17.05.2023
In den letzten Jahren wurde in der Schweiz eine Vielzahl von Klimaprozessen vor Gericht verhandelt, in denen die Menschenrechte eine unterschiedliche Rolle einnehmen. Beispielsweise macht der Verein KlimaSeniorinnen vor dem Bundesgericht und dem EGMR eine Verletzung der Menschenrechte ihrer Mitglieder durch Handlungen und Unterlassungen der Schweiz im Zusammenhang mit Massnahmen gegen den Klimawandel geltend und sorgt damit international für Aufsehen. Die häufigere Form bilden jedoch Klimaprozesse, bei denen Klimaaktivist*innen auf der Anklagebank sitzen. Hier geht es oftmals darum, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit, welche vom Staat untergraben werden, zu verteidigen.
Worum geht es? Was passiert genau?
Im Unterschied zur Klage des Vereins KlimaSeniorinnen, die sich gegen den Staat richtet, werden die Klimaaktivist*innen vom Staat strafrechtlich verfolgt und angeklagt. Ihnen werden unter anderem Nötigung, Teilnahme an unbewilligten Kundgebungen, Hausfriedensbruch und diverse strafbare Handlungen gegen die staatliche Gewalt vorgeworfen. Begangen werden diese mutmasslichen Straftaten durch zivilen Ungehorsam, der beispielsweise Strassenblockaden oder Besetzungen von öffentlichen Plätzen beinhaltet. Die Auswertung von rund 150 verfügbaren Gerichtsurteilen zeigt, dass ein signifikanter Teil an friedlichen Aktionen als Vergehen – d.h. mit einem Eintrag in das Strafregister – verfolgt wird, anstatt die Beschuldigten mit Bussen wegen Übertretungen und ohne Eintrag ins Strafregister zu sanktionieren. Dazu kommt, dass sich die meisten Richter*innen in diesen Fällen vor Gericht nicht näher mit der Problematik des Klimawandels auseinandersetzen. Die Klimakrise, die ja Anlass ist für die Proteste, wird als «gerichtsnotorische Tatsache» abgetan, die nicht weiter vor Gericht erörtert werden muss (z. B. durch den Zuzug von Expert*innen). Diese Handhabung der Richter*innen im Umgang mit der Klimakrise ist spätestens seit dem Urteil zur Bankenbesetzung einer Credit Suisse Filiale in Lausanne durch die «Lausanne Action Climat» die gängige Praxis (BG/TF 6B_1295/2020, 26.5.2021).
Wie wirken sich diese Verurteilungen aus menschenrechtlicher Perspektive aus?
Die Kombination aus polizeilichen Massnahmen, staatsanwaltlichen Verfügungen sowie richterlichen Entscheiden und Urteilen, löst bei vielen Klimaaktivist*innen in der Schweiz einen sogenannten «Chilling Effect» aus: Wenn bei einem friedlichen, gewaltfreien Protest Polizeihaft und in vielen Fällen eine Leibesvisitation, erkennungsdienstliche Massnahmen, hohe Bussen und bei strafrechtlicher Verurteilung die Auferlegung der Verfahrenskosten sowie ein Eintrag in das Strafregister droht, wirkt das einschüchternd und abschreckend. Die Hemmschwelle, erneut an einer Demonstration teilzunehmen, dürfte damit bei den meisten Verurteilten höher liegen. Zudem führt eine bedingte oder teilbedingte Strafe für Aktivist*innen zu einer mehrjährigen Bewährungsfrist. Begeht die verurteilte Person während dieser Zeit erneut ein Vergehen, droht gegebenenfalls ein Vollzug der (teil-)bedingten Strafe. Damit soll die weitere Teilnahme an unangemeldeten oder unbewilligten Demonstrationen verhindert werden, was ein Eingriff in die Versammlungs- und Meinungsfreiheit darstellt, wie sie in Artikel 16 bzw. 22 der Bundesverfassung oder Artikel 10 und 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie dem UNO-Pakt II festgelegt sind.
Wieso lassen sich die Aktivist*innen auf diese Prozesse ein, obwohl es doch in den Gerichtsverfahren oftmals um etwas anderes geht als die Klimakrise?
Gerichtsverfahren können dazu beitragen, die Aufmerksamkeit auf die Klimakrise zu lenken und somit für das Anliegen der Aktivist*innen zu sensibilisieren. Bei den aus den Klimaprotesten ergangenen Gerichtsverfahren handelt es sich zusätzlich um einen Kampf um wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, insbesondere wenn Aktivist*innen wegen eines Vergehens mit Bewährungsfrist verurteilt werden, gegen die sie mit einer erneuten Teilnahme an einer Demonstration verstossen würden. Denn die Aktivist*innen gelangen mit ihrer Botschaft nur an die Bevölkerung, wenn sie ihre Meinungen und Forderungen frei und ohne Einschränkungen äussern und sich versammeln können, um für ihre Anliegen einzutreten. So wandten sich denn auch im November 2021 drei UNO-Sonderberichterstatter*innen für Menschenrechte formell an die Schweiz und zeigten sich über die exzessive Gewaltanwendung der Polizei, die vorläufige Festnahme, und die Verhängung von Freiheitsstrafen an Teilnehmende der ZAD de la Colline du Mormont besorgt. Die UNO-Sonderberichterstatter*innen betonten insbesondere im Fall der ZAD-Räumung am 22. März 2021, dass es sich um friedlichen, zivilen Ungehorsam handelte. Eine friedliche Versammlung im Rahmen des zivilen Ungehorsams ist international als Menschenrecht anerkannt und ist unabhängig von der nationalen Rechtsprechung zu schützen. Interventionen von UNO-Sonderberichterstatter*innen tragen ihrerseits dazu bei, das Anliegen in der öffentlichen Aufmerksamkeit zu halten.
Hingegen zeigt gerade der jüngste Bundesgerichtsentscheid zur Bestrafung eines Klimaaktivisten der Aktion Collectif Breakfree (BG/TF 6B_620/2022, 30.3.2023) ein problematischer Umgang der Schweiz mit dieser Art von Protest. Dieses Urteil fordert eine härtere Bestrafung des Aktivisten durch das Kantonsgericht Genf, da seine Handlung nicht als achtenswert angesehen wird und er somit keinen Anspruch auf Strafmilderung gemäss Art. 48 StGB hat. Die harte Bestrafung von Aktionen des zivilen Ungehorsams sind für den demokratischen Verfassungsstaat problematisch, weil dies zu Handlungen der Aktivist*innen führen kann, welche über den zivilen Ungehorsam hinausgehen. Damit wird die Gewaltspirale angekurbelt und das Vertrauen in das demokratische System untergraben.
Ausführlicher Überblick über die Klimaprozesse 2018 bis 2023 vgl. Bericht von Dr. Jevgeniy Bluwstein, Dr. Clémence Demay und Lucie Benoit (Bluwstein et al., 2023). Gemäss diesem Bericht wurden in diesen 5 Jahren bereits weit mehr als 100 Gerichtsverfahren aus mindestens 30 Aktionen eingeleitet.