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Sperisen-Prozess: Eine Herausforderung für den Schweizer Rechtsstaat

02.04.2024

Am 27. April 2018 verurteilte das Berufungsgericht Genf den ehemaligen Chef der Zivilpolizei Guatemalas und schweizerisch-guatemaltekischen Doppelbürger, Erwin Sperisen, zu 15 Jahren Haft. Im Jahre 2014 war er in Genf wegen der Ermordung von sieben Gefangenen (aussergerichtliche Hinrichtungen) während der Erstürmung der Haftanstalt Pavon in Guatemala im Jahr 2006 schuldig gesprochen worden, davon in einem Fall als Haupttäter. Dieser Entscheid war im Jahre 2015 von der Strafkammer des Kantons Genf bestätigt worden, bevor er im Juni 2017 vom Bundesgericht für nichtig erklärt wurde.

Das Berufungsgericht Genf hatte in seinem letzten Urteil die Strafe von Erwin Sperisen deutlich gesenkt. Unter Berücksichtigung bestimmter «Schattenbereiche», sei er «nur» als Gehilfe beteiligt gewesen. Dennoch sind die ihm vorgeworfenen Taten nach wie vor äusserst schwerwiegend und die Schweiz sei dazu verpflichtet, die Taten ihres Staatsangehörigen zu beurteilen.

Warum in der Schweiz

Das Urteil ist für die Schweiz von grosser Bedeutung: Zum ersten Mal hat ein Schweizer Gericht einen Schweizer wegen schwerwiegendster Verbrechen verurteilt, die dieser in einem Land begangen hat, in dem systematische Straflosigkeit herrscht.

Erwin Sperisen ist schweizerisch-guatemaltekischer Doppelbürger. Diese doppelte Staatsbürgerschaft begründet die Zuständigkeit der Genfer Behörden für die Strafverfolgung. Die Staatsanwaltschaft baute ihre Anklage gegen Erwin Sperisen auf der Grundlage verschiedener Ermittlungen durch die Internationale Kommission gegen Straflosigkeit in Guatemala (CICIG) und durch NGO’s, insbesondere TRIAL (Track Impunity Always), auf.

Nach Schweizer Recht kann eine Person, die im Ausland ein Verbrechen oder Vergehen begeht, strafrechtlich verfolgt werden, wenn diese Schweizer/in ist und die verübten Handlungen sowohl in der Schweiz wie im betroffenen Drittstaat strafbar sind. Der Anwalt Bénédict de Moerloose von TRIAL hatte zu Beginn des Sperisen-Prozesses in Erinnerung gerufen, dass es sich nicht um einen Fall von universeller Gerichtsbarkeit handelt: «Bei diesem Prozess wird nicht ein Kriegsverbrechen beurteilt. Erwin Sperisen ist wegen Mordes vor Gericht, einer herkömmlichen Straftat nach Schweizer Recht.»
Erwin Sperisen war 2012 aufgrund eines von den guatemaltekischen Behörden erlassenen internationalen Haftbefehls festgenommen und im Genfer Gefängnis Champ Dollon inhaftiert worden. Sperisen und seine Familie waren seit 2007 in der Schweiz wohnhaft.

Für die Organisation TRIAL (Track Impunity Always), die sich weltweit gegen Straflosigkeit einsetzt und die Genfer Justiz im Prozess unterstützt hat, ist diese Verurteilung ein starkes Signal: «Die Urheber schwerer Verbrechen – wie hoch gestellt sie auch sein mögen – sind nicht vor strafrechtlichen Sanktionen gefeit; ihre Opfer, egal woher sie auch stammen, verdienen es, dass ihnen Gerechtigkeit widerfährt».

Ein wichtiger Beitrag

Die Schweiz beteiligt sich übrigens im Rahmen eines Programms für Justiz in Übergangsphasen (transitional justice) an der Vergangenheitsbearbeitung in Guatemala (lesen Sie hierzu unseren Artikel). Auch in diesem Zusammenhang ist der Ausgang des Prozesses gegen Sperisen bedeutsam. Im Genfer Prozess habe sich einerseits aus innenpolitischer Sicht die Zuständigkeit der Schweizer Justiz (wegen der Staatsangehörigkeit des Angeklagten) manifestiert, anderseits sei der Prozess aus internationaler Sicht ein Beitrag im Kampf gegen die Straflosigkeit von schwerwiegenden Verstössen gegen die Menschenrechte, meint Sevane Garibian, Experte für Menschenrechte und internationale Strafjustiz.

Begleitung des Verfahrens

Das Bundesgericht hat in seinem Urteil vom 29. Juni 2017 den Rekurs des ehemaligen Polizeichefs von Guatemala teils gutgeheissen, mit der Begründung, einige Grundrechte des Verurteilten seien nicht respektiert worden. Die Richter von Lausanne haben der Strafkammer vorgeworfen, wesentliche Punkte unzureichend und willkürlich begründet zu haben. Wie auch der Mediensprecher der Genfer Staatsanwaltschaft, Henri Della Casa seinerzeit betont hatte, hat auch das Bundesgericht die These des ehemaligen Polizeichefs – die Gefangenen seien bei Zusammenstössen mit den Sicherheitskräften ums Leben gekommen – zurückgewiesen und damit bestätigt, dass die Gefangenen willkürlich hingerichtet worden sind. Gemäss Philip Grant, dem Chef von TRIAL, fällte das Bundesgericht damit ein gültiges Urteil über die Menschenrechts-Verbrechen, die Sperisen leugnet. Nach diesem Entscheid wurde der Fall an das Berufungsgericht Genf zurück gewiesen.

Entscheid aus Strassburg

Die erneute Verurteilung am 27. April 2018 durch die Berufungs- und Revisionsinstanz haben Sperisens Anwälte nicht akzeptiert und haben Beschwerde beim Bundesgericht eingelegt. Das Bundesgericht hiess am 14. November 2019 (BGer 6B_865/2018) die Beschwerde nur teilweise gut. Zu diesem Urteil 6B_865/2018 hat Herr Sperisen ein Revisionsgesuch eingereicht, dass den Ausstand der Gerichtspräsidentin der kantonalen Berufungs- und Revisionskammer beantragt. Dieses Gesuch wurde kurz darauf abgewiesen (BGer 6F_2/2020). Die beiden Rechtsvertreter zogen den Entscheid über das abgewiesen Revisionsgesuch an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) weiter. Am 13. Juni 2023 kam der EGMR zum Schluss, dass Herrn Sperisens Recht auf ein unparteiisches Gericht nach Art. 6 Abs. 1 EMRK tatsächlich verletzt wurde. Die Gerichtspräsidentin der Berufungs-und Revisionsinstanz war parteiisch. Sämtliche weitere gerügten Verstösse gegen die EMRK wie beispielsweise das Recht auf ein faires Verfahren, Recht auf Unschuldsvermutung oder die Haftbedingungen im Gefängnis Champ-Dollon wurden zurückgewiesen (AFFAIRE SPERISEN c. SUISSE, No. 22060/20).

Sperisens vorläufige Freilassung

Nach dem Urteil des EGMR gelangten die beiden Anwälte des Doppelbürgers erneut an das Bundesgericht und beantragten unter anderem die Revisionen der bisherigen Urteile (6B_865/2018, 6F_2/2020, 1B_512/2017, 6B_947/2015), superprovisorisch die sofortige Freilassung und den Ausstand der Präsidentin des Genfer Berufungs- und Revisionsgerichts.

Nach Eröffnung des bundesgerichtlichen Verfahrens verfügte das Straf- und Massnahmenvollzugsgericht des Kantons Genf die Unterbrechung der Strafvollstreckung von Herrn Sperisen. Die Haftentlassung wurde durch die Genfer Staatsanwaltschaft mittels Beschwerde verhindert.

Am 18. Oktober 2023 hat das Bundesgericht die Sache an die Berufungs- und Revisionsstrafkammer des Kantons Genf zurückverwiesen, damit diese die Strafuntersuchung in dem Stadium wieder aufnimmt, in dem es sich am 03. Oktober 2017 befand. In diesem jüngsten Entscheid des Bundesgerichtes wurde die lange Verfahrensdauer von elf Jahren nicht als übermässig lang qualifiziert. Begründet wurde dies mit der Schwere der vorgeworfenen Taten sowie den Beweisschwierigkeiten, die sich aus dem internationalen Charakter des Falles, der geografischen Distanz zwischen dem Ort des Urteils und dem Ort der Taten und der seit deren Ablauf verstrichenen Zeit ergeben.

Das Genfer Straf- und Massnahmenvollzugsgericht kam auf seine angeordnete Entlassung vom September 2023 zurück und entliess am Freitagnachmittag vom 20. Oktober 2023 Herrn Sperisen aus der JVA Witzwil (BE). 

Das ungeschriebene letzte Kapitel im Fall Erwin Sperisen

Die Anordnung der Wiederaufnahme des Verfahrens ab dem Zeitpunkt der vom EGMR als Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzend beurteilten Äusserungen einer zuständigen Richterin, entspricht der gängigen Umsetzungspraxis und dem Prinzip der restitutio in integrum. Ein Antrag Sperisens auf Ausstand der zuständigen Richterin wegen Befangenheit wurde am 19.12.2023 vom Gericht abgewiesen.

Ob die elf Jahren Freiheitsentzug ohne rechtsgültigen Schuldspruch tatsächlich mit der schwere der vorgeworfenen Taten und den Beweisschwierigkeiten zur rechtfertigen sind, ist fraglich. Das sich nun mit der Sache zu befassende Genfer Gericht muss darüber ebenfalls befinden. Eine Einstellung des Verfahrens oder Sanktionierung aufgrund der Verletzung des Beschleunigungsgebotes kann nicht ausgeschlossen werden.

Der vierte Prozess

Die Verteidigung des ehemaligen Chefs der nationalen Zivilpolizei Guatemalas forderte einen Freispruch sowie eine Entschädigung in Höhe von CHF 8 Millionen. Doch die Genfer Berufungs- und Revisionsstrafkammer entschied anders: Erwin Sperisen wurde der Beihilfe zum Mord an sieben Gefangenen in Guatemala schuldig gesprochen und zu 14 Jahren Haft verurteilt. (Justizkrimi in Genf - 14 Jahre Haft für Erwin Sperisen - News - SRF) Das Strafmass wurde dabei von ursprünglich 15 Jahren leicht reduziert, aufgrund der schwierigen Umstände im Strafvollzug und des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Die Anwälte Sperisens äusserten zuvor Bedenken hinsichtlich der engen Beziehung zwischen der zuständigen Richterin und dem Staatsanwalt, der die Anklage erhoben hatte (Vierter Prozess gegen Erwin Sperisen in Genf angesetzt - SWI swissinfo.ch). Erwin Sperisen hat nun die Möglichkeit, Berufung einzulegen und das Urteil vor das Bundesgericht zu ziehen.

Quellen

Dokumentation

  • CICIG
    Website der Internationalen Kommission gegen die Straffreiheit in Guatemala
  • TRIAL
    Website der Organisation Track Impunity always
  • Chasseurs de crimes (Crime Hunters)
    Schweizer Dokumentarfilm in Co-Produktion mit RTS, 2014