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Ziviler Ungehorsam — eine Frage der Menschenrechte

06.08.2024

Besetzungen, Blockaden oder Solidaritätsdelikte nehmen in der Schweiz zu. Dabei handelt es sich oft um Aktionen des «zivilen Ungehorsams». Wenn solche Vorgänge mit einer Straftat einhergehen, werden sie vielfach kritisch wahrgenommen. Die Aktivist*innen machen jedoch auf Menschenrechtsverletzungen aufmerksam oder fordern deren Einhaltung: Sie wollen eine gesunde Umwelt für künftige Generationen oder prangern strukturelle Ungleichheiten an.

Gastkommentar von Clémence Demay, Doktorin der Rechtswissenschaften und Anwaltspraktikantin

Ende März 2024 wandten sich fünf Uno-Sonderberichterstatter*innen in einem Brief an die Schweiz. Im Hinblick auf das Recht auf freie Meinungsäusserung und die Versammlungsfreiheit brachten die UN-Expert*innen ihre Besorgnis darüber zum Ausdruck, wie Schweizer Strafverfolger*innen mit Klima-Aktivist*innen verfahren — sie befürchten gar Menschenrechtsverletzungen.

Die Dynamik des zivilen Ungehorsams zwischen dem Strafrecht und den Menschenrechten wird von den Gerichten hierzulande in ihren Urteilen zu wenig berücksichtigt; so konzentrieren sich die Gerichte meist auf die von den Aktivist*innen begangenen Straftaten. Die Rechtsprechung am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sowie die zahlreichen Prozesse zum zivilen Ungehorsam, die in den letzten Jahren geführt wurden, ermöglichen es jedoch, die Linien zu verschieben, zivilen Ungehorsam als Beitrag zur Demokratie zu sehen und den Schutz der Rechte von Minderheiten zu wahren.

Ein neues Zeitalter des zivilen Ungehorsams in der Schweiz

Seit 2020 nehmen Aktionen von Umweltbewegungen zu: Es sind dies zum Beispiel die Blockaden von «Extinction Rébellion» im Kanton Waadt, der Kampf für den Erhalt des Rümlanger Waldes im Kanton Zürich oder auch die Kritik an der Massentierhaltung mittels Besetzung von Schlachthöfen. Diese Aktionen haben dazu beigetragen, den Begriff des zivilen Ungehorsams in der Öffentlichkeit bekannt zu machen.

Handlungen, die in den Bereich des Gesetzesbruchs fallen, haben in der Tat zu zahlreichen spektakulären Aktionen geführt und in der Presse für viel Aufsehen gesorgt. Einige Kantons- und Gemeindeparlamente, aber auch Justizbehörden mussten sich damit befassen. Ein Blick auf die Geschichte der Menschenrechte und auf die politische Philosophie zeigt, dass es sich hierbei um zivilen Ungehorsam handelt.

Studien zu dieser Aktionsform zeigen auf, dass der Einsatz von zivilem Ungehorsam stark mit dem politischen Kontext der jeweiligen Epoche einhergeht. Die politische Ausgangslage, das Bestehen von Ungleichheiten, die Härte, mit der politische Behörden und Eliten auf zivilen Ungehorsam reagieren oder der Ausschluss bestimmter Gruppen (Frauen, rassifizierte Personen, Nicht-Menschen (Elemente der Natur mit juristischem Status), zukünftige Generationen...) aus der demokratischen Debatte sind Faktoren, die der Einsatz dieses Aktionsmittels für eine soziale Bewegung attraktiv werden lassen.

Im Übrigen zeigt uns ein Blick in die Schweizer Geschichte, dass illegale Aktionen im Namen des Kampfes für die Ausweitung von Rechten oder der Emanzipation von Minderheiten nichts Neues ist. Man denke dabei an die Aktionen der Anti-Atomkraft-Bewegung in den 1970er Jahren, die zahlreichen Aufrufe zum Solidaritätsdelikt, also zur Aufnahme von Menschen ohne Papiere, an Aktionen von Pazifist*innen oder an den Prozess der «Gymnasiastinnen von Biel»; letztere boykottierten in den 1980er Jahren den Hauswirtschaftsunterricht mit der Forderung für eine geschlechtsneutrale Schule. Die Bourla-Papey-Bewegung, in der Waadtländer Bäuer*innen Anfang des 19. Jahrhunderts friedlich für den Zugang zu Land kämpften — oder auch der legendäre Wilhelm Tell werden von Aktivist*innen als Pionierfiguren des zivilen Ungehorsams gesehen.

Bewegungen dieser Art hat es also schon immer gegeben. Neu ist jedoch, dass solche Aktivitäten als «ziviler Ungehorsam» bezeichnet werden, denn dieser Begriff ist erst in jüngerer Zeit bekannt geworden.

Was ist «Ziviler Ungehorsam»?

Die Frage, welche Aktionen unter den Begriff des zivilen Ungehorsams fallen, wird häufig debattiert. Dabei handelt es sich um Fragen wie: Gibt es Ähnlichkeiten zwischen der Verweigerung des Militärdienstes aus Gewissensgründen, der Forderung nach Hausunterricht für die eigenen Kinder oder der Besetzung einer Raffinerie? Welche Verbindungen bestehen zwischen den genannten Beispielen?

Der Begriff des zivilen Ungehorsams bietet keine einheitliche oder einvernehmliche Definition. Seine Umrisse wurden hauptsächlich von angelsächsischen politischen Philosophinnen und Aktivisten in den 1960er und 1970er Jahren skizziert. Es ist daher überholt, in jener Zeit von zivilem Ungehorsam zu sprechen. Das Ziel der damaligen Theoretiker*innen bestand darin, den Aspekt der Kontinuität zu betonen. Denn es gab friedliche Kampfbewegungen, die zu rechtlichen und sozialen Fortschritten führten: z. B. das Frauenstimmrecht, das Recht auf Abtreibung, die Einführung der Sozialversicherung, die demokratische Kontrolle über Raumplanungsprojekte oder die Betreuung von HIV-Infizierten und die Bestätigung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung.

Der Wunsch der Denker*innen des zivilen Ungehorsams nach der Schaffung einer eigenen Kategorie, wird so begründet: in einem Rechtsstaat sollte der Kritik, eine Handlung sei unzulässig, der Wind aus den Segeln genommen werden. So wollten die Philosoph*innen des zivilen Ungehorsams — Hannah Arendt, John Rawls, Jürgen Habermas, Martin Luther King oder Gandhi — mit der Schaffung dieses Etiketts solche Proteste von Vandalismus unterscheiden. Vandalismus wird oft aus egoistischen und nicht erklärten Gründen begangen. Auch sollte der zivile Ungehorsam von der Verweigerung aus Gewissensgründen, die individuelle Überzeugungen in den Vordergrund stellt und nicht unbedingt öffentliche oder politische Konsequenzen hat, getrennt werden. Die genannten Philosoph*innen unterscheiden den zivilen Ungehorsam auch von der Tradition des Widerstandsrechts — gewalttätig oder nicht —; diese Tradition umfasst Handlungen, die darauf abzielen, eine als tyrannisch oder undemokratisch empfundene Regierung zu stürzen, um ein neues Regime zu errichten (z. B. Art. 20 des deutschen Grundgesetzes).

Der liberale Philosoph John Rawls definierte zivilen Ungehorsam als «eine öffentliche, gewaltlose, nach bestem Wissen und Gewissen beschlossene, aber politische Handlung, die gegen das Gesetz verstösst; sie wird meist mit dem Ziel unternommen, eine Änderung des Gesetzes oder der Politik einer Regierung herbeizuführen» (Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, Abs. 55). Die Philosophin Hannah Arendt sieht den zivilen Ungehorsam als eine Form des freiwilligen Zusammenschlusses, der mit der für die Demokratie wichtigen Versammlungsfreiheit verbunden ist.

Diese Definitionen wurden in internationalen Menschenrechtstexten aufgegriffen. So ist die Venedig-Kommission der Ansicht, dass «es Momente gibt, in denen die Art und Weise, wie eine Versammlung durchgeführt wird, absichtlich (…) gegen das Gesetz verstösst, damit die Organisatoren und/oder Teilnehmer glauben, das Gesetz verstärke oder unterstütze sie sogar bei der Kommunikation ihrer Botschaft. Dies wird gemeinhin als «ziviler Ungehorsam» bezeichnet» (Leitlinien, Bst. F, Abs. 11). UN-Sonderberichterstatter für Umweltschutz, Michel Forst, nennt zivilen Ungehorsam «Handlungen, die einen vorsätzlichen Verstoss gegen das Gesetz darstellen und eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse betreffen, die öffentlich und gewaltfrei durchgeführt werden».

Unterstützt der zivile Ungehorsam die Demokratie?

Nachdem der Begriff des zivilen Ungehorsams geklärt ist, stellt sich die Frage, ob seine Anwendung in einem demokratischen Staat gerechtfertigt ist. Kritiker dieses Mittels führen in der Regel eine Reihe von Argumenten dagegen an (Cervera-Marzal, 2013, S. 53 ff.), die sich wie folgt zusammenfassen lassen: Ziviler Ungehorsam könne zu Chaos führen, da alle Gesetze in Frage gestellt werden; oder es handle sich um einen Kraftakt einer Minderheit, die eine schweigende Mehrheit in Geiselhaft nimmt; und schließlich die Vorstellung, dass Gesetz sei eben Gesetz.

All diese Argumente können durch die Lektüre der politischen Theorien des zivilen Ungehorsams widerlegt werden. Man kann nämlich festhalten, dass ziviler Ungehorsam eine demokratische Praxis darstellt, die in einem Rechtsstaat durchaus ihren Platz hat.

Ein Zeichen der Treue zur Demokratie

So ist für den Philosophen John Rawls der zivile Ungehorsam eine Handlung, mit der bestimmte Demokratiedefizite ausgeglichen werden können. Er ist besonders nützlich für die Verteidigung von Gruppen, die einer Minderheit angehören oder deren Handlungsfähigkeit aufgrund struktureller Ungleichheiten eingeschränkt ist (Theorie der Gerechtigkeit, Par. 59 ff.). Aus der Sicht von Rawls ist das Vorgehen der Ungehorsamen also kein Zeichen des Bruchs des Gesellschaftsvertrags, sondern vielmehr ein Zeichen der Treue zur Demokratie; es geht darum, Missstände aufzudecken. Hannah Arendt sieht im zivilen Ungehorsam eine Möglichkeit für Bürgerinnen und Bürger, die politische Agenda zu beeinflussen, von der Notwendigkeit bestimmter Veränderungen zu «überzeugen» oder auch «Probleme sichtbar zu machen» (Von der Lüge zur Gewalt, S. 83.). Mit anderen Worten: Für Arendt fördert und unterstützt der zivile Ungehorsamdie Schaffung eines öffentlichen Forums. Schließlich verteidigt auch Jürgen Habermas den demokratischen Charakter des zivilen Ungehorsams gegen die oben genannte Kritik; er betont, dass das Recht nicht nur aus dem Gesetz besteht und dass der Akt des zivilen Ungehorsams Situationen offenbaren, in denen verschiedene Grundrechte miteinander in Konflikt stehen. Seiner Ansicht nach formulieren die ungehorsamen Aktivist*innen mit ihrer Handlung die Forderung, eine Diskussion über die Auslegung des Rechts, das in einem verfassungsmäßigen Regime garantiert wird, (wieder) zu eröffnen (Recht und Demokratie, S. 410 ff.). Denn durch seine Handlung stellt der Ungehorsame die vorherrschende oder gewöhnliche Interpretation eines Begriffs oder eines Rechts in Frage und versucht, eine neue Bedeutung geltend zu machen.

Aus all diesen Gründen spielt der zivile Ungehorsam eine wichtige Rolle in einer Demokratie, die aktiv die Teilnahme und den Ausdruck politischer Meinungsunterschiede auf friedlichem Wege fördert. In diesem Sinne ist er auch in einigen Menschenrechtsinstrumenten verankert.

Ziviler Ungehorsam: ein Menschenrecht

Wenn man den zivilen Ungehorsam als öffentliche Aktion des friedlichen Protests versteht, wird offenkundig, dass Aktivist*innen, die dieses Mittel einsetzen, von ihrem Grundrecht auf Meinungsäusserung Gebrauch machen, aber auch von der Versammlungsfreiheit und manchmal sogar der Gewissensfreiheit oder der Freiheit der Wissenschaft.

Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte stützt diese Argumentation. Strassburger Richter*innen analysierten Aktionen des zivilen Ungehorsams in mehreren Fällen unter dem Blickwinkel möglicher Verletzungen der Artikel 10 (Meinungsäusserungsfreiheit) und Artikel 11 (Versammlungsfreiheit) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK); (siehe Bumbeș gegen Rumänien; Kotov u. a. gegen Russland; Cissé gegen Frankreich; Bouton gegen Frankreich; Bouton gegen Deutschland; Frankreich; Baldassi gegen Frankreich und Bouton gegen Frankreich). Auch der Sonderberichterstatter für die friedliche Versammlungsfreiheit nutzt in seinen Mitteilungen ausdrücklich den Begriff des zivilen Ungehorsams. In einer Resolution aus dem Jahr 2021 fordert er die Staaten auf, «Kampagnen des zivilen Ungehorsams durch gewaltfreie direkte Aktionen zuzulassen und Raum für ihre Durchführung zu schaffen und sicherzustellen, dass jede Einschränkung solcher Kampagnen den Anforderungen der Rechtmäßigkeit, Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit entspricht [...]».

Mit anderen Worten: Jede Aktion des zivilen Ungehorsams, sofern sie friedlich im Sinne der EMRK ist oder das Ergebnis einer Äusserung darstellt, die nicht auf einen Aufruf zum Hass abzielt, muss als eine geschützte Form der Meinungsäusserung oder Versammlungsfreiheit angesehen werden; sie erfordert daher eine Betrachtung der Situation unter dem Gesichtspunkt, ob Einschränkungen dieser Rechte zulässig sind. Es gibt also kein eigenständiges Recht auf zivilen Ungehorsam, der Begriff aber ist eine Facette, die das Recht auf Versammlungs- oder Meinungsfreiheit annehmen kann. Darüber hinaus sind Aktionen des zivilen Ungehorsams aus menschenrechtlicher Sicht als Appell an die Rechtsentwicklung von zentraler Bedeutung (615 ff.). Sie können auf die Notwendigkeit hinweisen, dass neue Rechte geschaffen werden müssen, da wo es noch keine gibt.

Die vorherrschende Praxis an Schweizer Gerichten, wonach die Anwendung der Grundrechte in Fällen, in denen es um Aktionen des zivilen Ungehorsams geht, einfach unter den Teppich gekehrt werden, kann nicht länger aufrechterhalten werden; heute ist klar, dass diese Aktionen unter die Menschenrechte fallen und dass friedliche Versammlungen in einer Demokratie Schutz verdienen und nicht ungerechtfertigt eingeschränkt werden dürfen. Die Strafrichter*inne müssen in ihren Entscheiden auch die Rechtsprechung des EGMR berücksichtigen. Schließlich bieten Prozesse über zivilen Ungehorsam die Möglichkeit, die Politik auf Bereiche aufmerksam zu machen, in denen eine Erneuerung oder Ausweitung des Rechts notwendig ist.