23.12.2021
In den Coronamassnahmen sehen manche unakzeptable Einschränkungen der Grundrechte. In vielerlei Hinsicht privilegierte Menschen laufen Sturm gegen eine angeblich drohende Zweiklassengesellschaft. Dabei ist diese auch in der Schweiz längst Realität: Die einen haben ein Recht auf Menschenrechte, die anderen nicht.
Kommentar von Matthias Hui, Co-Koordinator der NGO-Plattform Menschenrechte Schweiz
Wie steht es um die Menschenrechte in der Schweiz? Gewisse Entwicklungen bestärken den Eindruck, dass sie immer umfassender gefördert und feinmaschiger geschützt werden. So hat das Parlament für die Schaffung einer unabhängigen Nationalen Menschenrechtsinstitution grünes Licht gegeben. Sie kann zum Beispiel Gesetzgebungsprozesse und ihre Auswirkungen auf trans Personen oder Jenische, Sinti*zze und Rom*nja, Ausschaffungen von Geflüchteten oder die Geschlechtergleichstellung in der Arbeit kritisch beobachten – oder eben auch Coronamassnahmen. Fast alle europäischen Staaten sind der Schweiz bei der Schaffung einer Nationalen Menschenrechtsinstitution um Jahre voraus; die Million Franken, die der Bundesrat aus seinem Milliardenbudget dafür aufwerfen will, ist zudem mehr als knausrig. Aber immerhin ist das Vorhaben nach 20 Jahren Kampf endlich auch in der Schweiz, die auch als «Hort der Menschenrechte» bezeichnet wird, angekommen.
Die Schweiz hat ihren Anteil daran, dass der UNO-Menschenrechtsrat vor kurzem das «Recht auf Leben in einer sauberen und gesunden Umwelt» als grundlegendes Menschenrecht anerkannt hat. Das juristische und politische Ringen um den Zugang zu Menschenrechten erreicht damit eine neue Dimension: Staatliches und gesellschaftliches Handeln fördert oder beschneidet die Rechte von Menschen nicht nur in der Gegenwart, sondern auch in der Zukunft. Klimagerechtigkeit entscheidet über den Zugang zu Rechten von Milliarden von Menschen, die noch gar nicht geboren sind.
Auch die direkte Demokratie bescherte uns jüngst Lichtblicke: Die Stärkung des Diskriminierungsschutzes für gleichgeschlechtliche Paare mit der Abstimmung zur Ehe für alle oder das Volksmehr zur Konzernverantwortungsinitiative sind Erfolge der Menschenrechtsbewegung. Dass Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung in Abstimmungen zum Migrations- und Asylrecht über Jahrzehnte immer wieder von der direkten Demokratie untermauert wurden, hinderte migrantische Solidaritätsorganisationen jetzt nicht, das Referendum gegen die grosse Unterstützung der EU-Grenzschutzagentur Frontex durch die Schweiz zu ergreifen.
Sie scheint real, die Erfolgsstory des langsamen, aber stetigen zivilisatorischen Fortschritts. Die erzählt, wie die Schweiz 2014 die UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifizierte, worauf etwa der Kanton Basel-Stadt im Jahr 2019 ein pionierhaftes Gesetz für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen schuf. Es bietet Menschen mit Behinderungen gegenüber dem Staat und auch gegenüber Privaten einen besseren Schutz vor Diskriminierungen. Sie können sich jetzt vor Gericht besser wehren, Organisationen besitzen ein Verbandsbeschwerderecht. Das sind kleine Errungenschaften, Bekenntnisse zu einer inklusiveren Gesellschaft und zum Recht auf selbstbestimmtes Leben.
Verrechtlichung oder Entrechtlichung?
So weit die optimistische Perspektive. Aber die Menschenrechtslage in der Schweiz ist kompliziert. Der positiven Tendenz von Verrechtlichungen im Zuge internationaler Bemühungen stehen enorme Lücken im Rechtsschutz und sogar dramatische Entwicklungen von Entrechtlichung gegenüber.
Bleiben wir beim Beispiel: Menschen mit Behinderungen müssen ihre Rechte oft immer noch in zermürbenden Alltagskämpfen einfordern. Zum Beispiel ihren Anspruch auf Inklusion in der Schule, auf barrierefreie Teilhabe am öffentlichen Leben, auf die rechtliche Anerkennung der Gebärdensprachen, auf Jobs im ersten Arbeitsmarkt und auf Sozialversicherungsleistungen, die eine menschenwürdige Existenz gewährleisten. Sogar das Recht aller Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung oder psychischen Störung, dank Stimm- und Wahlrecht am politischen Leben, am Rechtsstaat überhaupt, teilzuhaben, ist erst im Kanton Genf selbstverständlich. Der Zugang zum Recht ist völlig ungleich vorhanden, erst recht, wenn sich Diskriminierungen überlagern: Wie muss es sein, als kurdische Asylsuchende im Rollstuhl zu sitzen?
Offensichtlich ist die Zweiklassengesellschaft im Bereich des seit 2005 ständig verschärften Migrations- und Asylrechts. Fachpersonen sprechen von einem Scheideweg zwischen Apartheid und Demokratie. Viele Geflüchtete leben immer prekärer und erhalten – wie etwa vorläufig Aufgenommene bei Familienzusammenführungen und in ihrer Bewegungsfreiheit – immer weniger rechtlichen Schutz. Abgewiesene Asylbewerber*innen und ihre Kinder leben – beziehungsweise überleben – in staatlich angeordneter Armut im Nothilferegime, in regulärer Illegalität zwischen rechtlicher Nichtexistenz und ständiger Überwachung. Migrant*innen, die in wirtschaftliche Not geraten oder auch geringfügig gegen das Gesetz verstossen, können ihre Niederlassungsbewilligung verlieren, selbst wenn sie ihr ganzes oder halbes Leben in der Schweiz verbracht haben. Rassistische Diskriminierungen – Racial Profiling durch die Polizei, antimuslimische Diskriminierung in den Medien oder am Arbeitsplatz, Benachteiligungen im Schulsystem oder bei der Wohnungssuche – treffen hauptsächlich dieselben Gruppen, die sich juristisch kaum zur Wehr setzen können.
Das Recht, Rechte zu haben
Weshalb werden auch im Nationalstaat Schweiz die Menschenrechte nicht in linearer Entwicklung zu einem immer umfassenderen Schutzschirm für alle? Um die widersprüchlichen Entwicklungen besser zu verstehen, ziehe ich die politische Denkerin Hannah Arendt zu Rate. Sie hat beschrieben, wie die einen Menschen über das «Recht, Rechte zu haben» verfügen und die anderen nicht.
Hannah Arendt nimmt uns in «Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft» unter der Überschrift «Der Niedergang des Nationalstaates und das Ende der Menschenrechte» die Illusion der Universalität. Sie sieht die Menschenrechte nicht überall und für alle in Geltung.
Arendt hatte die Erfahrung von Entrechtung, Ausweisung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerungen oder das Schicksal von Vertriebenen in Krieg und Totalitarismus vor Augen: «Dass es so etwas gibt wie ein Recht, Rechte zu haben – und dies ist gleichbedeutend damit, in einem Beziehungssystem zu leben, in dem man aufgrund von Handlungen und Meinungen beurteilt wird –, wissen wir erst, seitdem Millionen von Menschen aufgetaucht sind, die dieses Recht verloren haben und zufolge der neuen globalen Organisation der Welt nicht imstande sind, es wiederzugewinnen.»
Ausschlussdemokratie Schweiz
Auch wenn die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 und die weiteren Menschenrechtsabkommen der UNO und des Europarats davon ausgehen, dass alle Menschen frei und gleich an Rechten sind: Hannah Arendt schärft den Blick dafür, dass Menschenrechte in der Praxis allzu oft nur Bürger*innenrechte sind. Geschützt werden Menschen, die innerhalb der bestehenden Rechtsgemeinschaften – der Staaten – als Träger*innen von Rechten anerkannt werden. Unter die Räder von Gewalt, Diskriminierung und Ausgrenzung geraten – auch und gerade hierzulande – vor allem Menschen, die nicht Bürger*innen sind. Rechte zu haben ist keine Sache aller. Hannah Arendts siebzig Jahre alte Analyse beschreibt die heutige Situation von Sans-Papiers oder von abgewiesenen Geflüchteten in Nothilfezentren. Die Welt ist nicht inklusiv konstruiert. Das von Nationalstaaten getragene Menschenrechtssystem hat seine unüberwindlichen Grenzen. Der Nationalstaat ist Schützer und Gefährder der Menschenrechte zugleich. Wie die Gewichte verteilt sind, entscheidet sich in der politischen Auseinandersetzung.
Die Schweiz bezeichnet sich als Willensnation. Aber nicht alle können wollen. Der Staat selbst will nicht mit allen. Die Schweiz ist eine Demokratie, allerdings auch eine Ausschlussdemokratie. Die Geschichte der letzten beiden Jahrhunderte beinhaltet nicht nur die Durchsetzung und den Aufbau eines liberalen, demokratischen und rechtsstaatlichen Gemeinwesens. Sondern parallel dazu immer auch die Ausgrenzung von «Anderen».
In der modernen Schweiz kamen seit 1848 während langer Zeit nur Schweizer Männer ab 20 Jahren in den Genuss umfassender Rechte. Und keineswegs alle von ihnen. Ohne Anspruch auf grundlegende Rechte blieben zuzeiten jüdische Menschen, «Armengenössige», die keine Steuern zahlen konnten, Bankrotteure, verurteilte Straftäter*innen, Verdingkinder, Zwangsversorgte, «Geisteskranke», «Geistesschwache», «Sittenlose», Saisonniers oder Sans-Papiers. Beim Ausschluss administrativ versorgter Menschen wurde zum Beispiel erst in den letzten fünfzehn Jahren mit der Aufarbeitung begonnen.
Der Hälfte der Bevölkerung, den Frauen, war der Zugang zu vielen grundlegenden Rechten verwehrt, zum Stimm- und Wahlrecht bis 1971. Die umfassende Anerkennung ihrer Arbeit – inklusive der geschlechtermässig ungleich verteilten Carearbeit mit Folgen für ihre wirtschaftlichen und sozialen Rechte etwa bei den Sozialversicherungen – fehlt bis heute.
Das Stimm- und Wahlrecht gilt erst für Personen ab 18 Jahren. Wenn eine Beeinträchtigung, fehlende Staatsangehörigkeit, soziale und wirtschaftliche Diskriminierung hinzukommen, zählen Kinder zu den verletzlichsten Gruppen. Das grundlegende Recht, Rechte zu haben, wird ihnen oft nicht zugestanden.
Die dunkle Vergangenheit der Exklusion ist immer auch noch Gegenwart. Der Staat verwehrt zwei von acht Millionen Bewohner*innen vollwertige politische Teilhabe und gesellschaftliche Zugehörigkeit – das Recht, grundlegende Rechte zu haben. Der Grund: fehlende Staatsbürger*innenschaft, die gewollt ist. Hannah Arendt behält Recht. Die Schweiz ist menschenrechtlich eine Zweiklassengesellschaft: Die einen – inklusive die insgesamt mehrheitlich privilegierten Coronaleugner*innen, Impf- und Zertifikatsgegner*innen – haben einen breiten, andere nur einen beschränkten oder fast gar keinen Zugang zum Recht.
Die Coronapandemie hat Ausschlussmechanismen sichtbarer gemacht: Sie treffen oft Menschen, die aufgrund ihres rechtlichen Status bereits diskriminiert waren. Längst prekär lebende Menschen verlieren ihre Arbeit, die Möglichkeit zu betteln, ihre Wohnung, ihren Platz in der Notschlafstelle. Die wieder wachsende soziale Ungleichheit bedeutet Ausschluss für die einen, verstärkte Ausbeutung für die anderen. Gewalt gegen randständige Menschen und häusliche Gewalt gegen Frauen nehmen zu. Diese intersektionalen Formen der Diskriminierung sind besonders einschneidend. Sich in der Schweiz auf die wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte zu berufen, ist jedoch schwierig. Die Garantien des UNO-Sozialpaktes begründen laut der Rechtsprechung des Bundesgerichts keine direkt einklagbaren Rechte. Die Europäische Sozialcharta wurde bis heute nicht ratifiziert.
Die Tendenz, Menschen vom Zugang zum Recht auszuschliessen, ist dem Strafvollzug insbesondere in Untersuchungs- oder Einzelhaft oder der dortigen Gesundheitsversorgung für psychisch kranke Personen ein Stück weit inhärent. Sie zeigt sich nun aber verstärkt in der gefährlichen Tendenz des Strafrechts, immer mehr präventiv einzugreifen. Bevor sie eine Straftat begehen, werden Menschen aufgrund von Algorithmen, unzulänglichen Gutachten oder nachrichtendienstlichen Informationen als Risikofaktoren, als Gefährder*innen betrachtet. Sie werden mit Massnahmen belegt – von Hausarrest schon für 15-Jährige im neuen Polizeimassnahmengesetz hin zu jahrelangen Verwahrungen im Strafgesetzbuch. Der unzulängliche Versuch, totale Sicherheit zu schaffen, wird über die Resozialisierung oder die Menschenwürde gestellt. Im Namen des Kampfes gegen den Terror kommt es auch zu Fällen von Entzug der Staatsbürgerschaft von Doppelbürger*innen durch Verwaltungsmassnahmen; und die Behörden repatriieren die Kinder von Schweizer Bürger*innen nicht, wenn sie sich in einem Gefangenenlager für IS-Angehörige befinden.
Wo zieht eine Gesellschaft die Grenze zwischen jenen, denen Rechte zukommen, und jenen, welche aussen vor bleiben? Gegenüber der Debatte zu Zeiten von Hannah Arendt ergibt sich eine weitere Dimension. Sie kann nur angetönt werden, auch wenn sie für Rückwirkungen auf den Menschenrechtsdiskurs bedeutsam sein wird: die Frage von Grundrechten auch für nichtmenschliche Lebewesen, für Tiere und für die Natur insgesamt. Sie wird immer klarer gestellt, selbst im Parlament und mit Instrumenten der direkten Demokratie, wie etwa mit einer Initiative für die Grundrechte von Primaten in Basel-Stadt.
Jenseits der Grenzen
Wenn die Schweiz in den Menschenrechtsverfahren vor der UNO oder dem Europarat Stellung nehmen muss, wird sie in sehr vielen Punkten kritisiert. Dennoch kann die Menschenrechtslage in den meisten Bereichen nicht direkt verglichen werden mit jener in Staaten, in denen Gewalt gegen Oppositionelle und Angehörige von Minderheiten, Vertreibungspolitiken zur Ausbeutung von Rohstoffen, Zensur und Zwangsarbeit herrschen. Aber: Inwiefern hat es auch mit der Schweiz zu tun, wenn Milliarden von Menschen in autokratischen Regimes, in gescheiterten Staaten, in Zonen, in denen Menschenrechte nicht durchgesetzt werden, keine Rechte haben?
Für eine Bestandesaufnahme, wo schweizerische Politik Menschenrechte beschneidet, ist diese Frage von Gewicht. Ich möchte sie in der Perspektive von Hannah Arendt stellen: Welche schweizerischen Interessen nehmen Menschen anderswo ihr Recht, Rechte zu haben? In welchen Menschenrechtsverletzungen steckt schweizerische Mitverantwortung, die als solche nur schwer erkennbar ist?
Schon historisch ist gerade die Schweiz mit der Welt aufs Engste verwoben. Welche menschenrechtlichen Implikationen ihre globalisierte Geschichte hat, zeigen neuere Forschungen zur Sklaverei und zum Handel mit Kolonien, zu Rüstungsexporten in historischer Kontinuität bis heute, zur Stützung von Unrechtsregimes wie Nazideutschland oder Südafrika zu Zeiten der Apartheid oder auch zur Einwanderungs- und Arbeitsmarktpolitik.
In der Gegenwart zeigen im Energiebereich nur schon die Erdölimporte aus Libyen, Kasachstan und Aserbaidschan oder der Erdgasimport aus Russland mögliche Zusammenhänge zwischen unserer «imperialen Lebensweise» (Ulrich Brand und Markus Wissen) und der Menschenrechtslage anderswo auf. Gleiches gilt für Strukturen globaler Korruption, wie sie in den Pandora Papers zutage treten, wonach Schweizer Anwaltskanzleien Beihilfe zu Geldwäscherei leisten, oder im Fall eines Milliardenkredits von Credit Suisse an Moçambique, der unzählige Menschen in die Armut stürzte. Der Finanzplatz Schweiz entzieht mithilfe konzerninterner Gewinnverschiebungen anderen Staaten enorme Steuereinnahmen. Sie fehlen, um Menschen ihr Recht auf Bildung oder auf Gesundheit zu gewährleisten. Der Rohstoffhandelsplatz Schweiz, weltweit der wichtigste, hat in Abbaugebieten handfeste Auswirkungen auf das Leben und die Rechte von Millionen Menschen.
Die Schweiz profitiert von den globalen kapitalistischen Strukturen. Sie steht aufgrund ihrer Verfassung jedoch in der Pflicht, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um in multi- und bilateralen Beziehungen Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit zu schützen. Das brachliegende Potenzial für eine menschenrechtlich kohärente Politik würde offenkundig, wenn die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen mit Saudi-Arabien, Brasilien, Polen oder China einer systematischen Prüfung unterzogen würden.
Die Menschenrechtsaussenpolitik ist ambivalent: Die Schweiz engagiert sich konkret für Meinungsäusserungsfreiheit oder gegen die Todesstrafe. Aber sie bleibt beim Thema Konzernverantwortung auch auf internationaler Ebene passiv, und sie hat ihre Unterstützung für den UNO-Migrationspakts auf Eis gelegt. Sie bleibt damit ihrer Geschichte treu, in der sie vielen Menschenrechtsverträgen, wie der Europäischen Menschenrechtskonvention, erst sehr spät und mit Vorbehalten beigetreten ist.
An einem Punkt ist es offensichtlich, dass die Schweiz unmittelbar dazu beiträgt, Menschen vom Zugang zu Menschenrechten auszuschliessen: bei der Haltung zur Abwehr von Geflüchteten an den europäischen Aussengrenzen. Die Schweiz trägt das gewalttätige EU-Grenzregime mit, unter anderem mit ihrer steigenden Beteiligung an der Grenzschutzagentur Frontex. Dieser Staat ist mitverantwortlich für Pushbacks und weitere gravierende Menschenrechtsverletzungen gegenüber Geflüchteten an den Aussengrenzen der Festung Europa. Dass Menschen zwischen Kroatien und Bosnien, Polen und Belarus oder auf dem Mittelmeer zwischen Libyen und Italien ihres – nach Hannah Arendt allergrundlegendsten – Rechts, überhaupt Rechte in Anspruch nehmen zu können, beraubt werden, gehört ins dunkle Zentrum einer menschenrechtlichen Bilanz der Schweiz.
Der utopische Horizont
Was tun? Wie weiterdenken? Die Menschenrechtsbewegung muss zwar auf die schweizerische Politik einwirken, darf aber ihre Grenzen nicht verinnerlichen: Jede Verletzung eines Menschenrechts irgendwo auf der Welt hat mit der Würde aller anderen Menschen auf diesem Globus zu tun. Menschenrechte müssen unteilbar und universell gedacht werden – über die nationalstaatliche Gebundenheit und Staatsbürger*innenschaft hinaus. Menschenrechte, so formuliert Franziska Martinsen im Anschluss an Hannah Arendt, sind «zum einen Bezugspunkte für historische politische und soziale Kämpfe um politische Gleichheit und die Erlangung von Rechten […], zum anderen eng verknüpft mit der Vorstellung einer globalen demokratischen Ordnung jenseits des Empire (resp. polizeilicher Ordnungen)» . Der Horizont von Politik, die konsequent auf den Menschenrechten basiert, ist immer egalitär und global, und damit antinationalistisch und antirassistisch. Eine solche emanzipatorische Politik sprengt Grenzen von identitären Zugehörigkeiten und ökonomischen Zweckrationalitäten, sie wird revolutionär und utopisch.
In der Schweiz wird beispielsweise mit der Migrationscharta versucht, eine menschenrechtsbasierte Politik der Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität zu betreiben. «Staaten und Organisationen von Staaten teilen Menschen in unterschiedlichste Kategorien ein. Wenn es um Migration geht, spielen Kategorisierungen eine entscheidende Rolle. Wirtschaftliche Nützlichkeit, ‹kulturelle Nähe›, Herkunft, Klasse, Geschlecht, Religion oder schlicht Rassismus entscheiden über Einschluss und Ausschluss.» Der utopische Horizont eines Rechts auf Rechte, eines Rechts auch auf freie Niederlassung, wird in der Migrationscharta auch damit begründet, dass aus biblisch-theologischer Sicht die Einteilungen und Kategorisierungen, die Nationalstaaten vornehmen, nicht fraglos übernommen werden können.
Handlungsfähigkeit der Ausgeschlossenen
Woher kann Veränderung kommen? Hannah Arendt formuliert in ihrer Zeitdiagnose nicht nur die Kritik, sondern sieht in den vorgefundenen Tatsachen auch den Kern einer Gesellschaft, die keine Menschen von ihrem Recht, Rechte zu haben, mehr ausschliesst. Diese Dimension ihres Denkens wird leicht übersehen. Wenn Menschen aus dem nationalstaatlichen Rechtssystem ausgeschlossen werden, verlieren sie alle konkreten Rechte. Die Menschenwürde aber verlieren sie erst dann, wenn sie «menschliche Gemeinschaft» verlieren – die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv, in dem «der Begriff der Freiheit zugleich seinen sozialen Sinn» gewinnt, ein politisches «Beziehungssystem […], in dem man nach seinen Handlungen und Meinungen beurteilt wird». Im politischen Handeln im Feld der Menschenrechte ist es deshalb entscheidend, die vom Recht Ausgeschlossenen nicht als passive Opfer zu sehen. Judith Butler, Hannah Arendt im Herzen, präzisiert: «Diejenigen, die sich in Positionen befinden, in denen sie radikal der Gewalt ausgesetzt sind, ohne grundlegenden politischen Schutz durch das Recht, sind nicht aus diesem Grund ausserhalb des Politischen oder jeder Form von Handlungsfähigkeit beraubt. Natürlich brauchen wir eine Sprache, um diesen Status des Inakzeptablen zu beschreiben, aber wir müssen darauf achten, dass die Sprache, die wir verwenden, diese Bevölkerungsgruppen nicht noch weiter aller Formen der Handlungsfähigkeit und des Widerstands beraubt, aller Möglichkeiten, füreinander zu sorgen oder Unterstützungsnetze aufzubauen.»
Ausgeschlossene Gruppen können sich selbst – gestärkt durch Solidarität mit und von anderen – Zugehörigkeit und Gemeinschaft verschaffen. Judith Butler betont, dass im Gegensatz zu den universellen Menschenrechten das Recht, Rechte zu haben, ein Rechte ausübendes, ein handelndes, ein widerständiges Subjekt voraussetzt und nicht Menschen, die sich als blosse Träger*innen von Rechten verstehen. Dieses persönliche und kollektive Handeln bewegt sich am Abgrund, oft im Angesicht tödlicher Gefahren. Aber genau diese Lage kann, so Hannah Arendt aus eigener Erfahrung, zu einem «violent courage of life» führen, zu heftigem Lebensmut.
Die NGO-Plattform Menschenrechte Schweiz widmete sich kürzlich dem Thema «Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Und die Anderen? Stärkung des Diskriminierungsschutzes in der Schweiz». Eine Tagung wurde zur Vernetzungsplattform für verschiedenste zivilgesellschaftliche Gruppen: vom Schweizerischen Gehörlosenbund bis zum Sex Workers Collective, von der Interessenvertretung von Frauen mit Behinderungen avanti donne bis zur Radgenossenschaft der Landstrasse, vom Transgender Network Switzerland bis zur Allianz gegen Racial Profiling. So könnte ein Weg in die Zukunft der Menschenrechtsbewegung aussehen, die sich neu formiert. Sie bewegt sich im Widerstand gegen die (Zwei-)Klassengesellschaft und gegen den Ausschluss vom Recht auf Rechte. Sie entwickelt, ausgehend von mehrfach diskriminierten und ausgeschlossenen Menschen, die Vision einer Gesellschaft, in der alle in Freiheit und Menschenwürde leben können. Und sie lebt politische Praxis, die nicht nur auf ein Ziel ausgerichtet ist, für das alle Mittel recht sind. Sie will der Menschenwürde, der Freiheit, der Ermächtigung und dem Selbstwertgefühl aller, auch der Ausgeschlossenen, schon jetzt in der Gegenwart, in der Gemeinschaft zum Durchbruch verhelfen.
Dieser Beitrag erschien ursprünglich im Magazin Neue Wege in der Ausgabe Nr. 12.2021.