humanrights.ch Logo Icon

Bundesgericht anerkennt Anspruch auf Aufenthaltsbewilligung gemäss Art. 8 EMRK

05.11.2024

Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gegen die Nichterteilung einer Aufenthaltsbewilligung an ein vorläufig aufgenommenes syrisches Schulmädchen gut. Anders als im vorangegangenen Urteil bejaht das Bundesgericht in diesem Fall die Benachteiligung aufgrund des Status der vorläufigen Aufnahme und die damit einhergehende Beeinträchtigung des Rechts auf Privatleben.

In seinem Urteil vom 23. Juli 2024 heisst das Bundesgericht die Beschwerde eines syrisches Schulmädchens gut, das die Nichterteilung der Aufenthaltsbewilligung rügt. Konkret beruft sie sich unter dem Gesichtspunkt des Rechts auf Achtung des Privatlebens auf einen Anspruch auf eine Aufenthaltsbewilligung aus Art. 8 EMRK. Diese Beschwerde heisst das Bundesgericht gut und weist die Sache an die Freiburger Behörde zurück, um der 15-Jährigen die Aufenthaltsbewilligung zu erteilen.

Im vorliegenden Fall geht es um ein damals 5-jähriges Mädchen, das im April 2014 mit ihren Eltern und ihren Geschwistern in die Schweiz kam. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) hat also bereits vor fast zehn Jahren das Asylgesuch der gesamten Familie abgewiesen und ihr die vorläufige Aufnahme gewährt. Das Amt für Bevölkerung und Migration des Kantons Freiburg wies 2021 das erneute Gesuch des 15-jährigen Schuldmädchens um eine Aufenthaltsbewilligung wiederum ab. Dieser Entscheid wurde vom Kantonsgericht mit der Begründung bestätigt, dass keine Verletzung von Art. 8 EMRK vorliege. Das Bundesgericht ist jedoch anderer Ansicht. Konkret musste das Bundesgericht sich mit der Frage befassen, ob das Kantonsgericht die Garantien nach Art. 8 EMRK korrekt angewendet und das Kindeswohl nach Art. 3 KRK in seiner Argumentation berücksichtigt hat.

Die bisherige Rechtsprechung des EGMR und des Bundesgerichts

Grundsätzlich gibt es in der EMRK und nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR kein garantiertes Recht einer ausländischen Person, in ein bestimmtes Land einzureisen oder sich dort aufzuhalten. Die jeweiligen Vertragsstaaten haben das Recht, die Einreise, den Aufenthalt oder die Abweisung zu kontrollieren. Jedoch können behördliche Massnahmen, die das Aufenthaltsrecht einer Person in einem Land einschränken, in bestimmten Fällen zu einer Verletzung von Art. 8 EMRK führen. Dies insbesondere dann, wenn sich die Massnahme unverhältnismässig auf das Privat- oder Familienleben der betroffenen Person auswirkt.

Auch das Bundesgericht hält in seiner Rechtsprechung fest, dass der Status der vorläufigen Aufnahme in bestimmten Situationen das Recht auf Achtung des Privatlebens beeinträchtigen kann. Um festzustellen, ob ein konkreter Eingriff in das Privatleben vorliegt, vergleicht das Bundesgericht den Status der vorläufigen Aufnahme mit dem Status der Aufenthaltsbewilligung. Im Urteil vom 7. Februar 2024 stellte das Bundesgericht fest, dass die vorläufige Aufnahme für junge ausländische Personen, die seit mehreren Jahren in der Schweiz leben, Nachteile bei der schrittweisen Integration mit sich bringen kann. Dies insbesondere, weil die Einbürgerung nur von Inhaber*innen einer Niederlassungsbewilligung beantragt werden kann. Auch hielt es fest, dass die vorläufige Aufnahme Reisen ins Ausland einschränkt und den Zugang zu einer Lehrstelle im Vergleich zu einer Person mit einer Aufenthaltsbewilligung erschweren kann. Jedoch kam das Bundesgericht im genannten Urteil zum Schluss, dass in Anbetracht des Alters der Kinder (10 und 12 Jahre) und unter Berücksichtigung aller Umstände, die Nachteile aus der vorläufigen Aufnahme noch nicht intensiv genug waren, um einen Eingriff in das Privatleben zu rechtfertigen.

Konkrete Nachteile sind zu erwarten

Nach Art. 84 Abs. 5 AIG sind Gesuche um Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung von vorläufig aufgenommenen Personen, die sich seit mehr als fünf Jahren in der Schweiz aufhalten, vertieft zu prüfen. Zu berücksichtigen sind dabei die Integration, die familiären Verhältnisse und die Zumutbarkeit einer Rückkehr in den Herkunftsstaat. Im hier diskutierten Fall wurde der Familie am 27. Februar 2015 die vorläufige Aufnahme erteilt. Somit übersteigt die Aufenthaltsdauer bei weitem die vorgesehenen fünf Jahre. Das Bundesgericht ist der Ansicht, dass die junge Syrerin aufgrund ihres Alters stärker unter den Nachteilen aus dem Status der vorläufigen Aufnahme leide als jüngere Kinder. Je näher die betroffene Person der Volljährigkeit komme, desto grösser sei ihr Interesse, ihr Aufenthaltsrecht in der Schweiz zu bekräftigen und eine Einbürgerung in Betracht zu ziehen. Damit würde ihr insbesondere die Teilnahme am staatsbürgerlichen Leben des Landes, in dem sie aufgewachsen ist, ermöglicht werden. Auch die mit der internationalen Mobilität verbundenen Einschränkungen könne in der Situation der 15-Jährigen als eine erhebliche Beeinträchtigung des Rechts auf Achtung des Privatlebens betrachtet werden. Denn die Betroffene sei in einem Alter, indem sie grundsätzlich alleine reisen und im Rahmen von Schulausflügen oder zu Ausbildungszwecken sich ins Ausland begeben könne. Besonders betont das Bundesgericht, dass die 15-jährige Syrerin bald das Ende der obligatorischen Schulzeit erreicht. Deshalb könne die vorläufige Aufnahme ein Hindernis bei der Lehrstellensuche oder im Zugang zum Studium darstellen.

Abwägung zwischen öffentlichen und privaten Interessen

Nach Art. 84 Abs. 5 AIG muss die Integration und die Zumutbarkeit einer Ausreise aus der Schweiz in das Herkunftsland geprüft werden. Das öffentliche Interesse an der vorläufigen Aufnahme besteht darin, dass diese Massnahme grundsätzlich für eine begrenzte Zeit anstelle der Wegweisung tritt, wenn diese sich nicht vollstrecken lässt. Im konkreten Fall argumentiert das Bundesgericht, dass Status der vorläufigen Aufnahme bei der jungen Syrerin nicht in absehbarer Zeit aufgehoben und die Ausschaffung nach Syrien angeordnet werden könne. Es sei offensichtlich, dass sie ihre Ausbildung und ihren Werdegang ohnehin in der Schweiz fortsetzen werde.

Um auf Grundlage von Art. 8 EMRK eine Aufenthaltsbewilligung beanspruchen zu können, muss eine gewisse Integrationsleistung erbracht werden. Im vorliegenden Fall verfügt die 15-jährige Syrerin über ausgezeichnete Französischkenntnisse, ist sehr gut integriert und erbringt unter den gegebenen Umständen hervorragende schulische Leistungen. Gemäss Bundesgericht habe sie alle Anstrengungen unternommen, die angesichts ihres Alters und ihrer Situation von ihr erwartet werden könne, um sich in der Schweiz zu integrieren.

Unter Berücksichtigung aller Umstände überwiege das private Interesse der jungen Syrerin an der Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung gegenüber des öffentlichen Interessens an der Aufrechterhaltung der vorläufigen Aufnahme. Das Bundesgericht kommt entsprechend zum Schluss, dass die kantonalen Behörden zu Unrecht die Erteilung der Aufenthaltsbewilligung verweigert hätten und heisst die Beschwerde der 15-Jährigen gut. Das Urteil des Kantonsgericht wurde in diesem Sinne aufgehoben und die kantonalen Behörden sind angewiesen, dem syrischen Mädchen die Aufenthaltsbewilligung zu erteilen.

Zusätzliche Information