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Rückführungen nach Kroatien erfordern Überprüfung des Einzelfalls

16.02.2022

Rückführungen von Asylsuchenden nach Kroatien sind gemäss dem Bundesverwaltungsgericht nicht ohne weiteres möglich – unter anderem, weil es an der kroatischen Grenze zu sogenannten «Pushbacks» kommt. Das Staatssekretariat für Migration hat im Einzelfall umfassend zu überprüfen, ob ein Risiko für Menschenrechtsverletzungen besteht.

Das Bundesverwaltungsgericht (BVGer) hält in einem Urteil vom 6. Januar 2022 fest, dass ein afghanischer Asylsuchender nicht von der Schweiz nach Kroatien rückgeführt werden darf. Gemäss dem Gericht ist nicht eindeutig, dass Kroatien gemäss Dublin III-Verordnung für das Asylgesuch zuständig ist. Ausserdem könne nicht ausgeschlossen werden, dass der Mann in Kroatien Gewalt ausgesetzt wäre, was aus seinen glaubhaften Schilderungen zu erlebter Misshandlung, Folter und Gefangenschaft hervorgehe. Zudem seien die «Pushbacks» – von der kroatischen Polizei praktizierte gewaltsame Rückschiebungen – nicht ausreichend geklärt. Aus diesen Gründen darf sich das Staatssekretariat für Migration nicht darauf verlassen, dass Kroatien für Asylsuchende ein sicheres Aufnahmeland ist und muss Einzelfälle genauer überprüfen, bevor es eine Rückführung anordnet.

SEM widersetzt sich Bundesverwaltungsgericht

Im Februar 2017 hat der Beschwerdeführer in Griechenland erfolglos ein Asylgesuch gestellt. Daraufhin reiste er weiter nach Bosnien und versuchte mehrmals über die Grenze nach Kroatien einzureisen. Er wurde von der kroatischen Polizei jedoch mit Gewalt an der Einreise gehindert und nach Bosnien zurückgetrieben. Im Mai 2021 stellte er ein Asylgesuch in der Schweiz, welches ebenfalls abgelehnt wurde. Das Staatssekretariat für Migration hat daraufhin im Oktober 2021 entschieden, den Geflüchteten nach Kroatien rückzuführen. Der Betroffene erhob dagegen eine Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht.

Entgegen der Tatsache, dass das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde guthiess und den Entscheid der Migrationsbehörde aufhob, entschied sich das Staatssekretariat für Migration im Dezember 2021 erneut für eine Wegweisung nach Kroatien. Wieder vor dem Bundesverwaltungsgericht machte der Beschwerdeführer nun geltend, dass das Staatssekretariat für Migration weder den Zeitpunkt seiner Einreise nach Kroatien noch die «Pushbacks» an der kroatischen Grenze abgeklärt habe. Zudem hätten die Behörden seinen gesundheitlichen Zustand und seine Aussagen zu den Misshandlungen durch die kroatische Polizei nicht berücksichtigt.

Zuständigkeit ungenügend abgeklärt

Das Bundesverwaltungsgericht kommt zum Schluss, dass die Zuständigkeit Kroatiens für die Behandlung des Asylgesuchs nicht eindeutig ist. Gemäss der Dublin-III-Verordnung ist ein Mitgliedsstaat dann für die Prüfung eines Asylgesuches zuständig, wenn eine asylsuchende Person aus einem Drittstaat seine Grenze illegal überschreitet. Diese Zuständigkeit endet zwölf Monate nach dem Tag, an dem die Grenze überschritten wurde; Rückführungen in den ursprünglich zuständigen Dublin-Mitgliedsstaat – im vorliegenden Fall Kroatien – sind damit nicht mehr möglich (Art. 13 Abs. 1).

Gemäss eigener Aussagen hat der Beschwerdeführer am 5. oder 6. August 2020 das erste Mal versucht, nach Kroatien einzureisen. Das Übernahmegesuch des Staatssekretariats für Migration ist am 27. Juli 2021 erfolgt, also wenige Tage vor Ablauf der einjährigen Frist. Das Bundesverwaltungsgericht schliesst aufgrund der persönlichen Umstände des Beschwerdeführers jedoch nicht aus, dass er sich bei den Daten getäuscht hat. Er ist Analphabet und leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung.

In Anbetracht dieser Umstände erteilt das Gericht dem Staatssekretariat für Migration den Auftrag, ausreichend abzuklären, inwiefern der Geflüchtete die kroatische Grenze innerhalb dieser einjährigen Frist überschritten hat und ob Kroatien somit noch oder nicht mehr zuständig ist für die Behandlung seines Asylgesuches.

«Pushbacks» und Gewalt im kroatischen Asylsystem  

Das Bundesverwaltungsgericht hält weiter fest, dass das Staatssekretariat für Migration nicht genügend abgeklärt hat, ob die kroatische Polizei an der Grenze «Pushbacks» praktiziert. Der Beschwerdeführer habe glaubwürdig dargelegt, dass er von der Polizei geschlagen, gefoltert und gefangen gehalten worden sei. Zudem bestünden zahlreiche Berichte, welche den erschwerten Zugang zum Asylverfahren in Kroatien – insbesondere aufgrund staatlicher Wegweisungen – anprangern. Dabei werden Asylsuchende teilweise unter Gewaltanwendung nach Bosnien zurückgeschoben, ohne dass sie ihren Asylantrag stellen können oder ihre Asylgründe geprüft würden.

Das Staatssekretariat für Migration könne sich aus diesen Gründen nicht auf die allgemeinen Berichte der kroatischen Behörden – wonach kein systemisches Versagen im kroatischen Asyl- und Aufnahmeverfahren bestehe – stützen. Das Bundesverwaltungsgericht auferlegt der Migrationsbehörde, weitere Abklärungen zu allfälligen «Pushbacks» zu treffen.

Abklärungen im Einzelfall

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) veröffentlichte am 21. Dezember 2021 einen Bericht zur Überstellung psychisch kranker Menschen nach Kroatien und forderte, dass die Schweiz bei «Pushbacks» genauer hinschaut. Ausserdem führte sie aus, dass auf die Rückführung von Personen mit psychischen Erkrankungen nach Kroatien verzichtet werden müsse, da sie dort nicht die notwendigen Behandlungen erhielten.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und der Europäische Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) haben die «Pushbacks» durch die kroatischen Behörden in Urteilen und Berichten bestätigt. Auch das Bundesverwaltungsgericht hat bereits in früheren Urteilen «Pushbacks» in seine Erwägungen miteinbezogen und die Praxis des Staatssekretariats für Migration kritisiert (vgl. Urteile E-3078/2019 vom 12. Juli 2019 E. 5.7 und E-4211/2019 vom 9. Dezember 2019 E. 3.3 und 3.4).

Das Bundesverwaltungsgericht bestätigt, dass bei Rückführungen – auch in Dublin-Staaten – Pauschalbegründungen nicht angebracht, sondern stets Abklärungen im Einzelfall notwendig sind. Auch in als «sicher» geltenden Staaten sind Asylsuchende einem hohen Risiko an Gewalt und anderen Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Stützt sich das Staatssekretariat für Migration auf allgemeine Behördenberichte, ist dies zur Wahrung der Menschenrechte unzulänglich.

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