01.11.2022
Im Asylverfahren spielt die Herkunft von schutzsuchenden Personen naturgemäss eine erhebliche Rolle. Weil die Betroffenen ihre Heimat oft überstürzt verlassen müssen und eine gefährliche Reise hinter sich haben, können sie jedoch häufig keine Identitätsdokumente vorweisen. Um die Herkunft dennoch verlässlich abklären zu können, wurde im Staatssekretariat für Migration im Jahr 1997 die Fachstelle LINGUA gegründet. An ihren Herkunftsanalysen entzündete sich in der Vergangenheit immer wieder scharfe Kritik.
Die Fachstelle LINGUA des Staatssekretariats für Migration SEM führt Sprach- und Wissensanalysen durch, wenn asylsuchende Personen oder Personen ohne Schweizer Staatsbürgerschaft keine gültigen Identitätsdokumente vorweisen können und Zweifel bezüglich ihrer Herkunftsregion besteht. Dies betrifft insbesondere Menschen, welche aus Eritrea, Tibet oder Syrien in die Schweiz geflüchtet sind. Dass die Existenz dieser Fachstelle nur wenig bekannt ist, scheint kein Zufall. Die Namen der mittlerweile über 100 externen Expert*innen, welche die Herkunftsabklärungen unterstützen, sind nicht öffentlich. Auch die Analysen werden normalerweise nicht offengelegt, weil gemäss dem Staatssekretariat für Migration SEM andernfalls die Gefahr eines «Lerneffekts» bestehe. Zu Wahrung des öffentlichen Interesses erhalten die asylsuchenden Personen deshalb von dem über sie verfassten Gutachten lediglich eine Zusammenfassung.
Die Arbeit der Fachstelle löste in den vergangenen Jahren immer wieder Kontroversen aus. So jüngst im Herbst 2020, als einer asylsuchenden Person aus Tibet von den Behörden versehentlich sämtliche LINGUA-Akten herausgegeben wurden. Infolge des Versehens erlangten mehrere Tibet-Expert*innen Einsicht in die Analyse des*der LINGUA-Expert*in «AS19». Sie kamen zur Erkenntnis, dass im Gutachten wissenschaftlichen Standards nicht eingehalten worden sind und der Bericht ausserdem «chinafreundlich» ausgefallen sei – ein gravierender Vorwurf, geben LINGUA-Expertisen doch in zahlreichen Fällen den entscheidenden Ausschlag darüber, ob die geltend gemachte Herkunft anerkannt und letztendlich Asyl gewährt wird. Mit menschenrechtlichen Konsequenzen: Fällt ein Gutachten für die asylsuchende Person (fälschlicherweise) negativ aus und wird gestützt darauf die Flüchtlingseigenschaft verneint, erfolgt möglicherweise die Wegweisung in einen Staat, in welchem Folter oder unmenschliche Behandlung drohen.
Eine einflussreiche aber umstrittene Fachstelle
Die Fachstelle LINGUA wurde im Jahr 1997 ins Leben gerufen, um bei Zweifeln an der Herkunft einer asylsuchenden Person eine verlässliche und unabhängige Einschätzung einholen zu können. Zwar sind diese Analysen nicht geeignet, um die Nationalität einer Person zu bestimmen. Nach Meinung des SEM und des Bundesverwaltungsgerichtes soll damit allerdings die Region eruiert werden können, in welcher eine Person hauptsächlich sozialisiert wurde.
Aktuell werden LINGUA-Analysen vor allem bei Personen angeordnet, die im Asylverfahren angeben, in Tibet aufgewachsen zu sein. Oft stellt das Staatssekretariat für Migration hierbei die Vermutung auf, dass die Personen in einer Exilgemeinschaft in Indien oder Nepal aufgewachsen sein können. Mittels linguistischer Analyse erhofft es sich hierzu Klarheit zu schaffen. Von den LINGUA-Analysen betroffen sind ebenso Schutzsuchende aus Irak, Pakistan, Myanmar (Rohingya), Syrien, Libyen, Kongo oder Mali. Mittlerweile decken die Expert*innen von LINGUA ungefähr siebzig Sprachen ab.
Schon kurz nach der Gründung der Fachstelle kamen kritische Stimmen auf, welche die Verlässlichkeit der LINGUA-Analysen in Frage stellten. So wurde die «Lingua-Methode» etwa bereits im Jahr 1999 im Rahmen einer einfachen Anfrage im Nationalrat problematisiert. Der Bundesrat sah jedoch keinen Anlass, die Zusammenarbeit mit der Fachstelle einzustellen: LINGUA habe international Anerkennung gefunden und nehme in diesem spezifischen Bereich eine führende Stellung ein. Ihre Expert*innen dürften in den vergangenen gut 20 Jahren in mehreren tausend Verfahren zum Einsatz gekommen sein. Gemäss Bundesrat ist mit den Herkunftsgutachten eine «seriöse Untersuchungsmethode» entwickelt worden.
Das LINGUA-Verfahren: Von Zweifeln an der Herkunft …
Ein LINGUA-Verfahren wird durch das Staatssekretariat für Migration eröffnet. Ordnet die Behörde bei der Fachstelle LINGUA eine Herkunftsanalyse an, wird die geflüchtete Person zu einem üblicherweise rund einstündigen telefonischen Gespräch mit einem*einer Expert*in eingeladen. Die sachverständige Person muss neben einer akademischen sprachwissenschaftlichen Ausbildung auch die Sprache der zu begutachtenden Person beherrschen und über sehr gute Kenntnisse zur jeweiligen Herkunftsregion und Kultur verfügen. Das Telefoninterview wird aufgezeichnet.
Während des Gesprächs werden der asylsuchenden Person verschiedene Fragen zu ihrem Asylverfahren, insbesondere aber zu ihrer Herkunftsregion gestellt. Sie muss etwa ihr Dorf geographisch verorten, markante Geländeerhebungen nennen, ortspezifische Speisen aufzählen, sich zum Schulsystem äussern oder bedeutende Persönlichkeiten der Umgebung kennen. So sollen die landeskundlichen Kenntnisse überprüft werden, die nach Ansicht der*des Sachverständigen eine Person aus der besagten Gegend besitzen sollte.
Die im Gespräch verwendete Sprache wird schliesslich einer linguistischen Beurteilung unterzogen. So soll eruiert werden, ob die befragte Person tatsächlich in der von ihr behaupteten Region geboren und aufgewachsen ist. Analysiert werden insbesondere der Wortschatz, die Satzstruktur sowie die Aussprache.
… über die Einschätzung der LINGUA-Expert*innen …
Die sachverständige Person verfasst in einem nächsten Schritt einen Bericht: Dieser besteht aus einem landeskundlich-kulturellen Teil, in welchem sie das Wissen über die Herkunftsregion einordnet, und dem linguistischen Teil, in welchem sie die Sprache beziehungsweise den Dialekt untersucht. Die Analyse übermittelt sie daraufhin dem Staatssekretariat für Migration. Im Bericht enthalten ist ebenso eine Einschätzung, ob die asylsuchende Person aus der fraglichen Region stammt und dort sozialisiert wurde oder nicht. Ist eine verlässliche Äusserung hierzu nicht möglich, werden verschiedene Wahrscheinlichkeitsgrade angegeben.
Resümiert der*die Expert*in, dass die asylsuchende Person nicht aus der von ihr geltend gemachten Region stammt, teil das SEM – wenn es dem Fazit folgen will – dies der betroffenen Person mit und gibt ihr die Möglichkeit, sich hierzu zu äussern. Dabei wird ihr eine Zusammenfassung des Gutachtens mit den nach Ansicht der Behörde wesentlichen Aspekten offengelegt. Die begutachtete Person kann sich das gesamte Gespräch noch einmal anhören, dazu muss sie allerdings beim Hauptsitz des SEM erscheinen und erhält lediglich rund zwei Stunden Zeit.
… zum (negativen) Asylentscheid und seinen Folgen
Fällt die Analyse zuungunsten der asylsuchenden Person aus und folg das SEM dieser Einschätzung, so wird die Flüchtlingseigenschaft verneint und das Asyl verweigert. Denn obwohl das Staatssekretariat für Migration unermüdlich darauf hinweist, dass ein LINGUA-Bericht nur eines unter mehreren Beweismitteln darstellt, misst es diesen Analysen ein sehr hohes Gewicht bei. Zwar hat die Rechtsprechung seit langem und mehrfach festgehalten, dass es sich hierbei lediglich um Auskünfte und nicht um eigentliche Sachverständigengutachten im Sinne des Bundesgesetzes über das Verwaltungsverfahren handelt (vgl. BVGe 2014/12 E. 4.2.1). Diesen Auskünften kann jedoch, sofern gewisse Mindeststandards in Bezug auf fachliche Qualifikation und Objektivität gegeben sind und der Bericht inhaltlich schlüssig erscheint, ein erhöhter Beweiswert zukommen.
Ein ungünstiger LINGUA-Bericht hat neben der Asylverweigerung regelmässig weitere Konsequenzen. Bei Ablehnung eines Asylgesuches muss das SEM in einem nächsten Schritt prüfen, ob die Wegweisung der betroffenen Person in ihren Herkunftsstaat zulässig, zumutbar und möglich ist. Da im LINGUA-Bericht deren Angaben aber als nicht glaubhaft beurteilt wurden, wird ihr eine Verletzung ihrer Mitwirkungspflicht im Asylverfahren vorgeworfen. Aufgrund ihrer unklaren Herkunft, argumentiert das SEM zudem, könne die Prüfung ihres Wegweisungsvollzuges gar nicht vorgenommen werden. Dies, obwohl die zugrundeliegenden Kriterien – Zulässigkeit, Zumutbarkeit, Möglichkeit – auch ausschlaggebend dafür sind, ob eine vorläufige Aufnahme angeordnet werden muss.
Für tibetische Schutzsuchende bedeutet dies konkret, dass die Schweizer Behörden ihnen ihre Herkunft aus der Region Tibet aufgrund einer LINGUA-Analyse nicht glauben, anhand der Untersuchung aber gleichzeitig nicht mit Sicherheit nachweisen können, ob sie hauptsächlich in Nepal oder Indien sozialisiert worden sind. Auf die Prüfung des Wegweisungsvollzuges wird deshalb verzichtet. Weil die asylsuchende Person im Verfahren keine Gründe geltend gemacht hat, die gegen eine Wegweisung nach Indien oder Nepal sprechen, wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass eine Rückkehr zumutbar, zulässig und möglich ist. Die Folge dieser Praxis ist, dass betroffene tibetische Schutzsuchende keine Aufenthaltsbewilligung erhalten, aber auch nicht zwangsweise rückgeführt werden können. Oft bleiben sie nach dem negativen Asylentscheid deshalb als Sans-Papiers in der Schweiz und leben unter prekären Bedingungen.
Schliesslich kann ein ungünstiger LINGUA-Bericht für die Begutachteten auch Spätfolgen haben, etwa wenn sie eine Person mit anerkannter Flüchtlingseigenschaft heiraten. In diesem Fall besteht zwar grundsätzlich die Möglichkeit, dass sie in die Flüchtlingseigenschaft miteinbezogen werden und erneut Asyl beantragen können (sog. Familienasyl, Art. 51 Abs. 1 AsylG). Voraussetzung dafür ist jedoch, dass keine «besonderen Umstände» gegen den Einbezug sprechen. Ein besonderer Umstand liegt unter anderem dann vor, wenn Betroffene nach der Heirat auch in einem anderen Staat als der Schweiz leben können. Weil nun aber die Herkunft im Asylverfahren nicht abschliessend festgestellt werden konnte, könnte das SEM – mit Hinweis auf die Mitwirkungspflichtverletzung im Asylverfahren – festhalten, dass eine Prüfung besonderer Umstände nicht möglich sei und den Einbezug deshalb verweigern.
Ein Versehen mit weitreichenden Folgen
Die weitreichenden Konsequenzen von LINGUA-Analysen setzen voraus, dass Gutachten von hoher Qualität und von qualifizierten und unvoreingenommenen Fachpersonen erstellt werden. Ist die Kritik verschiedener Tibet-Expert*innen rund um die versehentliche Herausgabe einer LINGUA-Analyse hingegen berechtigt, liegen gravierende Verletzungen essenzieller Grund- und Menschenrechte vor.
Die Bundesverfassung (Art. 29 BV) sowie die Europäische Menschenrechtskonvention (Art. 6 EMRK) garantieren zunächst das Recht auf ein faires Verfahren, welches eine «gerechte» Behandlung, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit verlangt. Gerade im Rahmen von LINGUA-Verfahren, wo weder der Bericht selbst noch die berichterstattende Person offengelegt werden, ist von enormer Bedeutung, dass fachliche Qualifikation und Unvoreingenommenheit gewährleistet sind. Weil die Asylsuchenden lediglich ein Informationsblatt mit rudimentären Auskünften zu Werdegang und Ausbildung der Expert*innen erhalten, ist eine Überprüfung dieser Aspekte aber besonders schwierig, gar unmöglich. Den Betroffenen bleibt wenig anderes übrig, als dem SEM voll und ganz zu vertrauen.
Ein Verfahren das nicht unabhängig, sorgfältig und transparent aufgebaut ist, birgt zudem die konkrete Gefahr, dass die Herkunft asylsuchender Personen fälschlicherweise als nicht glaubhaft qualifiziert wird und sie deshalb in Länder weggewiesen werden, in welchen sie von Menschenrechtsverletzungen bedroht sind. Durch die daraus entstehende Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit würde die Schweiz gegen das Verbot von Folter und unmenschlicher Behandlung (Art. 10 Abs. 3 BV und Art. 3 EMRK) verstossen.
Schliesslich hat die versehentliche Herausgabe einer LINGUA-Analyse verdeutlicht, dass eine unabhängige Überprüfung der Fachstelle unbedingt angezeigt wäre. Die interne Kontrolle, welche offenbar durch die Fachstelle selbst durchgeführt wird, genügt hierzu offensichtlich nicht.
Baldige richterliche Klärung
Es ist zu erwarten, dass in absehbarer Zeit ein klärendes Urteil zu den LINGUA-Analysen ergehen wird. In einem Entscheid von Oktober 2021 hat das Bundesverwaltungsgericht festgehalten, dass auf das Wiedererwägungsgesuch einer abgewiesenen Asylsuchenden aus Tibet einzutreten sei. Diese hatte vorgebracht, dass aufgrund der neuen Erkenntnisse zu «AS19» – der*die Autor*in des versehentlich veröffentlichten Gutachtens – ihr Asylgesuch nochmals geprüft werden müsse. Im Gegensatz zum Staatssekretariat für Migration erachtete das Bundesverwaltungsgericht die Kritik an «AS19» nicht von vornherein als haltlos und wies die Angelegenheit zur weiteren Prüfung an die Migrationsbehörde zurück. Falls die Kritik an «AS19» beziehungsweise der Fachstelle LINGUA in einem Urteil als gerechtfertigt erachtet würde, müssten zahlreiche Verfahren nochmals aufgerollt werden.