04.07.2019
Zivilgesellschaftliche Organisationen klagten, dass ein neues kantonales Gesetz, welches dem Mangel an Halteplätzen für Jenische, Sinti/Manouches und Roma im Kanton Neuenburg entgegenwirken sollte, in Tat und Wahrheit diskriminierend sei und weitere Grundrechte von Fahrenden verletze.
Das Bundesgericht kam in seinem Entscheid vom 13. Februar 2019 jedoch zu einem anderen Schluss und lehnte die Beschwerde zweier Neuenburger Bürger jenischer Herkunft, einer jenischen Organisation und der Gesellschaft für bedrohte Völker in allen Punkten ab.
Das Neuenburger Gesetz zu den Halteplätzen von Fahrenden (Loi cantonale neuchâteloise sur le stationnement des communautés nomades, LSCN) war am 20. Februar 2018 in Kraft getreten. Als Spezialgesetz hat es Vorrang vor den Bestimmungen des Verwaltungsrechts und des Gesetzes zur Nutzung des öffentlichen Raums. Das Gesetz sieht drei Typen von Halteplätzen vor: sogenannte «Stand-» und «Durchgangsplätze» für schweizerische Fahrende sowie «Transitplätze» für ausländische Gruppen. Stand- und Durchgangsplätze verfügen generell über eine bessere Infrastruktur als Transitplätze. Zudem unterscheidet das Gesetz zwischen legalen und illegalen Lagerplätzen und enthält Bestimmungen zur Räumung von letzteren.
Mehrere Grundrechte betroffen
Für die Vertreter/innen der Fahrenden ist es offensichtlich, dass das Ziel, die Rahmenbedingungen für die Bewilligungen von Halteplätzen zu klären, nur vorgeschoben ist. Sie klagten, dass das Gesetz unter anderem das Prinzip der Gleichbehandlung (Art. 8 BV) und den Schutz der Familie (Art. 13 BV, Art. 8 Abs. 1 EMRK) verletze. Die Beschwerdeführer/innen machten ausserdem eine Verletzung der prozeduralen Bestimmungen und des Rechts auf Zugang zu einem Gerichtsverfahren (Art. 29 und Art. 29a BV, Art. 6 EMRK) geltend. Sie beriefen sich unter anderem darauf, dass Beschwerden gegen Räumungsbefehle keine aufschiebende Wirkung entfalten. Die Beschwerdeführer/innen stützten ihre Argumentation unter anderem auf ein von der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus in Auftrag gegebenes Gutachten. Trotzdem kam das Bundesgericht zum Schluss, dass keines der genannten Rechte verletzt würde. Die Begründung des Entscheids ist aus menschenrechtlicher Perspektive in mehrfacher Hinsicht fragwürdig.
Keine Diskriminierung festgestellt
Das Bundesgericht stellt in seinem Entscheid fest, dass die Unterscheidung zwischen Halteplätzen für schweizerische Fahrende und «andere» keine Diskriminierung darstelle. Es sei im öffentlichen Interesse, jeder Gemeinschaft von Fahrenden jene Örtlichkeiten zur Verfügung zu stellen, die deren Bedürfnisse am besten befriedigen. Das Bundesgericht erläutert, dass die Unterscheidung aufgrund des KFZ-Kennzeichen erfolge, welches wiederum ohne Unterscheidung der Staatsbürgerschaft erworben werden könne. Folglich liege keine Diskriminierung aufgrund der Staatsbürgerschaft vor.
Dem steht gegenüber, dass Art. 4 lit. a LSCN für den Zugang zu Stand und Durchgangsplätzen drei kumulative Kriterien vorsieht. Nebst dem Schweizer KFZ-Kennzeichen sind dies die Schweizer Staatsbürgerschaft und die Zugehörigkeit zu einer vom Bundesrat anerkannten nationalen Minderheit.
Auch bezüglich der Andersbehandlung von Fahrenden gegenüber von anderen Personengruppen, die in Wohnmobilen, Zelten oder ähnlichem logieren, stellt das Bundesgericht keine Diskriminierung fest. Die Fahrenden würden sich im Gegensatz zu Campierenden, Touristen/-innen und Anhalter/innen in grossen Gruppen bewegen. Dies führe zur einer unterschiedlichen Belastung des Raumes. Folglich sei eine unterschiedliche Behandlung grundsätzlich gerechtfertigt.
Schutz des Territoriums
Die geltend gemachte Verletzung der Wirtschaftsfreiheit verneint das Bundesgericht ebenfalls. Dabei stellt es seine eigene Argumentation in Frage, wonach sich die Realität der Fahrenden von jener anderer Gruppen so stark unterscheide, dass eine unterschiedliche Behandlung gerechtfertigt sei.
Die abnehmende Verfügbarkeit öffentlichen Grundes hat dazu geführt, dass Landwirte/-innen den Fahrenden ihr Grundstück auf einer vertraglichen Grundlage zur Verfügung stellen. Obwohl das neue Gesetz diese bestehende Praxis grundsätzlich anerkennt, sieht es strikte Einschränkungen vor, wie beispielsweise den Abschluss eines Rahmenvertrags. Gemäss Art. 13 par. 2 LSCN dürfen die Landbesitzer/innen innerhalb der Landwirtschaftszone pro Jahr höchstens zwei Rahmenverträge für die Dauer von je dreissig Tagen abschliessen. Liest man zwischen den Zeilen, wird offensichtlich, dass das Bundesgericht diesbezüglich das Gesetz möglichst einheitlich anwenden möchte. Unter Bezug auf die Ausführungsbestimmungen des Neuenburger Baugesetzes vom 16. Oktober 1996 für mobile Wohnungen, Wohnmobile, Zelte etc., die ausserhalb von autorisierten Campingplätzen aufgestellt werden, argumentieren die Richter/innen, eine Begrenzung des Aufenthalts auf zwei Monate sei nichts Neues. Diese Begründung trägt der Realität der Fahrenden zu wenig Rechnung. Während die zwei Monate für Touristen/-innen bei Weitem ausreichen, ist dies bei Fahrenden nicht immer der Fall.
Zudem ignoriert das Bundesgericht damit die zusätzliche durch das Neuenburger Gesetz festgelegte Einschränkung, die vorsieht, dass Landbesitzer/innen innerhalb einer Landwirtschaftszone maximal zwei Rahmenverträge pro Jahr eingehen dürfen. Wenn also solche Rahmenverträge für weniger als dreissig Tage abgeschlossen werden, wird die gesamte Aufenthaltsdauer der Fahrenden reduziert.
Provisorische Massnahmen anstatt aufschiebende Wirkung
Schliesslich äussert sich das Gericht zur Frage der Räumung von illegalen Lagern. Im neuen Gesetz sind weder Ausnahmen noch eine aufschiebende Wirkung im Falle einer Beschwerde vorgesehen. Obwohl das Bundesgericht festhält, dass die Legislative dem besonderen Umstand des Langzeitaufenthaltes von Fahrenden zu wenig Rechnung getragen hatte und die aufschiebende Wirkung sehr wohl hätte vorgesehen werden können, kommt es zum Schluss, dass eine verfassungskonforme Auslegung der Bestimmung möglich ist. Um die Verhältnismässigkeit zu garantieren, müssten die Behörden im Fall von Fahrenden, die sich seit mehreren Monaten oder permanent am selben Ort aufhalten, provisorische Massnahmen treffen, während die Gerichte über eine allfällige Beschwerde befinden. Allen anderen Fahrenden bleibt nur die Hoffnung, dass die Unrechtmässigkeit der Räumung festgestellt wird.
Kommentar humanrights.ch
Das Bundesgerichtsurteil trägt der besonderen Schutzbedürftigkeit der Fahrenden nicht genügend Rechnung. Obwohl das Bundesgericht grundsätzlich festhält, dass die Fahrenden nicht mit anderen Gruppen verglichen werden können, die sich in mobilen Unterkünften aufhalten, versäumt es eine sorgfältige Abwägung der unterschiedlichen Lebensumstände. Das Leben im Wohnwagen ist seit Jahrhunderten untrennbar mit der Kultur, den Werten und der Lebensform der Fahrenden verbunden. Die übermässigen Restriktionen und das Urteil zeigen, dass sich unsere Gesellschaft weiterhin schwer damit tut, diverse Lebensformen zu akzeptieren und zu ermöglichen.