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Überlange Asylverfahren

18.04.2019

Laura Rossi, Fürsprecherin

Die Behandlung gut begründeter Asylgesuche und von Gesuchen aus Herkunftsländern mit einer hohen Quote an vorläufigen Aufnahmen dauert in der Regel mehr als zwei Jahre. Diese Praxis des Staatssekretariats für Migration (SEM) ist für die Betroffenen sehr belastend und verletzt die Verfahrensgarantie.

Ausgangslage

Stellen Menschen in der Schweiz ein Asylgesuch, beginnt damit unter Umständen eine lange Zeit des Wartens. Diese Wartezeiten variieren je nachdem, ob die Gesuchstellenden Chancen haben auf die Asylgewährung oder auf eine vorläufige Aufnahme, oder ob ihr Gesuch abgewiesen wird und sie aus der Schweiz weggewiesen werden. In der Regel werden Asylgesuche von Menschen aus dem Balkan innerhalb von 48 Stunden direkt im Empfangs- und Verfahrenszentrum (EVZ) abgewiesen (sog. 48h-Verfahren). Gesuche von Menschen aus dem Maghreb und aus Westafrika werden in den Fast-Track-Verfahren ebenfalls innert 48 Stunden direkt im EVZ abgelehnt. Neben den bisher im Testverfahren für das seit dem 1. März 2019 geltenden beschleunigten Asylverfahren erledigten Gesuche werden auch Dublin-Verfahren, das heisst Wegweisungen in einen anderen Staat zwecks Durchführung des Asylverfahrens, innert weniger Wochen entschieden.

Bei offensichtlich gut begründeten Asylgesuchen und Gesuchen von Menschen, die gute Chancen auf eine vorläufige Aufnahme haben (z. B. Menschen aus Syrien und aus Afghanistan), dauert es gemäss Erfahrung von Anwältinnen und Anwälten in der Regel mehr als zwei Jahre bis darüber entschieden wird. Darunter sind gefolterte und traumatisierte Menschen, welche durch die Verzögerung ihres eigenen Asylgesuchs ihre Familien erst noch viel später werden nachziehen können. Durch die lange Wartezeit verschlechtert sich ihr Gesundheitszustand zusehends. Sie sehen sich mit materieller Not (Asylsozialhilfe ist um 2/3 tiefer als die Sozialhilfe gemäss SKOS) und einem faktischen Arbeitsverbot konfrontiert. Sie leben allein oder zusammen mit ihren Familien während mehreren Jahren in beengten Verhältnissen in Asylunterkünften, welche jegliche Privatsphäre vermissen lassen. Vor dem Hintergrund der zunehmend einschränkenden Regelungen und Praktiken in einigen Kantonen (z.B. Eingrenzungen in St. Gallen, Anwesenheitsverpflichtungen in Zürich und neu auch in Bern) verschärft sich der Druck auf die Betroffenen zusehends.

Diese lange Wartezeit wirkt sich nicht nur schädlich auf die Gesundheit der Betroffenen aus, sondern erschwert auch den späteren Integrationsprozess zusätzlich. Ausgerechnet jene Asylsuchenden, die gute Aussichten auf eine Asylgewährung oder eine vorläufige Aufnahme haben und in aller Regel in ihrem Herkunftsland und auf ihrem Weg in die Schweiz Schweres durchgemacht haben, sind – zusammen mit ihren Kindern – mit zwei bis drei Jahren Nichtstun und Abwarten konfrontiert, was auch im Hinblick auf eine erfolgreiche Integration wenig sinnvoll ist. Nachweislich sind die ersten Jahre nach der Ankunft in der Schweiz für eine erfolgreiche sprachliche, soziale und wirtschaftliche Integration nämlich entscheidend. Verletzliche Personen mit guten Anerkennungschancen für zwei oder mehr Jahre im Verfahrensstadium mit beschränkten Integrationsmöglichkeiten und eingeschränkter Förderung zu belassen, ist aus individueller, aber auch aus öffentlicher Perspektive für alle Beteiligten langfristig schädlich.

Verletzung des prozessualen Grundrechts

Gemäss der allgemeinen Verfahrensgarantie (Art. 29 BV) hat jede Person Anspruch auf eine Beurteilung ihrer Sache innert angemessener Frist. Diese Verfassungsgarantie gilt für alle Sachbereiche und alle Akte der Rechtsanwendung. Von einer Rechtsverzögerung im Sinn des Gesetzes ist nach Lehre und Praxis auszugehen, wenn behördliches Handeln zwar nicht (wie bei einer Rechtsverweigerung) grundsätzlich infrage steht, aber die Behörde nicht innert der Frist handelt, die nach der Natur der Sache objektiv noch als angemessen erscheint. Die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens ist im Einzelfall unter Berücksichtigung der gesamten Umstände zu beurteilen. In Betracht zu ziehen sind dabei namentlich die Komplexität der Sache, das Verhalten der betroffenen Beteiligten und der Behörden, die Bedeutung des Verfahrens für die betroffene Partei sowie einzelfall-spezifische Entscheidungsabläufe (vgl. zum Ganzen BGE 130 I 312 E. 5.1 und 5.2 mit weiteren Hinweisen auf Lehre und Praxis). Ein Verschulden der Behörde an der Verzögerung wird nicht vorausgesetzt, weshalb sie das Rechtsverzögerungsverbot auch dann verletzt, wenn sie wegen Personalmangels oder Überlastung nicht innert angemessener Frist handelt. Spezialgesetzliche Behandlungsfristen sind bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer zu berücksichtigen. Gemäss Art. 29 Abs. 1 lit. b AsylG hört das SEM die Asylsuchenden innerhalb von 20 Tagen nach dem Entscheid über die Zuweisung in den Kanton zu den Asylgründen an. Über Asylgesuche ist gemäss Art. 37 Abs. 2 AsylG in der Regel innerhalb von zehn Arbeitstagen nach Gesuchstellung zu entscheiden.

Es mag nachvollziehbar sein, dass aufgrund der grossen Geschäftslast nicht jedes Asylverfahren innerhalb der gesetzlichen Behandlungsfristen abgeschlossen werden kann. Diese Fristen können auch nicht eingeklagt werden, stellen sie doch Ordnungsfristen dar. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner Rechtsprechung zum Rechtsverzögerungsverbot jedoch festgehalten, dass eine mangelhafte Organisation oder eine strukturelle Überbelastung übermässig lange Verfahrensdauern nicht rechtfertigen können. Geschäftslast und Personalmangel könnten eine Verletzung von Verfassungsrecht nicht durchbrechen. Es wird entsprechend für die Bejahung einer Verletzung des Rechtsverzögerungsgebots nicht vorausgesetzt, dass der Behörde ein Fehlverhalten oder ein Verschulden vorgeworfen werden kann. Eine Behörde verletzt deshalb das Rechtsverzögerungsverbot auch dann, wenn sie wegen Personalmangels oder Überlastung nicht innert angemessener Frist verfügt. Diese Grundsätze ergeben sich aus dem Umstand, dass das Beschleunigungsgebot von Art. 29 BV ein prozessuales Grundrecht darstellt und damit ein individuelles (Prozess-)Recht der betroffenen Personen statuiert. Sie gelten auch für nichtstreitige Verwaltungsverfahren.

Eine Verfahrensdauer von zwei oder mehr Jahren ist schlicht unverhältnismässig und verletzt die Verfahrensgarantien nach Art. 29 Abs. 1 BV auch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hat festgestellt, wie hiervor ausgeführt, dass die Untätigkeit des SEM während zweier Jahre eine Rechtsverzögerung und somit eine Verletzung von Art. 29 BV darstellt. Da es weder sinnvoll, noch praktikabel erscheint, in allen Asylverfahren mit längeren Wartezeiten Rechtsverzögerungsbeschwerden einzureichen, muss das SEM hierzu dringend eine Praxisänderung vornehmen.

Mit Schreiben vom 26. November 2018 haben sich mehr als dreissig im Asylrecht tätige Anwältinnen und Anwälte sowie elf NGOs an Staatssekretär Mario Gattiker gewendet und eine markante Praxisänderung bei der Prioritätenordnung für die Behandlung der Asylgesuche gefordert: Offensichtlich gut begründete Gesuche sowie Gesuche aus Ländern mit einer hohen Quote vorläufiger Aufnahmen sollten vorgezogen und rasch entschieden werden.

Mit Antwortschreiben vom 10. Dezember 2018 hat die Vizedirektorin des SEM, Esther Mauer, festgehalten, die aktuelle Behandlungsstrategie verfolge das Ziel, Asylverfahren von Personen, welche den Schutz der Schweiz nicht brauchen würden, möglichst rasch abzuschliessen. Mit den verbleibenden Ressourcen würden die Asylgesuche von mutmasslich in der Schweiz schutzbedürftigen Personen behandelt. Diese Prioritätenordnung habe sich bewährt, sie habe aber nicht verhindern können, dass Ende 2018 noch über 1000 Asylgesuche aus dem Jahr 2015 erstinstanzlich hängig seien. Ende November 2018 seien beim SEM insgesamt noch mehr als 12'000 Asylgesuche pendent.

Betrachtet man die Prioritätenordnung des SEM, erweckt diese den Eindruck, dass sie politisch motiviert ist und mit den langen Wartezeiten für Gesuche, welche voraussichtlich positiv entschieden werden, abschreckend wirken und einen sogenannten Pull-Effekt verhindern will.

Vor dem Hintergrund dieser Haltung des SEM und der grossen Anzahl pendenter Asylgesuche – trotz tiefer Anzahl neuer Asylgesuche im Jahre 2018 – ist im Hinblick auf die neuen Asylverfahren ab März 2019 zu befürchten, dass gerade die gut begründeten Gesuche aufgrund ihrer Komplexität im erweiterten Verfahren behandelt und schon deshalb eine längere Behandlungsdauer erfordern werden. Es ist daher zu erwarten, dass die neuen beschleunigten Verfahren die Wartezeiten in den komplexen Fällen nicht wesentlich verkürzen werden. Solange das SEM seine Prioritätenordnung nicht zu Gunsten der Gesuche mit mutmasslich hoher Schutzquote ändert, werden die Rechtsvertreterinnen und -vertreter weiterhin gezwungen sein, das verfassungsrechtlich garantierte Beschleunigungsgebot von Art. 29 BV gerichtlich durchzusetzen.