die seiner Ansicht nach eine erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK darstellten. Während seiner Haftzeit war er fünf Jahre lang in Isolationshaft. Bereits 2016 wurden seine Haftbedingungen vom Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter (CPT) beanstandet. Dennoch ergriffen die Schweizer Behörden keine der vom CPT empfohlenen Massnahmen. Da jedoch die nationalen Rechtsmittel gegen die rechtswidrigen Haftbedingungen nicht ausgeschöpft worden waren, wies das Gericht diese Rüge zurück.
Darüber hinaus beanstandete Sperisen die unangemessene Dauer seiner Untersuchungshaft, seiner Sicherheitshaft sowie den nach seiner Haftentlassung angeordneten Hausarrest. Er berief sich dabei auf Art. 5 Abs. 3 EMRK (Recht auf Aburteilung innerhalb einer angemessenen Frist). Diese Rüge wurde jedoch verspätet vorgebracht und daher ebenfalls vom Gericht zurückgewiesen.
Neues Verfahren in der Schweiz
Nach einem rechtskräftigen Urteil des EGMR kann die Revision des Urteils beim Bundesgericht beantragt werden, wenn eine Verletzung der Menschenrechtskonvention vorliegt. Aufgrund der vorliegenden Verletzung des Rechts auf Unparteilichkeit im Verfahren setze das Bundesgericht das Verfahren auf den Zeitpunkt zurück, als die befangene Richterin das Haftentlassungsgesuch ablehnte. Daraus folgte die Aufhebung der kantonalen Verurteilung von Sperisen zu 15 Jahren Haft wegen Beihilfe zu Mord, was dessen Haftentlassung zur Folge hatte.
Die Genfer Berufungs- und Revisionsstrafkammer beurteilte den Fall erneut und sprachen Sperisen der Beihilfe zum Mord schuldig, diesmal wurde er zu 14 Jahren Haft verurteilt. Das Strafmass wurde somit leicht reduziert, jedoch wurde er nicht wieder in Haft genommen. Das Urteil wird von Sperisens Verteidigung voraussichtlich ans Bundesgericht weitergezogen.
humanrights.ch verfolgt den Fall von Sperisen insbesondere aufgrund der äusserst problematischen Haftbedingungen, die in einer zu langen und schädlichen Isolationshaft gipfelten.