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Keine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren durch ungerechtfertigte Verweigerung der amtlichen Verteidigung

30.05.2024

In einem Urteil vom 28. März 2023 entschied der EGMR, dass die Schweiz durch Verweigerung der unentgeltlichen Rechtspflege und amtlichen Verbeiständung Art. 6 der Konvention (Recht auf faires Verfahren) nicht verletzt hat. Dies, obwohl der Gerichtshof eine Verteidigung im zu beurteilenden Fall für zwingend erforderlich hielt.

Ein algerischer Mann, der seit 2009 in der Schweiz lebte, entwendete am 19. März 2016 eine Tasche aus einem parkierten Auto. Deswegen wurde er mit Strafbefehl vom 20. März 2016 zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 75 Tagen verurteilt. Nachdem er während der ersten (polizeilichen) Einvernahme noch auf eine rechtliche Vertretung sowie Übersetzung verzichtet hatte, mandatierte er für das folgende Einsprache-Verfahren einen Rechtsanwalt. Den von diesem gestellte Antrag auf amtliche Verteidigung (Art. 132 StPO) lehnte die Staatsanwaltschaft mit Zwischenverfügung vom 25. Mai 2016 ab. Sie begründete, dass die Angelegenheit in juristischer Sicht nicht besonders komplex und der Beschwerdeführer auf die amtliche Verteidigung nicht angewiesen sei. Dagegen legte selbiger die nötigen innerstaatlichen Rechtsmittel ein, welche allesamt abgelehnt wurden, letztinstanzlich durch das Bundesgericht mit Urteil vom 22. November 2016. Er erhob deshalb Beschwerde an den EGMR.

In der Hauptsache wurde die von der Staatsanwaltschaft ausgefällte Verurteilung (75 Tage Freiheitsstrafe unbedingt) mit Urteil vom 13. März 2017 reduziert und der Beschwerdeführer zu einer Geldstrafe von 30 Tagsätzen zu Fr. 30.- verurteilt, unter Auferlegung einer Probezeit von drei Jahren. Diese Verurteilung wurde, soweit ersichtlich, nicht angefochten und erwuchs in Rechtskraft.

Diametral entgegengesetzte Standpunkte

Der EGMR hatte nun zu beurteilen, ob die Schweiz durch die Verweigerung der amtlichen Verteidigung Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 EMRK verletzt hat. Der Beschwerdeführer führte dazu aus, dass er aufgrund seiner persönlichen Situation nicht in der Lage war, seine Rechte selbst wahrzunehmen, sondern hierfür auf die Unterstützung eines spezialisierten Rechtsanwalts zwingend angewiesen war. Hiergegen argumentierte die Schweiz, dass der Beschwerdeführer während des gesamten Verfahrens effektiv durch einen Rechtsanwalt seiner Wahl vertreten war, mithin seine aus Art. 6 EMRK fliessenden Rechte durch die Verweigerung der amtlichen Verteidigung nicht verletzt worden seien. Ferner sei die Bestellung eines amtlichen Verteidigers vorliegend nicht angezeigt und die drohende Strafe von geringer Schwere gewesen.

EGMR stellt keine Verletzung von Art. 6 EMRK fest

Der Gerichtshof fasst zunächst seine Rechtsprechung zur Verfahrensfairness in Strafsachen zusammen. Spezifisch die amtliche Verteidigung betreffend erwägt er, dass eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und 3 bejaht wird, wenn (a) der Mitgliedstaat die Verweigerung nicht überzeugend begründen kann und (b) deswegen der Beschwerdeführer in seinen Verteidigungsrechten effektiv eingeschränkt wurde, d.h. ihm dadurch ein Nachteil erwachsen ist.

Zum ersten Punkt meinen die Richterinnen und Richter, dass die Ausführungen der Schweiz nicht überzeugen. So war einerseits der Beschwerdeführer unbestrittenermassen bedürftig, und andererseits drohte ihm eine unbedingte Freiheitsstrafe, mithin eine Strafe von gewisser Schwere. Deshalb hätten die Interessen der Justiz es geboten, dem Beschwerdeführer einen amtlichen Verteidiger zur Seite zu stellen. Allerdings, so der Gerichtshof zweitens, sei der Beschwerdeführer während des gesamten Verfahrens rechtlich durch einen Anwalt vertreten gewesen, und er konnte so eine spürbare Reduktion der ausgefällten Strafe erreichen (nämlich von 75 Tagen unbedingter Freiheitsstrafe zu 30 Tagessätzen bedingter Geldstrafe). Durch die Verweigerung der amtlichen Verteidigung seien deshalb die von der Konvention garantierten Verteidigungsrechte effektiv nicht verletzt worden.

Der EGMR schlussfolgert, dass das Recht auf ein faires Verfahren in seiner Gesamtheit zu beurteilen sei, d.h. es ist zu prüfen, ob das gesamte Verfahren im konkreten Einzelfall insgesamt als «fair» beurteilt werden kann. Hingegen seien, so die Mehrheit der Richterinnen und Richter, nicht einzelne Punkte (wie hier die Frage, ob die amtliche Verteidigung unberechtigterweise verweigert wurde) isoliert zu beurteilen. Zwar sei die Verweigerung der amtlichen Verteidigung für den Rechtsanwalt «regrettable», jedoch habe diese keinen negativen Auswirkungen auf die Verfahrensfairness gehabt.

Entscheid kann zu absurden Konsequenzen führen

Zusammengefasst meint der EGMR also, dass die Schweiz zwar die eigenen Regeln zur amtlichen Verteidigung falsch angewendet und diese dem Beschwerdeführer zu Unrecht verweigert hat. Allerdings sieht er darin keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und 3 EMRK, weil effektiv eine Verteidigung bis zum Urteilsspruch in der Hauptsache gewährleistet war und dadurch eine spürbare Reduktion der ursprünglich verhängten Strafe erreichen konnte.

Diese Argumentation erscheint in hohem Masse problematisch und führt, zu Ende gedacht, zu einem absurden Ergebnis: Zwar mag, darin ist dem Gerichtshof recht zu geben, im vorliegenden Einzelfall der Beschwerdeführer tatsächlich und dank des Engagements seines Rechtsanwaltes zu seinem Recht gekommen zu sein. Dies rührte aber einzig daher, dass besagter Anwalt sein Mandat trotz der unbestrittenen Bedürftigkeit mit dem (letztlich eingetretenen) Risiko führte, dafür nicht entschädigt zu werden. Hätte er das Mandat nicht fortgeführt, und wäre in der Folge die Strafe nicht reduziert worden, hätte eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und 3 EMRK bejaht werden müssen.

Denn die Schweiz ist, das hat der EGMR unmissverständlich festgehalten, ihrer Pflicht zur korrekten Rechtsanwendung nicht nachgekommen und verweigerte die amtliche Verteidigung, obwohl die Voraussetzungen hierfür gegeben waren. Anwältinnen und Anwälte in derselben Situation dürften künftig zweimal überlegen, ob sie ein derartiges Mandat übernehmen, da sie fürchten müssen, dafür nicht entlöhnt zu werden – ein ökonomisches Risiko, dass insbesondere kleinere Kanzleien regelmässig nicht zu tragen imstande sein dürften. Durch den Entscheid wird daher das vom Gerichtshof sonst so hoch gehaltene Prinzip der praktischen und effektiven Wirksamkeit der Menschenrechte (vgl. Urteil Mamatkulov und Askarov v. Turkey vom 4.2.2005, Applications nos. 46827/99 und 46951/99, Ziff. 101) gefährdet.

Konsequenterweise müssten nämlich Anwältinnen und Anwälte fortan, wenn die amtliche Verteidigung in einem Fall zu Unrecht verweigert wird, das Mandat niederlegen. Dadurch stiegen in der Folge die Chancen, dass eine Beschwerde vor dem EGMR gutgeheissen würden, erheblich, zumal dann nicht nur obige Voraussetzung (a) erfüllt wäre, sondern auch Voraussetzung (b). Es erscheint fraglich, ob dies vom Gerichtshof tatsächlich gewollt ist.

Urteil erging nicht einstimmig

Der Entscheid erging denn auch nicht einstimmig, sondern mit Mehrheitsentscheid. Eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und 3 anerkennen demgegenüber drei Richter*innen des siebenköpfigen Spruchkörpers und erklären in einer dissenting opinion, weshalb sie dem Entscheid nicht zustimmen:

Erstens, so die Richter*innen, sei es nach definitiver Abweisung des Gesuchs um amtliche Verteidigung dem Anwalt wieder erlaubt, seinem Mandanten den angefallenen Aufwand in Rechnung zu stellen. Aus den Akten sei nicht erkennbar, dass der Anwalt im vorliegenden Verfahren pro bono gearbeitet habe. Implizit gehen die Richter*innen also davon aus, dass dem Beschwerdeführer durch die Anwaltshonorare ein beträchtlicher Schuldenberg entstanden sei.

Zweitens würde ein Anwalt, der ein Gesuch um amtliche Verteidigung stelle, häufig zumindest einen Teil seiner Arbeit machen, ohne sicher zu sein, ob das Gesuch bewilligt werde. Knüpfe man deshalb die Beurteilung der Fairness daran, ob eine Person effektiv durch einen Anwalt vertreten worden sei, stelle man das Institut an sich in Frage.

Drittens habe die Gerichtsmehrheit den temporalen Aspekt nicht ausreichend gewürdigt: Das Bundesgericht als letzte nationale Instanz habe am 22. November 2016 das Gesuch um amtliche Verteidigung definitiv abgewiesen. Die Beschwerde hiergegen an den EGMR sei am 2. Februar 2017 eingereicht worden. In diesem Moment sei noch nicht abzuschätzen gewesen, wie sich das Hauptverfahren entwickeln werde, da diese erst am 13. März 2017 stattfand. Weil eine Verteidigung vorliegend auch in den Augen der Mehrheit zwingend erforderlich war, hat einzig die Fortführung des Mandats durch den (nicht zum amtlichen Verteidiger bestellten) Rechtsanwalts verhindert, dass die Schweiz ihre konventionsrechtlichen Verpflichtungen verletzt.

Und schliesslich würde, viertens, der Ansatz der Mehrheit Anwältinnen und Anwälte bestrafen, die das Risiko auf sich nehmen, für geleistete Arbeit nicht entlöhnt zu werden, weil ein Gesuch um amtliche Verteidigung (fälschlicherweise) abgewiesen wird.

Die dissenting opinion ist stringenter und überzeugt nicht nur argumentativ, sondern auch im Ergebnis mehr. Es bleibt zu hoffen, dass der Gerichtshof dies in künftigen Fällen auch in seiner Gesamtheit erkennt und auf die Begründung in Hamdani c. Suisse zurückkommt.