09.11.2020
Wenn Eltern strafrechtlich verfolgt werden, sind die sozialen und menschlichen Folgen für ihre Kinder meist gravierend. Von offizieller Seite wird von diesem Umstand jedoch keine Notiz genommen: Von der Verhaftung eines Elternteils bis zur Vollstreckung der Strafe werden betroffene Kinder von der Politik marginalisiert und ihre Rechte von den Strafverfolgungsbehörden missachtet. Bereits 2015 schlug der UNO-Ausschuss für Kinderrechte Alarm. Fünf Jahre später hat sich die Situation immer noch nicht verbessert, obwohl Kinder durch die Inhaftierung ihrer Eltern besonderen Risiken ausgesetzt sind.
Sophie de Saussure, Assistentin in Strafrecht an der Uni Genf und Doktorandin an der Universität von Ottawa
La Chaux-de-Fonds, Mai 2018: Ein zehnjähriges Kind bleibt nach der Verhaftung seines Vaters allein zu Hause. Die westschweizer Medien reagieren bestürzt. Das rücksichtslose Vorgehen der Neuenburger Polizei demonstriert einen erheblichen Mangel an Sensibilität, der eine unangebrachte Handhabung der Situationen zur Folge hatte. Selbst wenn dieses Ereignis ein Einzelfall ist, steht es doch sinnbildlich für ein tieferliegendes Problem: Die Behörden und das Strafrecht nehmen keine Rücksicht auf Kinder mit einem inhaftierten Elternteil.
Die verletzliche Situation der Kinder
In den letzten zehn Jahren befasste sich eine Vielzahl von Forschungsarbeiten mit den Schwierigkeiten, welchen Kindern strafrechtlich verfolgter Eltern ausgesetzt sind. So werden sie stigmatisiert und ausgegrenzt, weswegen sie unter starken Schamgefühlen leiden und nicht offen über ihr Situation sprechen können. Oftmals sind die Kinder zudem von schwerwiegenden sozialen, psychologischen und emotionalen Problemen betroffen, welche sich auf ihre Entwicklung, ihre Gesundheit und ihr Lernverhalten auswirken können. In bestimmten Fällen tritt sogar ein verstärktes asoziales Verhalten zu Tage. Auch die Beziehung zum inhaftierten Elternteil wird einer Belastungsprobe unterzogen. Bestenfalls ist eine reduzierte Bindung zwischen dem Kind und seinem Elternteil zu erwarten, im schlimmsten Fall kann es zum Abbruch der Beziehung kommen.
Darüber hinaus ist eine Inhaftierung für Familien in vielerlei Hinsicht kostspielig: Die Gerichtskosten, die Ausgaben für die Gefängnisbesuche und der Lohnausfall eines Elternteils führen oft zu finanziell prekären Situationen. Hinzu kommt, dass Menschen im Gefängnis stärker von Armut, Analphabetismus, Drogenabhängigkeit und Gesundheitsproblemen betroffen sind als die übrige Bevölkerung. All diese Risikofaktoren können auch ihre Kinder in Mitleidenschaft ziehen.
Die Erfahrungen der betroffenen Kinder lassen sich nicht auf eine bestimmte Thematik reduzieren, denn die Inhaftierung eines Elternteils wird sehr unterschiedlich erlebt. Etwa kann die Gefangenschaft eines gewalttätigen Elternteils sogar eine Erleichterung darstellen oder dem Kind Schutz bieten. Ausschlaggebend für die erfolgreiche Bewältigung der schwierigen Situation sind die sozialen und finanziellen Ressourcen, welche dem Umfeld des Kindes zur Verfügung stehen. Die Inhaftierung einer Person mit Kindern fordert dementsprechend einen hohen Tribut – nicht nur von den Kindern selbst, sondern von der gesamten Familie und dem Bekanntenkreis.
Von Behörden und Politik ignoriert
In der Schweiz besteht ein gravierender Mangel an Daten über die Kinder von inhaftierten Personen. Das Bundesamt für Statistik veröffentlicht zu dieser Thematik bis anhin keine Zahlen, weder im Zusammenhang mit der Untersuchungshaft noch dem Strafvollzug. Es existieren keine Informationen dazu, wer diese Kinder sind oder wie viele es in der Schweiz gibt. Das Bundesamt für Justiz schätzt, dass rund 9'000 Kinder ein Elternteil besitzen, das sich im Freiheitsentzug befindet. Jedoch ist weder die Quelle, aus welcher diese Zahl stammt, noch die Art, wie diese erhoben wurde, bekannt.
Wer besitzt das Sorgerecht für diese Kinder? Wie viele von ihnen werden von der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde untergebracht? Was sind ihre sozioökonomischen Hintergründe? Pflegen sie eine Beziehung zu ihrem inhaftierten Elternteil, und wenn ja, auf welche Art und wie intensiv? All diese Fragen sind bis heute ungeklärt. Ohne ein detailliertes Bild dieser Kinder zu haben, ist es unmöglich, ihre spezifischen Bedürfnisse zu ermitteln und eine kohärente und angepasste Schutzpolitik zu entwickeln, welche sie unterstützt und ihre Rechte gewährleistet.
Es gibt zwar lokale Ansätze, welche sich der Problematik widmen: So führt etwa die Genfer Strafvollzugsbehörde eine Statistik über inhaftierte Eltern und ihre Kinder. Auf nationaler Ebene ignoriert die Politik jedoch, dass Handlungsbedarf zur gezielten Unterstützung dieser Kinder besteht. Dies obwohl in der Bundesverfassung ein Anspruch auf besonderen Schutz der Unversehrtheit und auf die Förderung der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen verankert ist (Art. 11 Abs. 1 und 67 BV).
Die Antwort der Politik lässt auf sich warten
Im Jahr 2015 hielt der UNO-Ausschuss für die Rechte des Kindes fest, dass es in der Schweiz an Informationen über die Situation von Kindern mit einem inhaftierten Elternteil mangelt. Der Ausschuss empfahl dem Bund die Daten zu sammeln und eine Studie in Auftrag zu geben, um dem Problem Abhilfe zu verschaffen. Der Bundesrat veröffentlichte erst vier Jahre später einen entsprechenden Bericht, obwohl er diese Empfehlung ursprünglich als «prioritär» eingestuft hatte. Darin bestätigte die Regierung, was der UNO-Ausschuss bereits bemängelt hatte: «Zur Situation von Kindern mit einem inhaftierten Elternteil sowie zur Beziehungspflege zwischen dem inhaftierten Elternteil und den Kindern kann heute keine Auskunft gegeben werden. Dazu fehlen überregionale qualitative und quantitative Daten, die einen Überblick ermöglichen.»
Im Dezember 2018 übermittelte der Bundesrat dem UNO-Kinderrechtsausschuss seine Antwort. Er habe vor, die bereits verfügbaren, aber noch nicht erfassten und analysierten quantitativen Daten zusammenzutragen. Ferner plane er die Durchführung einer qualitativen Studie über die Aufrechterhaltung der Beziehung zwischen Kindern und ihrem inhaftierten Elternteil. Zu der zunehmend repressiven Strafgesetzgebung und -politik, welche die Anliegen der Kinder in den Hintergrund drängen, schweigt der Bundesrat - und verdeutlicht seine begrenzte Sichtweise auf die Problematik.
Auch wenn sie zu kurz greift, ist die Antwort des Bundesrates zu begrüssen: Zwar kann keine Statistik den individuellen Erfahrungen dieser Kinder gerecht werden, doch ist das Erheben der Daten der erste Schritt in die Richtung einer progressiveren Politik. Zwei Jahre nach der Antwort des Bundesrates existieren allerdings noch immer keine Informationen über die Situation dieser Kinder in der Schweiz.
Das Kindeswohl: Eine leere Hülle für die Kinder von Inhaftieren?
Das 1989 verabschiedete und 1997 von der Schweiz ratifizierte Übereinkommen über die Rechte des Kindes ist integraler Bestandteil der Schweizer Rechtsordnung und im Landesinneren direkt anwendbar. Als Vertragsstaat muss die Schweiz dafür sorgen, dass diese Rechte diskriminierungsfrei gegenüber allen Kindern zur Anwendung gelangen (Art. 2 KRK). Die Kinderrechtskonvention enthält Bestimmungen, welche Kindern inhaftierter Personen Schutz bieten können, jedoch hat die Legislative es versäumt, entsprechende Normen ins Strafrecht zu integrieren.
Das «Wohl des Kindes» (Art. 3 Abs. 1 KRK), welches in der Schweiz den Verfassungsrang (Art. 11) geniesst, hat nie seinen Weg ins Schweizerische Straffprozessrecht gefunden. Obwohl das Strafverfahren gegenüben einem Elternteil grossen Einfluss auf dessen Kinder hat.
Auch wenn das Konzept des Kindeswohls traditionell aus dem Familien- und Jugendrecht kommt, muss es zweifellos auch in Strafsachen zur Anwendung gelangen: Die Kinderrechtskonvention unterscheidet nicht zwischen Zivil- und Strafrecht. Zudem hält der UNO-Kinderrechtsausschuss ausdrücklich fest, dass die öffentlichen Organe der Vertragsstaaten das Kindeswohl bei allen Handlungen angemessen berücksichtigen und systematisch anwenden müssen. Besondere Aufmerksamkeit gilt den Gerichtsverfahren, welche sich direkt oder indirekt auf Kinder auswirken.
Es muss davon ausgegangen werden, dass die Inhaftierung eines Elternteils ein Kind direkt oder zumindest indirekt betrifft. Insofern vernachlässigt die Schweiz ihre internationalen Verpflichtungen, indem sie die Rechte von Kindern, deren Eltern strafrechtlich verfolgt werden, im Strafverfahren unbeachtet lässt.
Ein jüngst erschienenes Urteil des Bundesgerichts illustriert die Gleichgültigkeit der Behörden trefflich: Da die Haftbedingungen in der Schweiz nicht mit dem Wohle des Kindes zu vereinbaren seien, beantragte eine alleinerziehende Mutter den Vollzug ihrer Strafe aufzuschieben, bis Rahmenbedingungen existierten, die den Bedürfnissen ihrer Kinder entsprächen. Das Bundesgericht wies die Argumente der Betroffenen, welche sich auf die Kinderrechtskonvention stützten, zurück. Die Mutter sei nicht berechtigt, in ihrem eigenen Namen für die Rechte ihrer Kinder zu plädieren. Darüber hinaus reiche das monatliche Besuchsrecht aus, um eine dauerhafte Beziehung zwischen Mutter und Kind aufrechtzuerhalten.
Die Position des Europarates
Im Gegensatz zur Schweizer Politik sind dem Europarat die schwerwiegenden Folgen des elterlichen Strafvollzugs nicht entgangen. Bereits 1997 hat die Parlamentarische Versammlung des Europarates Empfehlungen zu den Auswirkungen der Haft auf die Familie und das soziale Umfeld erarbeitet. In Anbetracht der schädlichen Auswirkungen der Haft auf Familien sieht der Europarat Handlungsbedarf. Folgenden Empfehlungen sind erwähnenswert:
- Um unmittelbare wirtschaftliche Schwierigkeiten zu überwinden soll Familien von Inhaftierten Nothilfe zur Verfügung gestellt werden. (Artikel 6.4.)
- Familien von Inhaftierten, einschliesslich der Kinder, sollen sozial begleitet werden. Diese Dienstleistungen müssen den bedürftigen Familien nahegebracht werden. (Artikel 6.5.)
- Um die sozialen Auswirkungen der Haft zu erforschen sollen Studien in Auftrag gegeben werden, die sich speziell auf die Konsequenzen für Kinder konzentriert. (Artikel 7.1)
Im Jahr 2018 griff zudem das Ministerkomitee des Europarats das Thema auf: Basierend auf umfangreicher empirischer Forschung veröffentlichte es Leitlinien zum Schutz von Kindern inhaftierter Eltern. Mit dem Ziel, die negativen Auswirkungen des elterlichen Freiheitsentzugs auf die Kinder zu minimieren, wurde eine Reihe von Massnahmen vorgestellt, um das Strafverfahren kindergerecht auszugestalten. Der erste Schritt besteht darin, die Herausforderungen, welchen sich die Kinder von Inhaftierten stellen müssen, überhaupt anzuerkennen. Dementsprechend muss auch ihre Betreuung verbessert werden. Dies wirkt sich nicht nur für die Kinder selbst, sondern auch für die inhaftierten Eltern, das Gefängnispersonal und -umfeld sowie die Gesellschaft insgesamt positiv aus. Die Leitlinien fordern die Mitgliedsstaaten zum sofortigen Handeln auf. Der Europarat empfahl den Mitgliedstaaten einen dienststellen- und sektorenübergreifenden Ansatz, um die Problematik umfassend anzugehen.
Die zentralen Elemente der Leitlinien lassen sich wie folgt zusammenfassen:
- Das Prinzip des Kindeswohls ist ausschlaggebend bei der Bestimmung der Bedürfnisse von Kindern, deren Eltern strafrechtlich verfolgt werden. Das Kriterium des Kindeswohls soll somit als Richtlinie dienen, insbesondere bei der Strafzumessung (Art. 2 und 10), Entscheiden über Kontakte und Besuche (Art. 16 ff.) sowie über das Zusammenleben von Eltern und Kind während der Haft (Art. 36).
- Die Grundsätze der Unterstützung und des Schutzes von Kindern mit einem inhaftierten Elternteil müssen in die Strafgesetzgebung, die Strafvollzugspraxis und die Verwaltung der Strafvollzugsanstalten miteinfliessen.
- Es braucht ethische und professionelle Richtlinien sowie Protokolle zur Achtung der Rechte und Bedürfnisse von Kindern und ihren inhaftierten Eltern. Den nationalen Behörden und den im Justizprozess tätigen Fachleuten, insbesondere Richter*innen, Staatsanwält*innen, der Gefängnisverwaltung, Bewährungshelfer*innen, der Polizei sowie Kinderfürsorge- und -schutzbehörden sollen diese Standards im Umgang mit solchen Fällen als Orientierungshilfe dienen.
Kindesschutz und Strafgesetzgebung im Spannungsverhältnis
Die Schweizer Gesetzgebung ist nach wie vor weit davon entfernt den Empfehlungen des Europarats gerecht zu werden. Es fehlt an klaren Weisungen, wie die Bedürfnisse und Rechte der Kinder von den Behörden in jeder Phase des Strafverfahrens (Festnahme, Untersuchungshaft, Festlegung und Vollzug der Strafe) berücksichtigt werden. Trotz der Empfehlungen des Europarats und der bundesrätlichen Verordnung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen (Art. (Art. 2, Abs. 1 (a)) und zur Stärkung der Rechte des Kindes (Art. 2, Abs. 1 (c)), ist die Strafgesetzgebung für diese Problematik blind. Schliesslich schweigt sich die Politik darüber aus, wie mit den zahlreichen nachteiligen Folgen einer strafrechtlichen Intervention für Kinder – finanzielle, schulische und soziale Schwierigkeiten - umgegangen werden soll.
Zwischen Kindesschutz und Strafgesetzgebung kommt es in der Schweiz damit immer wieder zu Zusammenstössen und Spannungen. Mit der Verurteilung geht meist eine Vermittlung durch die Jugendschutzbehörde, sowie finanzielle und psychologische Schwierigkeiten einher. Massnahmen, die solche Probleme angehen, sollten schon vor der Inhaftierung umgesetzt werden und auch die Verhaftung miteinbeziehen.
Die Antwort des Bundesrates an den Ausschuss für die Rechte des Kindes hat zwar Hoffnungen geweckt: Die Regierung hat die Notwenigkeit eines Aktionsplans für Kinder mit einem inhaftierten Elternteil anerkannt. Doch hat sich seither wenig getan. Die Rechte von Kindern von strafrechtlich verfolgten Personen werden weiterhin marginalisiert. Alle im Justizbereich tätigen Berufsgruppen, aber auch die Gesetzgebenden müssen sich der Dringlichkeit dieses Anliegens bewusst werden. Es ist an der Zeit, dass die Schweiz Maßnahme ergreift.