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Zivilschutzanlagen als Asylunterkünfte: Das Leben im Bunker

12.10.2015

«Ich bin in einem Bunker gelandet, als ob mich jemand hineingestossen hätte. Ich hatte keine Wahl. Ich konnte nicht auf der Strasse leben oder ins Ausland gehen, da sich dies negativ auf mein Asylverfahren ausgewirkt hätte. Ich konnte einfach gar nicht Nein sagen.» Diese anonyme Aussage kommt von einem Mitglied des Kollektivs «Stop-Bunker». Der Zusammenschluss von Migranten und Migrantinnen kämpft zurzeit zusammen mit zahlreichen Vereinen im Kanton Genf dafür, dass keine Migranten/-innen mehr in Zivilschutzanlagen leben müssen.

Im Sommer 1999, als die Schweiz aufgrund des Kosovokonflikts mit einer aussergewöhnlich hohen Zahl von Asylgesuchen konfrontiert war, wurden im Kanton Genf 700 Personen (darunter auch Familien) in 12 verschiedenen Zivilschutzanlagen untergebracht. Diese damals neue Situation löste eine allgemeine Unzufriedenheit aus, so dass per 9. Dezember des gleichen Jahres keine einzige Person mehr im Untergrund lebte - alle Asylsuchenden waren in oberirdische Unterkünfte verlegt worden. Heute nutzt der Kanton Genf wieder Zivilschutzanlagen und auch andere Kantone wie die Waadt, Bern und Luzern greifen regelmässig zu dieser Massnahme. Schweizweit werden neue Zivilschutzanlagen als «Notunterkünfte» für Asylsuchende eröffnet, wie beispielsweise jene in St. Gallen Ende August.

Ursprünglich als temporäre und kostspielige Übergangslösung im Ausnahmefall gedacht, ist die Unterbringung von Asylsuchenden in Zivilschutzanlagen in der ganzen Schweiz zu einer gängigen Praxis geworden. In einigen Schweizer Städten ist dies seit Jahren üblich; Zivilschutzbunker sind zur Dauereinrichtung für Asylsuchende geworden, so etwa in Bern (Hochfeld). Doch wiederum formiert sich Widerstand in der Zivilbevölkerung, bei Politikern/-innen und Experten/-innen, welche die unmenschlichen Zustände in den Unterkünften betonen. So haben sich in der Vergangenheit neben «Stop-Bunker» auch Bewegungen in der Deutschschweiz wie etwa «Bleiberecht» in Bern bereits vehement gegen die Praxis eingesetzt. Ausserdem sprechen sich einige wenige Kantone, wie beispielsweise der Jura, offiziell dagegen aus.

Wie sieht die rechtliche Grundlage aus?

Das Bundesgericht hat in einem Urteil von 2013 die Praxis als zumutbar beurteilt, solange gewisse Bedingungen erfüllt sind. Das Gericht wies damals die Beschwerde des Asylsuchenden S. ab, der auf seine Rückschaffung nach Italien wartete und vom Waadtländer Amt für die Unterbringung von Asylsuchenden (EVAM) vergeblich gefordert hatte, von einer Zivilschutzanlage in eine andere Unterkunft verlegt zu werden. Dabei machte S. geltend, dass die Wohnbedingungen in den Zivilschutzanlagen ihn an die unmenschlichen und traumatisierenden Haftzustände in seinem Heimatland erinnern würden. Das Bundesgericht vertrat dagegen die Ansicht, die Unterkunftsbedingungen verletzten die menschliche Würde sowie das Recht auf Nothilfe gemäss Art. 7 und 12 der Bundesverfassung nicht. Weiter sah das Gericht eine Verletzung von Art. 3 der Menschenrechtskonvention (Verbot unmenschlicher und erniedrigender Behandlung) nicht gegeben.

Wichtig ist dabei, dass im Kanton Waadt eine gesetzliche Grundlage für die Praxis besteht, die das Bundesgericht guthiess. Das Gesetz sieht vor, dass Asylsuchende grundsätzlich in Empfangszentren und Wohnungen untergebracht werden, dass aber im Fall einer grossen und unerwarteten Anzahl von Asylsuchenden die Eröffnung von Zivilschutzanlagen beschlossen werden kann, um kurzfristig Personen unterzubringen.

Recht auf angemessene Unterkunft

Entgegen zu halten ist dieser Sichtweise, dass sich internationale Verträge und Dokumente durchaus zu den Rechten in Bezug auf die Unterbringung äussern. So enthält etwa der von der Schweiz ratifizierte UNO-Pakt I in Artikel 11 ein Recht auf ausreichende Unterbringung. Allerdings weigert sich die Schweiz bisher standhaft, soziale Rechte vor Gericht anzuerkennen (Nicht-Justiziabilität), weshalb dieses Recht in der Praxis nicht geltend gemacht werden kann (hier finden Sie unseren Artikel zu diesem Thema). Weiter gibt es die «Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen», welchen Migranten/-innen einen gewissen Schutz in diesem Bereich garantiert. Diese Konvention ist jedoch von der Schweiz nicht ratifiziert worden (und dies ist bis auf weiteres auch nicht vorgesehen). Ebenfalls nicht ratifiziert hat die Schweiz die revidierte Sozialcharta des Europarates, welche ein Recht auf Wohnung (Art. 31) anerkennt.

Die Dauer ist entscheidend

Die Tatsache, dass das Bundesgericht die Unterbringung von S. in einer Waadtländer Zivilschutzanlage als rechtens beurteilt hatte, bedeutet nicht zwingend, dass die gegenwärtige Praxis immer sowohl legal als auch menschenwürdig ist. Das Gericht betont, dass eine bestimmte Behandlung, um als Verletzung von Art. 3 der EMRK zu gelten, ein «Mindestausmass» annehmen muss. «Dieses Ausmass hängt sowohl vom Gesamtbild der Begebenheiten sowie von den Umständen und der Art und Weise der Behandlung und der Dauer ebendieser ab, als auch von den körperlichen und geistigen Folgen und unter Umständen vom Geschlecht, vom Alter und vom Gesundheitszustand der Betroffenen.»

In Genf dauert ein Aufenthalt in Zivilschutzanlagen durchschnittlich sechs Monate, manchmal jedoch bis zu anderthalb Jahren. In andern Kantonen soll die Aufenthaltsdauer kürzer sein. So ist gemäss Angaben des St. Galler Migrationsamtes dort geplant, dass die Aufenthaltsdauer zwei bis drei Monate nicht übersteigt. Geeignet sind militärische Unterkünfte und Zivilschutzanlagen jedoch gemäss der nationalen Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) grundsätzlich nur für kürzere Aufenthalte. Die Kommission spricht in ihrem Bericht über die Bundesasylzentren von 2013 von höchstens drei Wochen. Insbesondere die schlechte Luftqualität in den unterirdischen Militärunterkünften dürfte demnach bei längeren Aufenthalten problematisch sein.

Gesundheitsexperten/-innen sehen dies ähnlich. Die Tribune de Genève zitiert eine Psychologin wie folgt: «Im Untergrund verschwinden, nicht kochen können, mit brennendem Licht schlafen, bei Lärm und auf engstem Raum; es gibt viele Dinge, die wie Kleinigkeiten erscheinen, jedoch mit der Zeit enorme Ausmasse annehmen. Man verliert die Orientierung, die tag- und nachtaktiven Rhythmen und damit den Bezug zum Leben.» Selbst die beiden verantwortlichen Institutionen der Kantone Genf und Waadt geben zu, dass die Zivilschutzanlagen menschenunwürdige Lösungen seien.

In einigen Kantonen mussten sich unterdessen die Gesetzgeber mit der Thematik befassen. Besonderen Druck machen Parlamentarier/innen insbesondere in der Westschweiz. Auf Eidgenössischer Ebene forderte 2009 Nationalrat Andy Tschümperlin per Motion vom Bundesrat, er solle dafür sorgen, dass Asylsuchende nicht mehr in unterirdischen Zivilschutzanlagen untergebracht werden; die Motion verlangt «Mindeststandards für die Unterbringung der Asylsuchenden in den Kantonen (...), die sicherstellen, dass Asylsuchende nicht längerfristig in Zivilschutzanlagen ohne direktes Tageslicht untergebracht werden.» In seiner Antwort vertrat der Bundesrat jedoch die Ansicht, der Bund hätte nicht die Kompetenz, Vorschriften bezüglich Unterbringung in den Kantonen zu erlassen.

Wie regelmässig kann eine unerwartete Notlage erfolgen?

In den Medien und in der Öffentlichkeit herrscht die Meinung vor, dass der «Flüchtlingsstrom» anhalte und die kantonalen Asylzentren überfüllt seien. Auch Bundesrat Ueli Maurer trägt zu diesem Diskurs eines vermeintlichen Ausnahmezustandes seinen Teil bei, indem er verkündet, in Zivilschutzanlagen könnten innert kürzester Zeit 50‘000 Plätze für Flüchtlinge bereitgestellt werden. Dabei geht jedoch vergessen, dass die aktuelle Asylstatistik in der Schweiz – etwa im Vergleich zu 1999 – keineswegs einem Ausnahme-, sondern vielmehr dem Normalzustand entspricht.

Für die Inbetriebnahme von Zivilschutzanlagen machen die kantonalen Behörden häufig eine Notlage geltend. Die Kantone Bern und Luzern, die in den vergangenen Jahren Asylsuchende in Zivilschutzanlagen untergebracht haben, berufen sich auf Notrecht. Der Kanton Bern zwingt die Gemeinden auf dieser Grundlage nach dem Sommer 2014 auch im Sommer 2015 abermals dazu, ihre Zivilschutzanlagen für Asylsuchende zu öffnen. Dabei betont der Berner Sicherheitsdirektor, dies sei «eine ganz normale Massnahme, die das kantonale Bevölkerungs- und Zivilschutzgesetz für akute Situationen» vorsehe. Notlagen sind gemäss Art. 2 Abs. 1 dieses Gesetzes «überraschend eintretende Ereignisse bzw. unmittelbar drohende Störungen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit oder soziale Notstände, die mit den für den Normalfall bestimmten Mitteln und Befugnissen allein nicht mehr bewältigt werden können.» Heute sind von den fünf Asylzentren, welche die ORS im Kanton Bern betreibt, vier unterirdische «Notunterkünfte».

Auch der Luzerner Sozialdirektor stellt klar, dass «der Kanton Luzern auf das Notrecht zurückgreifen musste, um Zivilschutzanlagen für Asylsuchende bereitstellen zu können.» Dabei beruft sich der Kanton auf § 2 Abs. 3 des Gesetzes über den Bevölkerungsschutz. Dieser lautet: «Als Notlagen gelten Situationen, die aus einer gesellschaftlichen Entwicklung oder einem technischen Ereignis entstehen und mit den ordentlichen Abläufen nicht bewältigt werden können, weil sie die personellen und materiellen Mittel der betroffenen Gemeinschaft überfordern.»

Kommentar von humanrights.ch

Es stellt sich die Frage, ob die aktuelle Ausgangslage tatsächlich den Bedingungen der verschiedenen kantonalen Gesetzesartikel entspricht: Kann man wirklich von einer «grossen und unerwarteten Anzahl» oder von einem «überraschenden, unmittelbaren Ereignis» sprechen, wenn die Asylstatistik von 2014 (23‘765) in keinem Verhältnis zu jener von 1999 (46‘068) steht? Sind der Krieg in Syrien und die Situation in Eritrea – die meisten Asylsuchenden in der Schweiz kommen aktuell aus diesen beiden Ländern – nicht vielmehr langjährige Zustände, welche der Schweiz bestens bekannt sind? Ist die aktuelle Situation wirklich so überraschend und unmittelbar, dass sie nicht «mit den ordentlichen Abläufen» bewältigt werden kann? Und: Ist es legitim sich während Jahren auf Notrecht zu berufen?

Aus Sicht der NGOs liegt das Problem in der fehlenden Vorbereitung seitens der Behörden auf eine Situation, die alles andere als unvorhersehbar war. Für diese Ausgangslage ist nicht zuletzt ein Entscheid von 2006 des damaligen Justizministers Christoph Blocher verantwortlich, der es den Kantonen nicht mehr genehmigte, «Reserven» in Sachen Unterkünfte für Asylsuchende anzulegen. Diese Einschränkung bringt die Kantone nun unter Druck, da in der Folge viele Asylzentren geschlossen und nur wenige neu eröffnet wurden. Vor diesem Hintergrund sprechen die Kantone heute von einer Notlage, werden «ordentliche Abläufe» umgangen und Hunderten von Personen eine angemessene Unterkunft vorenthalten.

Bund und Kantone nehmen damit in Kauf, dass sich die oft bereits durch die Fluchtumstände angeschlagene Gesundheit von Asylsuchenden in ihrer Obhut nochmals massiv verschlechtert. Es fehlt klar am politischen Willen, die Situation für Flüchtlinge zu verbessern. Flüchtlinge werden hierzulande in Unterkünften untergebracht, die nach mehreren Wochen für alle anderen Personengruppen als unzumutbar und illegal gelten würden. Sie sind eine verletzliche Minderheit, deren Rechte mit Füssen getreten wird, unter anderem weil sich bisher zu wenige Menschen für ihren Schutz stark machen.

Zu bedauern ist in diesem Zusammenhang auch, wie wenig Bedeutung in der Schweiz allgemein den sozialen Menschenrechten beigemessen wird. NGOs fordern seit Jahren vergeblich, die Schweiz müsse die sozialen Rechte wie jedes andere Recht behandeln und durchsetzen. Der Bundesrat und das Bundesgericht weigern sich jedoch, in den Sozialrechten mehr als programmatische Ziele zu sehen, die nach Gutdünken gewissen Gruppen vorenthalten werden können. Dies führt zu unhaltbaren Zuständen, insbesondere wenn Kantone, die sich jahrelang ohne tatsächliche Notlage auf Notrecht berufen, nicht zurückgepfiffen werden.