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Vergangenheitsarbeit und Stärkung der Menschenrechte

20.02.2017

Die Schweiz hat an der Septembersession 2016 des UNO-Menschenrechtsrates eine Resolution eingebracht, die den Beitrag der Vergangenheitsarbeit zur Prävention von Gräueltaten und anderen groben Verletzungen der Menschenrechte und schweren Verstössen gegen das humanitäre Völkerrecht betont. Mit der verabschiedeten Resolution wird der zuständige UNO-Sonderberichterstatter für die Förderung von Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Garantie der Nichtwiederholung beauftragt, darüber zu berichten, was Vergangenheitsarbeit zur Prävention von Gräueltaten beiträgt. Denselben Auftrag erhält der Sonderberater des UNO-Generalsekretärs für die Prävention von Genoziden.

Schwerpunkt der Schweizer Aussenpolitik

Die Schweiz setzt sich mit ihrer Aussenpolitik seit 2003 stark für die gesellschaftliche und rechtliche Aufarbeitung der Vergangenheit und für den Kampf gegen die Straflosigkeit ein in Gesellschaften, welche schwere Menschenrechtsverletzungen erlitten haben. In der Öffentlichkeit bekannt ist dieser Schwerpunkt der schweizerischen Aussenpolitik kaum.

Die Schweiz unterstützt Projekte zur Vergangenheitsarbeit logistisch und politisch auf den Philippinen, in Guatemala, Kolumbien, Bosnien, Serbien, Kosovo, der Ukraine, Burundi, Mali, Tschad und im Nahen Osten. Sie entsendet Experten/-innen, etwa an Sondertribunale wie diejenigen für Sierra Leone und Ex-Jugoslawien oder an das Archiv der Guardia Nacional Civil und an die Internationale Kommission gegen Straflosigkeit (CICIG) in Guatemala.

Auf Initiative der Schweiz wurde 2013 das internationale Netzwerk Global Action Against Mass Atrocity Crimes (GAAMAC) gegründet. Dieses sensibilisiert Regierungen für die Prävention von Genoziden und stärkt ihre Kapazitäten zur Früherkennung. Die oben erwähnte, von der Schweiz initierte Resolution des UNO-Menschenrechtsrats vom September 2016 ergänzt diese Bemühungen.

Ebenfalls in der Linie dieses Engagements hat die Schweiz Ende 2016 eine von Liechtenstein eingebrachte Resolution in der UNO-Generalversammlung tatkräftig unterstützt: Die Generalversammlung beschloss, einen unabhängigen Untersuchungsmechanismus einzurichten, der die Grundlage schafft für spätere Gerichtsverfahren gegen die Verantwortlichen der gravierendsten Völkerrechtsverbrechen in Syrien.

Was ist Vergangenheitsarbeit?

Vergangenheitsarbeit («Dealing with the past») bezeichnet die gesellschaftliche und rechtliche Aufarbeitung der Vergangenheit eines Staates, die von schweren Menschenrechtsverletzungen geprägt ist. In der Diskussion wird parallel dazu oft auch der englische Begriff «Transitional Justice» verwendet.

Der Umgang mit staatlicher wie auch nicht-staatlicher Gewalt und die Ahndung schwerer Menschenrechtsverletzungen spielen bei der Vergangenheitsarbeit eine zentrale Rolle. Im Mittelpunkt der Überwindung von Gewaltherrschaft und in manchen Fällen Diktatur steht die Frage, wie ein nachhaltiger Frieden und eine Versöhnung innerhalb von Gesellschaften oder zwischen verschiedenen Staaten erreicht werden kann. Vergangenheitsarbeit ist ein komplexer gesellschaftlicher Prozess: Er umfasst die juristische Verfolgung von systematischem Unrecht und damit die Bekämpfung von Straflosigkeit ebenso wie den (Wieder-)Aufbau von Rechtsstaatlichkeit.

Handlungsrahmen - made in Switzerland

Swisspeace und das schweizerische Aussenministerium EDA haben einen Handlungsrahmen entwickelt, mit dem die Komplexität des Konzepts der Vergangenheitsarbeit dargestellt werden kann. Der Fokus des Konzepts liegt auf den Opfern und auf den Tätern sowie auf ihrer Transformation zu Staatsbürgerinnen und -bürgern mit gleichen Rechten. In einem langfristigen, explizit menschenrechtlich fundierten Prozess soll eine Kultur der Rechenschaftspflicht, der Rechtsstaatlichkeit und Versöhnung geschaffen werden. Vergangenheitsarbeit zielt auf kombinierte Massnahmen in den folgenden vier Schlüsselbereichen.

Recht auf Wissen

Das Recht auf Wissen (auch als Recht auf Wahrheit bezeichnet) ist das Recht der Opfer auf Aufklärung schwerer Menschenrechtsverletzungen. Es ist auch ein Recht der Gesellschaft auf Information zu begangenem Unrecht und auf Mitwirkung bei der historischen Aufarbeitung. Dafür eingesetzt werden nationale aussergerichtliche Untersuchungskommissionen, sogenannte Wahrheits- und Versöhnungskommissionen wie etwa in Südafrika oder Argentinien oder internationale Untersuchungskommissionen im Rahmen der UNO wie etwa zum Gazakrieg, zu Sri Lanka oder Syrien. Die Handlungen von staatlichen Sicherheitskräften und anderen für Menschenrechtsverletzungen verantwortlichen Kräfte werden untersucht, Beweismaterial für die Justiz gesichert und Archive angelegt.

Recht auf Gerechtigkeit

Das sogenannte Recht auf Gerechtigkeit ist das Recht der Opfer und ihr Anspruch auf wirksamen Rechtsschutz. Der Staat steht in der Pflicht, Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen und gerichtlich zu beurteilen. Für schwere Menschenrechtsverletzungen darf es keine Amnestie geben; eine Kultur der Straflosigkeit muss bekämpft werden.

Falls nötig tritt eine internationale an die Stelle der nationalen Gerichtsbarkeit: Ad-hoc-Gerichte wie jene zu Ex-Jugoslawien oder Ruanda, eingerichtet durch den UNO-Sicherheitsrat, beziehungsweise seit 2002 der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag. Ausserdem gab es etwa in Sierra Leone, Kambodscha oder Bosnien-Herzegowina gemischte Gerichte mit auswärtigen Experten/-innen. Drittstaaten stehen bei der Verfolgung schwerer Menschenrechtsverletzungen gemäss dem Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit ebenfalls in der Pflicht.

Recht auf Wiedergutmachung

Das Recht auf Wiedergutmachung umfasst etwa Restitutionen von Eigentum, Entschädigungen für physische oder psychische Schäden sowie medizinische oder psychiatrische Therapien. Kollektive Massnahmen beinhalten Gedenkveranstaltungen, die Errichtung von Gedenkstätten oder die öffentliche Übernahme der Verantwortung durch den Staat oder andere symbolische Gesten. Damit soll das verursachte Leid anerkannt, die Menschenwürde ins Zentrum gerückt und Menschen zur Selbstbestimmung befähigt werden.

Garantie der Nicht-Wiederholung

Massnahmen wie die Überprüfung von Staatsangestellten sowie die Reform von Institutionen und diskriminierenden Gesetzen hin zu Rechtsstaatlichkeit tragen dazu bei, Rückfälle zu verhindern. Paramilitärische bewaffnete Gruppen müssen demobilisiert und ihre Mitglieder in die Gesellschaft integriert, die Sicherheitsinstitutionen unter demokratische Kontrolle gestellt und Notstandsgesetze aufgehoben sowie Amtsträger, denen in einem fairen Verfahren die Beteiligung an schweren Menschenrechtsverletzungen nachgewiesen wird, entlassen werden.

UNO-Grundsätze zur Bekämpfung der Straflosigkeit

Das Konzept der Vergangenheitsarbeit, wie es die Schweiz in ihrem Handlungsrahmen ausgearbeitet hat, beruht auf den «Grundsätzen zur Bekämpfung der Straflosigkeit» der UNO. Der Franzose Louis Joinet hatte diese in den 1990er Jahren für die damalige UNO-Menschenrechtskommission entworfen und die US-Amerikanerin Diane Orentlicher hat sie in ihrem Bericht an die UNO-Menschenrechtskommission 2005 weiterentwickelt.
In diesen Grundsätzen werden die Rechte der Opfer und die Pflichten der Staaten im Kampf gegen die Straflosigkeit im Kontext von schweren Menschenrechtsverletzungen und Verstössen gegen das humanitäre Völkerrecht dargestellt.

Grundlagen der Vergangenheitsarbeit in UNO-Abkommen und UNO-Institutionen

Den völkerrechtlichen Rahmen für die Vergangenheitsarbeit bilden neben den zentralen UNO-Menschenrechtsabkommen insbesondere das Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1948 und die Konvention über die Nichtanwendbarkeit von Verjährungsvorschriften auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit von 1968 sowie das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofes von 1998.

UNO-Leitlinien

Der UNO-Generalsekretär hat für die Vergangenheitsarbeit wegweisende Leitlinien formuliert.

Das UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte und die UNO-Generalversammlung haben Leitlinien formuliert, die in verschiedenen Bereichen Standards setzen.

UNO-Sonderberichterstatter

Der UNO-Menschenrechtsrat hat 2011 das Mandat eines UNO-Sonderberichterstatters zur Förderung der Wahrheit, Gerechtigkeit, Rehabilitierung und Garantie der Nichtwiederholung geschaffen und 2014 sein Mandat verlängert.

Offene Fragen der Vergangenheitsarbeit

Vergangenheitsarbeit geschieht nie in einem herrschafts- und konfliktfreien Raum. Das Interesse an einer Aufarbeitung schwerer Menschenrechtsverletzungen ist bei den unterschiedlichen beteiligten Akteuren/-innen entweder gar nicht oder nur in selektiver Weise vorhanden und unterschiedlich gelagert.

Zwar ist entscheidend, dass die Vergangenheitsarbeit als (menschen-)rechtlicher Prozess konzipiert wird. Doch innenpolitische und internationale Machtkonstellationen beeinflussen Vergangenheitsarbeit immer sehr stark, sei es in positiver oder negativer Weise. So gibt es etliche Beispiele von blockierten oder gescheiterten – zum Beispiel in Kambodscha, teilweise in Bosnien – wie auch von gelungenen Prozessen der Vergangenheitsarbeit – so in gewissem Mass in Chile oder Südafrika. Gerade das Vorzeigebeispiel Südafrika zeigt, dass Vergangenheitsarbeit eine langfristige Perspektive benötigt und der menschenrechtliche Fokus eine nachhaltige Beachtung erfordert. Der Friedensprozess in Kolumbien ist ein nächster grosser Test für das Konzept der Versöhnungsarbeit.

Für aussenstehende Akteure wie etwa die Schweiz stellen sich grundlegende Fragen: Nach welchen Kriterien wählen sie die Staaten und Konflikte aus, in denen sie unterstützend tätig werden? Stellen sie sich der Vergangenheitsarbeit in einer konkreten Situation auch dann, wenn eigene Interessen und mögliche Verstrickungen etwa im Bereich der Wirtschaft (Rohstoffkonzerne, Kapital- und Steuerflucht), der Migration oder der Bewältigung der europäischen kolonialen Vergangenheit auf dem Spiel stehen?

Gerade die Frage kolonialer Abhängigkeiten und post-kolonialer Machtinteressen bzw. die Verwendung solcher Argumente durch Regimes mit dem Ziel, sich menschenrechtlicher Verpflichtungen zu entziehen, stellt sich im Zusammenhang mit dem angekündigten Rückzug afrikanischer Regierungen aus dem Internationalen Strafgerichtshof ICC in aller Deutlichkeit (vgl. unseren Artikel dazu ). Wie wird vermieden, dass Vergangenheitsarbeit in kurzfristiger Optik einem prekären oder nur in Aussicht stehenden Friedensarrangement untergeordnet wird, wie das beispielsweise teilweise in Bosnien-Herzegowina oder auch in Israel/Palästina der Fall ist? Oder dass eine rechtstaatliche Neuordnung um den Preis der verweigerten Vergangenheitsarbeit geschaffen wird wie im nachfranquistischen Spanien? Weshalb haben die europäischen Verbündeten wie die Schweiz im letzteren Falle nicht den Druck erhöht, um den Pakt des Schweigens zu durchbrechen?

In Post-Konflikt-Gesellschaften, in welchen die soziale Ungerechtigkeit ein hauptsächlicher Konfliktgrund war, ist es offensichtlich nötig, Vergangenheitsarbeit nicht nur mit Prozessen hin zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, sondern auch zu sozioökonomischer Entwicklung und sozialer Gerechtigkeit zu verknüpfen. Doch dies geschieht viel zu wenig, steht oft sogar den Interessen von zentral Beteiligten entgegen und ist auch konzeptionell unterbelichtet.

Zentral ist die in vielen Prozessen – auch im Kontext der Resolution 1325 des UNO-Sicherheitsrates – erst allmählich aufgenommene Herausforderung an die Vergangenheitsarbeit, dass sie nicht genderblind geschieht. Auch hier sind unterschiedliche Erfahrungen und Interessen, sind Machtverhältnisse im Spiel: Um wessen Gerechtigkeit geht es wirklich? Wohin soll der Übergang führen?

Immer wieder stellt sich die Grundfrage nach der Konsequenz bei der retrospektiven Verabeitung von Menschenrechtsverbrechen. Das Bemühen um eine prozedural korrekte Rechtspraxis in aller Komplexität und Langwierigkeit kann mit dem Verlangen nach substanzieller und umgehender Gerechtigkeit kollidieren. Die Interdependenz von Wahrheitsfindung, Strafjustiz, Amnestie, Versöhnung und der Etablierung von Gerechtigkeit ist enorm komplex und stellt Post-Konflikt-Gesellschaften in jedem Fall vor grosse und immer wieder andere Herausforderungen.

Dokumentation