20.01.2022
In der Schweiz fehlt es an offiziellen Stand- und Durchgangsplätzen für fahrende Schweizer Jenische, Sinti*zze und Rom*nja. Auch der Spontanhalt auf privatem oder öffentlichem Grund gerät zusehends unter Druck. Diese Rahmenbedingungen führen zu struktureller Diskriminierung von Menschen mit fahrender Lebensweise.
Die Schweizer Jenischen, Sinti*zze und Rom*nja, welche eine fahrende Lebensweise führen, sind auf unterschiedliche Arten von Plätzen angewiesen: Einerseits sogenannte Standplätze, die vorwiegend dem Halt über den Winter dienen und auf eine längere Aufenthaltsdauer ausgerichtet sind. Andererseits von Frühling bis Herbst auf Durchgangsplätze, auf welchen sie nur wenige Wochen verweilen. Von grosser Bedeutung ist schliesslich der sogenannte Spontanhalt. Bei dieser ursprünglichsten Form der fahrenden Lebensweise hält sich eine kleine Gruppe von Personen ausserhalb offizieller Plätze – meist auf privatem, vereinzelt aber auch auf öffentlichem Grund – und während einer Zeitspanne von mehreren Wochen auf.
Von den 30'000 bis 35'000 Jenischen und etwa 3'000 Sinti*zze in der Schweiz pflegen laut der Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende heute noch etwa 2’000 bis 3'000, je nach Quelle auch bis zu 5'000, den fahrenden Lebensstil. Ebenso führt ein Teil der rund 50'000 bis 80'000 in der Schweiz lebenden Rom*nja eine fahrende Lebensweise.
Mangelnde Stand- und Halteplätze
Gemäss des Standberichtes 2021 der Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende benötigen die Jenischen und Sinti*zze, welche aktuell eine fahrende Lebensweise pflegen, 40 bis 50 Standplätze. Diese dienen nicht nur im Winter als fester Wohnsitz, sondern können auch im Alter, mit schulpflichtigen Kindern oder bei Krankheit von Bedeutung sein. Für den temporären Aufenthalt zwischen Frühling und Herbst benötigen die fahrenden Menschen rund 80 Durchgangsplätze, wobei auch dieser Bedarf nicht statisch ist: Bei einer steigenden Anzahl Plätze könnte auch die Anzahl der Jenischen, Sinti*zze und Rom*nja steigen, welche eine fahrende Lebensweise führen.
Der Bericht stellt fest, dass in der Schweiz im Jahr 2020 lediglich 16 Standplätze mit insgesamt 248 Stellplätzen zur Verfügung standen. Damit ist lediglich die Hälfte der aktuell benötigten Kapazitäten vorhanden. Mit dem Umfunktionieren von Durchgangsplätzen kann dem Platzmangel etwas entgegengewirkt werden, jedoch ist die Lebensqualität nicht mit derjenigen auf Standplätzen vergleichbar. Im selben Jahr zählt die Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende lediglich 24 Durchgangsplätze – wobei ein Drittel davon nur provisorisch betrieben wird – und 14 kleinere Plätze mit qualitativen Mängeln. Damit sind erst 30 bis 40 Prozent aller aktuell benötigten Plätze verfügbar. Bei den Standortgemeinden der Durchgangsplätze ist es für die fahrenden Menschen zudem oft sehr schwierig, ihre Schriften zu hinterlegen. Dadurch sind sie mit tiefgreifenden Konsequenzen bezüglich ihrer Rechte als Schweizer Bürger*innen konfrontiert.
Wie im Standbericht 2021 ersichtlich, fehlt es in der Schweiz schliesslich an rund zehn Transitplätzen für fahrende Minderheiten aus dem Ausland. Dieser Umstand führt nicht zuletzt zu einem verstärkten Konkurrenzkampf rund um die privaten und öffentlichen Plätze für den spontanen Halt. Schliesslich hat auch die Corona-Pandemie die Situation der fahrenden Minderheiten zusätzlich verschärft, weil ihre Verdienstmöglichkeiten vermehrt wegfallen.
Hürden für Spontanhalte
Laut einer Studie des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte SKMR sind die fahrenden Minderheiten bezüglich des spontanen Halts mit hohen Hürden konfrontiert. Die Rechtslage ist oft unübersichtlich, intransparent und weist grosse kantonale und kommunale Unterschiede auf. Rechtliche Einschränkungen bestehen unter anderem durch Bewilligungspflichten, Campingverbote, Fahrverbote, Mietkautionen oder polizeiliche Auflagen. Das hat schwerwiegende Folgende für die fahrenden Minderheiten, da der Spontanhalt insbesondere für ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten von Bedeutung ist. Sie sind oft darauf angewiesen, Zugang zu unterschiedlichen Kund*innen aus verschiedenen Gemeinden zu haben.
Es fehlt jedoch nicht an Berechtigten, die ihre Grundstücke für den spontanen Halt zur Verfügung stellen. Vielmehr werden die fahrenden Familien aufgrund der Rechtslage und des Drucks vonseiten der kommunalen Behörden – und selten der lokalen Bevölkerung –, etwa durch Bussandrohungen, unerwünschte Medienpräsenz oder häufige Polizeibesuche, vom Spontanhalt abgehalten. Zwar sind einzelne rechtliche Schranken in den Gemeinden für sich genommen gerechtfertigt, nach dem Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte können sich diese in einer Gesamtbetrachtung jedoch stark benachteiligend auf fahrende Minderheiten auswirken. Unter diesen Umständen ist es ihnen nur noch unter schwierigen Bedingungen oder gar nicht möglich, ihre traditionelle Lebensweise zu pflegen.
Der Staat in der Pflicht
Jenische und Sinti*zze sind in der Schweiz seit 2016 offiziell als Minderheiten gemäss dem Europäischen Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten anerkannt. Damit sind die staatlichen Behörden auf allen Ebenen dazu verpflichtet, ihre traditionelle Lebensweise zu fördern (Art. 5 FCNM). Die Rom*nja wurden bis heute vom Bund nicht als nationale Minderheit anerkannt.
Das Bundesgericht hat bisher verneint, dass aus dem Europäischen Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten ein gerichtlich einklagbarer Anspruch auf die Bereitstellung offizieller Plätze ableitbar ist (BGE 145 I 73, E 4.1). Unter den aktuellen Rahmenbedingungen kommt es jedoch immer wieder zu struktureller Diskriminierung. Die eidgenössischen, kantonalen und kommunalen Behörden besitzen aus menschenrechtlicher Sicht die Pflicht, die spezifischen Bedürfnisse der reisenden Minderheiten in der Gesetzgebung und durch andere Massnahmen zu berücksichtigen. Bei der Definition der geeigneten Rahmenbedingungen besitzen sie zwar einen breiten Ermessensspielraum, jedoch müssen die angewandten Massnahmen den Jenischen, Sinti*zze und Rom*nja das Praktizieren der reisenden Lebensweise angemessen ermöglichen.