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Erste Überprüfung zur Umsetzung der Grundrechte im Kanton Genf

28.10.2019

Mehr als fünf Jahre nach dem Inkrafttreten der neuen Kantonsverfassung liegt im Kanton Genf der erste Bericht zur Umsetzung der darin verankerten Grundrechte vor. Diese auf Initiative der Genfer Zivilgesellschaft durchgeführte grundrechtliche Bestandsaufnahme auf kantonalem Niveau stellt in der Schweiz eine Neuheit dar.

Der Bericht wurde am 2. April 2019 offiziell den Genfer Behörden – der Stadt und dem Kanton – überreicht. Damit wird Artikel 42 der Genfer Kantonsverfassung umgesetzt, die das Stimmvolk im Jahr 2012 angenommen hatte. Der Artikel verlangt, dass die Umsetzung der Grundrechte regelmässig einer unabhängigen Überprüfung unterzogen wird. Idealerweise soll dies analog zu den bereits bestehenden Überprüfungen, wie sie die UNO praktiziert, geschehen.

Nach der ersten Legislatur unter der neuen Kantonsverfassung (2013–2018) stellten verschiedene Verbände und Vereine fest, dass bis anhin keinerlei offizielle Schritte in Richtung einer derartigen Überprüfung unternommen worden waren. Anstatt vor das Verfassungsgericht zu ziehen, beschloss die Zivilgesellschaft, selber aktiv zu werden. Jedes der in der Verfassung verankerten Grundrechte sollte mit den im jeweiligen Gebiet tätigen Organisationen einer systematischen Bestandsaufnahme unterzogen werden. Sie wollten dem Kanton damit aufzeigen, wie er seine verfassungsmässige Verpflichtung aus Artikel 42 erfüllen sollte, ohne ihn jedoch von dieser Verpflichtung zu entbinden.

Ein gemeinsamer Bericht

Auf diese Weise ist ein gemeinsamer Bericht unter der Federführung einer Arbeitsgruppe des Genfer Menschenrechtsinformationszentrums REGARD (Réseau d’information de Genève sur les activités relatives aux droits et libertés) entstanden, an welchem insgesamt 27 Dachorganisationen und Verbände mitgearbeitet haben. Dieser zivilgesellschaftliche Beitrag an die durch die Verfassung verlangte «periodische unabhängige Überprüfung» stellt eine Analyse von positiven und negativen Entwicklungen dar und enthält Empfehlungen für die Umsetzung von fast allen in der Verfassung verankerten Grundrechten. Damit wurde ein Referenzrahmen geschaffen, der einerseits die ersten fünf Jahre der Umsetzung nach Rechtsbereichen dokumentiert und andererseits eine Gesamtsicht der kantonalen Situation enthält.

Eine gemischte Bilanz

Die Autorenschaft kommt zum Schluss, dass es dem Kanton Genf an einer Gesamtperspektive und einer Koordination zur Umsetzung der Grundrechte fehlt. Basierend auf den jeweiligen Erfahrungen und der Rechtsexpertise der beteiligten Organisationen werden im Bericht die bisweilen schädlichen Auswirkungen mancher Gesetze und Politiken auf die jeweiligen Grundrechtsträger/innen oder sogar auf die gesamte kantonale Bevölkerung enthüllt.

So zeigt der Bericht grosse bestehende Lücken in der Umsetzung der verfassungsmässigen Grundrechte auf: Noch immer werden zahlreiche Menschen aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Herkunft, ihrer Behinderung, ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Geschlechteridentität diskriminiert. Sie sind benachteiligt beim Zugang zu Bildung, zum Arbeitsmarkt oder schlicht und einfach bezüglich der Möglichkeit, ein Leben in Würde zu führen. Was die Durchsetzung anbetrifft ist festzustellen, dass die Verwaltungs- und Justizbehörden des Kantons gewisse Grundrechte – beispielsweise das Recht auf Unterkunft – noch immer nicht als rechtlich durchsetzbar betrachten.

Der Bericht zeigt aber auch positive Entwicklungen auf, insbesondere die von Kanton und Stadt ergriffenen Massnahmen gegen die erwähnten Diskriminierungsformen. Diese umfassen unter anderem die Stärkung der Bildung sowie den Aufbau von Stellen und Projekten, die sich der Diskriminierungsbekämpfung annehmen (Art. 15 Kantonsverfassung). Ebenfalls positiv hervorgehoben werden das Projekt Papyrus, welches die Regularisierung der Situation von Sans-Papiers erlaubt hat (Art. 39), sowie die Schaffung einer geschützten Plattform für Whistleblower (Art. 26).

Welche Form soll die regelmässige unabhängige Überprüfung künftig haben

Obwohl der von der Zivilgesellschaft geleistete Beitrag eine «regelmässige und unabhängige» Überprüfung nicht ersetzen kann, hat die Veröffentlichung des Berichts doch eine Diskussion darüber entfacht, welche Form eine solche Überprüfung im Kanton Genf in Zukunft annehmen soll. So hat die Veranstaltung vom 2. April 2019 zahlreiche hochrangige Experten/-innen zusammengebracht, darunter ehemalige Angehörige der Legislative sowie eine ehemalige Direktorin des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann und ein früheres Mitglied einer UNO-Kommission.

Im Rahmen der Veranstaltung hat der Präsident der Kommission für Menschenrechte des Grossen Rats, Cyril Mizrahi, angekündigt, dass die Kommission einen Gesetzesentwurf zu Artikel 42 der Kantonsverfassung erarbeiten werde. Damit soll verschiedenen Vorstössen bezüglich der 2012 erfolgten Abschaffung des kantonalen Büros für Menschenrechte entsprochen werden. Die von der Zivilgesellschaft geleistete Vorarbeit sowie der erfolgte Austausch mit verschiedenen Akteuren/-innen werden diese Arbeiten befruchten.

Die an der Veranstaltung anwesenden Experten/-innen unterbreiteten mehrere Vorschläge zur Gewährleistung der Wirksamkeit, der Glaubwürdigkeit und der Unabhängigkeit des Überprüfungsprozesses. Beispielsweise wurde hervorgehoben, dass die betroffenen Personen mit einbezogen werden sollen: etwa die Entscheidungsträger/innen, die Verwaltung, die zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie Einzelpersonen, insbesondere auch Opfer von Grundrechtsverletzungen. Dadurch sollen die Eigenverantwortung von Rechtsträger/innen und die Umsetzung der Empfehlungen gestärkt werden. Auch wurde die Idee diskutiert, durch die Erfassung von Zeugenaussagen jeder Person die Möglichkeit zu geben, eine Grundrechtsverletzung zu melden. Damit könnten mögliche bestehende Probleme erkannt werden und ebenfalls in die Überprüfung einfliessen.

Was das mit der Umsetzung von Artikel 42 betraute Organ betrifft, hat die Diskussion der Experten/-innen ebenfalls Licht ins Dunkel gebracht. Es hat sich gezeigt, dass eine externe, vom Staat unabhängige Stelle (Expertenteams, Beratungspersonen) die oben genannten Bedingungen an Beteiligung und Verantwortung bezüglich der Evaluation nicht erfüllen könnte. Eine parlamentarische Kommission, die von der Ausgewogenheit der politischen Kräfte abhängig wäre, würde dagegen die Unabhängigkeit der Überprüfung nicht gewährleisten. Auch der Rechnungshof, eine der vier verfassungsrechtlichen Stellen zur Überprüfung der öffentlichen Politik, sollte diese Aufgabe nicht übernehmen. Denn dies würde dem Prinzip der Überprüfung zuwiderlaufen, mit Eigeninitiative und unter freier Wahl der anzugehenden Themen agieren zu können.

Daraus lässt sich schliessen, dass die beste Lösung in der Form einer gemischten Kommission besteht, welche sowohl die Verwaltung als auch die Zivilbevölkerung einbezieht. Eine solche Kommission besässe den gewünschten unabhängigen, offenen und pluralistischen Charakter. Die Überprüfung der Grundrechte könnte regelmässig und periodisch erfolgen, sei es für die Gesamtheit aller Grundrechte oder aber thematisch getrennt.

Ohne entsprechende Koordination können die Grundrechte nicht verwirklicht werden 

Die Überprüfung durch die Genfer Zivilgesellschaft zeigt auf, wie sich die mangelnde gesellschaftliche Unterstützung auf die Träger/innen der Grundrechte im Kanton Genf und in der Schweiz auswirkt.

So hat die Abschaffung des kantonalen Büros für Menschenrechte die Koordination und die Umsetzung von Aktivitäten zu den Grundrechten ernsthaft beeinträchtigt. Sie hat dazu geführt, dass es auf kantonaler Ebene für die betreffenden Rechte keine Ansprechpersonen mehr gibt ausser sektorale Anlaufstellen in verschiedenen Departementen. Die Antworten des Staatsrates auf die zahlreichen Interpellationen zum Thema sowie die fehlende Umsetzung von Artikel 42 zeigen eines auf: die Gleichgültigkeit und/oder Ignoranz der Autoritäten gegenüber ihren rechtlichen Verpflichtungen, welche sie aufgrund der internationalen Menschenrechte wahrnehmen müssten.

Diese Haltung widerspiegelt die restriktive und konservative Einstellung der Schweiz zu den Menschenrechten sowie die Schwierigkeiten unseres Landes, die Wahrung und die Umsetzung von Rechten für alle zu garantieren. Die Schweiz hat anlässlich des dritten Zyklus der Universellen Periodischen Überprüfung (UPR) im Jahr 2017 von anderen Staaten Empfehlungen erhalten und wurde im Herbst 2019 vom UNO-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte überprüft. Dabei musste die Zivilgesellschaft einmal mehr daran erinnern, wie wichtig es ist, möglichst rasch eine nationale Menschenrechtsinstitution gemäss den Pariser Prinzipien zu schaffen. Diese Institution wäre das noch fehlende Bindeglied zwischen den Behörden und der Zivilgesellschaft auf Bundes- und Kantonsebene und damit auch bei periodischen Überprüfungen der Grundrechtsumsetzung, wie sie im Kanton Genf vorgesehen sind. Der Bund und die Kantone würden so zudem eine wichtige koordinierende Instanz schaffen, um die rechtliche Durchsetzbarkeit, die Weiterverfolgung und die Umsetzung der Empfehlungen zu den Menschenrechten zu garantieren – zugunsten aller Menschen in unserem Land.

Dieser Gastbeitrag wurde von Léa Winter und Cédric Chatelanat, Verantwortliche für die Koordination der Arbeitsgruppe für die periodische unabhängige Evaluation (EPI) der Grundrechte im Kanton Genf des Netzwerks REGARD verfasst und von humanrights.ch ins Deutsche übersetzt.