03.03.2011
Die nationalrätliche Kommission für Rechtsfragen lanciert die Debatte über die Verfassungsgerichtsbarkeit auf offizieller Ebene. Die Kommission hat einen Vorentwurf in die Vernehmlassung geschickt, welcher zu dieser aus rechtsstaatlicher Sicht wichtigen Veränderung führen würde. Sie beabsichtigt, Artikel 190 der Bundesverfassung zu streichen. Dieser schreibt dem Bundesgericht und anderen rechtsanwendenden Behörden unter anderem vor, Bundesgesetze in jedem Fall anzuwenden, auch wenn sie der Verfassung widersprechen. Zugleich nennt der Artikel aber auch das Völkerrecht als massgebend für die Gerichte.
Für die Verfassungsgerichtbarkeit...
Humanrights.ch befürwortet die Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit auf Bundesebene. In einem Rechtsstaat ist es zentral, dass eine Instanz neben kantonalen Gesetzen auch die Bundesgesetze daraufhin überprüft, ob sie mit den grundlegenden Werten der Verfassung im Einklang stehen. Die Grundrechte in der Verfassung sind der Wertekanon, den Schweizerinnen und Schweizer selber aufgestellt haben und zu dem sie letztmals bei der Abstimmung zur revidierten Bundesverfassung im April 1999 klar Ja gesagt haben. Die Bewertung, ob ein Bundesgesetz mit diesen Werten im Einklang steht, muss eine gerichtliche Instanz vornehmen können.
... aber Auswirkung der Vorschläge abklären
Die Vernehmlassung zur Verfassungsgerichtsbarkeit läuft bis am 20. Mai 2011. Die Vorschläge der nationalrätlichen Rechtskommission werden genau zu prüfen sein. Insbesondere muss aus Sicht der Menschenrechte abgeklärt werden, inwiefern sich das Löschen von Art 190 BV auf die Stellung des internationalen Rechts vor Schweizer Gerichten auswirkt. Weiter dürfte Menschenrechtsexperten/-innen die Frage interessieren, welchen Effekt der Vorschlag der Kommission auf die Handhabung von Verfassungsartikeln hat, welche gegen internationales Recht verstossen.
In dieser Hinsicht sind derzeit (zu) viele Fragen offen, was eine rasche Stellungnahme aus Menschenrechtssicht stark erschwert. Menschenrechtskreise warten deshalb mit wachsender Ungeduld auf den seit langem vom Bundesrat in Aussicht gestellten Bericht über die Beziehung von internationalem Recht zu Landesrecht, bzw. auf die (bis zur Veröffentlichtung dieses Berichts suspendierte) Behandlung der parlamentarischen Initiative Vischer namens «Gültigkeit von Volksinitiativen».
Das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR) schrieb dazu, dass der Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit und die Möglichkeit, Bundesgesetze auf ihre Grundrechtskonformität zu überprüfen, zu begrüssen sei. Generell werde so die Bedeutung der Grundrechte der Bundesverfassung gestärkt. Allerdings bringt dies laut dem SKMR zwei wichtige Anschlussfragen mit sich, für welche der Vorentwurf keine Antworten vorsieht: «Es sind dies die Fragen nach dem Verhältnis von Verfassungsrecht und Völkerrecht und dem Vorgehen im Falle eines Konfliktes zwischen diesen beiden Rechtsquellen sowie die Frage, wie Konflikte zwischen zwei Verfassungsnormen untereinander zu lösen sind.»
Dokumentation
- Zur Linksammlung mit den Vernehmlassungsunterlagen auf der Website der Kommission für Rechtsfragen (online nicht mehr verfügbar)
- Vorlage
Entwurf des Bundesbeschlusses (pdf, 2 S.) - Bericht
Bericht und Vorentwurf der Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates vom 17. Februar 2011 (pdf, 12 S.) - Liste der laufenden Vernehmlassungsverfahren
Auf der Website des Bundes - Bundesgericht soll auch Bundesgesetze prüfen
NZZ, 23. Feb. 2011 (pdf, 2 S.) - Gültigkeit von Volksinitiativen – Parlamentarische Initiative Vischer (07.477)
- Entwurf zum Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Vernehmlassung
Artikel des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte