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Politik fordert ausnahmslose Ausschaffung von Dschihadistinnen und Dschihadisten

06.06.2019

Das Parlament stellt eines der elementarsten rechtsstaatlichen Prinzipien in Frage: das menschenrechtliche Folterverbot. Eine Auslieferung von Dschihadisten/-innen soll auch dann ohne Ausnahme vollzogen werden, wenn ein Herkunftsland als «unsicher» gilt.

Bis anhin stellte das Folterverbot in der Schweiz eine Menschenrechtsgarantie dar, die auch bei Vorliegen von Sicherheitsgefährdungen jeglicher Art als unantastbar galt. Im Rahmen der Terrorismusprävention zeichnet sich in den politischen Forderungen nun jedoch eine Tendenz ab, dieses den elementarsten Kern der Menschlichkeit betreffende Verbot aufzuweichen. Dies zeigt sich anhand einer im März 2019 vom Parlament verabschiedeten Motion (16.3982), die den Bundesrat dazu auffordert, seine Praxis in Bezug auf die Ausweisung von Terroristen/-innen in ihre Herkunftsländer zu ändern.

Der Umgang mit Terrorismus - eine globale Herausforderung

Die im Nationalrat behandelte Motion nimmt eine der herrschenden gesellschaftlichen Debatten auf: die Reaktion auf Terrorismus. Wie soll mit Personen umgegangen werden, welche potentiell eine Gefahr für die Sicherheit eines Landes darstellen?

Paradigmenwechsel als Folge von 9/11

Die Anschläge im September 2001 in den USA hatten zu einem Paradigmenwechsel in der Terrorismusbekämpfung geführt, welcher mit einem Tabubruch in Bezug auf das Folterverbot im Westen einherging. Das globale Phänomen des sogenannten «Dschihadismus» wird von verschiedenen Staaten auf multilateraler Ebene durch verstärkte Kooperation im Geheimdienstbereich und in der Rechtshilfe angegangen und stellt zunehmend eine Herausforderung für die liberalen westlichen Rechtsordnungen dar. Während vorher hauptsächlich diktatorische Regimes mit Folter auf sich aufmerksam gemacht hatten, sind seither verschiedene westliche Staaten mit ihrer Praxis aufgefallen, keinen ausreichenden Schutz vor Folter zu gewähren bzw. gar selber zu foltern.

Schweizer Terrorismusbekämpfung

Auch in der Schweiz ist der islamistische Extremismus in den Fokus geraten: Insbesondere haben die Geschehnisse im Zusammenhang mit der inzwischen geschlossenen Winterthurer An’Nur-Moschee und der Fall der «Schweizer IS-Zelle» vom Frühling 2014 die bestehenden Sicherheitsmassnahmen in Frage gestellt und verschiedene Ausbürgerungsverfahren in Gang gesetzt. Diese Ereignisse führten dazu, dass der Einsatz verschiedener, teilweise höchstproblematischer Präventionsmassnahmen als Mittel der Terrorismusbekämpfung geprüft wird.

Sicherheitspolitik: Verstärkte Aktivität im Bundesparlament

Die eingangs erwähnte Motion ist nur einer von zahlreichen parlamentarischen Vorstössen zur Terrorismusbekämpfung. Weitere Vorstösse, die mit der Sicherheitspolitik zusammenhängen, betreffen das Asyl- und Ausländerrecht. Im Kontext publik gewordener Einzelfälle wurden unter anderem verschiedene Interpellationen mit Fragen zu bestehenden und potentiellen Anti-Terror-Massnahmen im Asylbereich eingereicht (bspw. 15.3547 von Nationalrätin Daniela Schneeberger, BL/FDP, oder 15.4179 von Nationalrat Peter Keller, NW/SVP), die Schaffung einer allgemeinen Strafbestimmung zur Terrorismusbekämpfung mittels parlamentarischen Initiative vorgeschlagen (15.407 von Nationalrat Christian Lüscher, GE/FDP) und verschiedene weitere Motionen zur Debatte eingebracht (bspw. 16.3673 von Nationalrat Heinz Brand, GR/SVP). Diese Häufung an Parlamentsgeschäften widerspiegelt die gesellschaftliche und politische Brisanz dieser Thematik. 

Besondere Beachtung fand dabei die Motion 16.3982 von Nationalrat Fabio Regazzi (TI/CVP), weil sie den Refoulementschutz und somit das Folterverbot in Frage stellt und trotz des unrechtmässigen Gehalts vom Nationalrat angenommen wurde. 

Geforderte Praxisänderung höhlt das Non-Refoulement-Prinzip aus

Die von Nationalrat Regazzi initiierte Motion fordert den Bundesrat auf, die Praxis der Exekutive bezüglich der Rückführung von verurteilten Terroristen/-innen in «unsichere» Herkunftsländer zu ändern.

Motion Regazzi bevorzugt Ausnahme im flüchtlingsrechtlichen Rückschiebungsverbot…

Nationalrat Regazzi begründet diesen parlamentarischen Vorstoss damit, dass die aktuelle Praxis eine Anwendung der geltenden Rechtsbestimmungen «zugunsten einer verurteilten Person» beinhalte, welche deren Interessen «über die Sicherheit unseres Landes» stelle.

Als rechtliche Grundlage für eine solche Praxisänderung soll die Genfer Flüchtlingskonvention dienen, welche in ihrem Artikel 33 Abs. 2 im Falle der Straffälligkeit eines Flüchtlings eine Ausnahme für das flüchtlingsrechtliche Rückschiebungsverbot vorsieht. Diese Bestimmung soll dem in der Bundesverfassung (BV) garantierten menschenrechtlichen Rückschiebungsverbot (Artikel 25 Abs. 3 BV) vorgehen. 

… und verlangt die Ausserkraftsetzung des menschenrechtlichen Rückschiebungsverbots

Unerwähnt bleibt die Tragweite des in der Bundesverfassung als Grundrecht verankerten Folterverbotes (Artikel 25 Abs. 3 BV), welches analog zum Völkerrecht ein menschenrechtliches Rückschiebungsverbot unabhängig vom Aufenthaltsstatus der betroffenen Person umfasst. Nationalrat Regazzi geht mit keinem Wort darauf ein, welche Auswirkungen die von der Motion geforderte Einschränkung dieses Rechts hätte: Nämlich, dass eine Aufweichung des Folterverbots damit als Schweizer Praxis verankert wäre und Tür und Tor für weitergehende Einschränkungen dieses Menschenrechts öffnen würde.

Der Bundesrat warnt vor einer Verletzung des Refoulement-Verbots

Wie Bundesrätin Sommaruga in ihrem Votum im Rahmen der Behandlung dieser Motion im Nationalrat während der Herbstsession 2018 ausführte, ist bereits heute die Rückschiebung in einen als «unsicher» eingestuften Staat im Einzelfall möglich. 

Davon zu unterscheiden ist die Frage der Zulässigkeit einer Rückschiebung in einen Herkunftsstaat, wo im Einzelfall eine Verletzung des Folterverbots droht. In seiner Stellungnahme hält der Bundesrat fest, dass eine solche Rückschiebung bzw. Ausweisung aufgrund des im Verfassungs- und Völkerrecht verankerten menschenrechtlichen Refoulement-Verbots unzulässig ist und somit kein Handlungsspielraum für eine Praxisänderung im Sinne der Motion besteht. 

Trotzdem nahm der Nationalrat die Motion im September 2018 mit 102 zu 72 Stimmen (bei drei Enthaltungen) an und überwies sie an den Ständerat. Der Ständerat leistete dem Nationalrat im März 2019 folge, in dem er die Motion mit 22 zu 18 Stimmen annahm.

Das Non-Refoulement-Prinzip in Kürze

Das Non-Refoulement-Prinzip - also das Gebot der Nichtrückschiebung – ist ein Teilaspekt des Folterverbots und beinhaltet die Pflicht der Staaten, keine Rückführungen oder Auslieferungen in einen Staat zu vollziehen, in welchem der ausgewiesenen Person Verfolgung, Folter oder andere schwerste Menschenrechtsverletzungen drohen. Dieses Prinzip ist in verschiedenen Rechtsquellen und -bereichen verankert.

Flüchtlingsrechtliches Refoulement-Verbot gewährt nur beschränkten Schutz

Im Bereich des Flüchtlingsrechts ist das Refoulement-Verbot in der Genfer Flüchtlingskonvention (Art. 33 Abs. 1 GFK), im schweizerischen Asylgesetz (Art. 5 Abs. 1 AsylG) und in der Bundesverfassung (Art. 25 Abs. 2 BV) verankert. Das Schweizer Asylrecht und die Genfer Flüchtlingskonvention sehen eine Ausnahme vor. Demnach kann sich die betroffene Person nicht auf den Schutz des flüchtlingsrechtlichen Non-Refoulement-Prinzips berufen, wenn sie eine Gefahr für die Sicherheit des Aufenthaltsstaates oder als Bedrohung der Gemeinschaft darstellt (Art. 33 Abs. 2 GFK bzw. Art. 5 Abs. 2 AsylG). Dieses Prinzip wird auch im Schweizer Strafrecht aufgegriffen. Dieses sieht vor, dass eine wegen Unterstützung terroristischer Organisationen verurteilte ausländische Person mit einem Landesverweis belegt werden muss (Art. 66a Abs. 1 Bst. l StGB).

Menschenrechtliches Refoulement-Verbot gewährt absoluten Schutz

Das sogenannte menschenrechtliche Refoulement-Verbot gewährt einen absoluten Schutz, das heisst Interessenabwägungen sind hier unzulässig und das Recht auf Schutz vor Folter und unmenschlicher, erniedrigender oder grausamer Behandlung darf unter keinen Umständen eingeschränkt werden. Als Erweiterung der staatlichen Schutzpflichten in Bezug auf die Grund- und Menschenrechte hat der Staat sicherzustellen, dass er und seine Organe an keiner Handlung auch nur in mittelbarer Weise beteiligt sind, die grund- und menschenrechtliche Kerngehalte - also das Folterverbot - verletzen.

Dieses menschenrechtliche Prinzip ist ebenfalls in mehreren Rechtsquellen festgehalten: Artikel 3 der Anti-Folter-Konvention der UNO (CAT), Artikel 7 des UNO-Pakts II, Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und primär auch Artikel 25 Abs. 3 der Schweizer Verfassung.  

Praxis setzt hohe Hürden für die Annahme eines «real risk» 

Die schweizerische und völkerrechtliche Praxis setzt in der Beurteilung eines Risikos für eine Verletzung des Folterverbots, welches für die Anwendung des menschenrechtlichen Rückschiebungsverbots vorliegen muss, hohe Anforderungen: Es muss ein sogenanntes «real risk» - also ein konkretes Risiko – im Individualfall vorliegen. Das Non-Refoulement-Prinzip kommt folglich nur zur Anwendung, wenn die Einzelfallprüfung ergibt, dass eine Rückführung die betroffene Person einer konkreten Gefährdung aussetzen würde, schwerste Menschenrechtsverletzungen zu erfahren. Diese Annahme muss auf ernsthaften und stichhaltigen Gründen beruhen und die befürchteten Menschenrechtseingriffe müssen von gewisser Intensität sein.

Bundesgerichtliche Praxis zur Beurteilung der Menschenrechtslage in den Herkunftsstaaten

Das Bundesgericht hat in seiner Rechtsprechung eine Beurteilung der Herkunftsstaaten aufgrund ihrer Menschenrechtspraxis entwickelt. Es hat für Staatengruppen, die eher als «unsicher» einzustufen sind, festgelegt, dass im Einzelfall diplomatische Zusicherungen einzuholen sind, bevor die betroffene Person ausgeliefert wird. Für Herkunftsstaaten mit einer sehr kritischen Menschenrechtslage darf die betroffene Person auch bei Vorliegen diplomatischer Zusicherungen in keinem Fall ausgeliefert werden.

Entwicklungen im Ausland während angespannter Sicherheitslage

Nicht nur das Schweizer Recht sieht sich in den letzten Jahren gezwungen, die herausfordernde Aufgabe der Terrorismusbekämpfung zu bewältigen. In Frankreich räumte der nach den verheerenden Anschlägen im Jahr 2015 verhängte Ausnahmezustand den Sicherheitsbehörden weitreichende Rechte ein. Ein Analysebericht von Amnesty International, welcher die Menschenrechtslage während dieses Ausnahmezustands untersucht, kommt zum Schluss, dass Frankreich in den Jahren 2016/2017 insbesondere im Asyl- und Flüchtlingsbereich das Folterverbot bzw. das Refoulement-Verbot nicht ausreichend gewährleistet hatte, obschon diese Rechtsverletzungen nicht als direkte Antiterrormassnahmen erfolgten.

Rückschiebungspraxis in heiklen Fällen

Ein aufsehenerregender Einzelfall als Beispiel für den Verstoss gegen das menschenrechtliche Non-Refoulement-Prinzip aus sicherheitspolitischen Gründen ist der Fall Sami A. in Deutschland: Die Ausweisung des unter anderem wegen Unterstützung terroristischer Aktivitäten verurteilten Straftäters Sami A. nach Tunesien wurde zunächst aufgrund eines wegen des Non-Refoulement-Prinzips erfolgten Ausweisungsstopps nicht vollzogen. Nach einer Neubeurteilung der Sicherheitslage in Tunesien wurde die Rückführung nach Tunesien trotz des gerichtlichen Verbots vollzogen - als Ergebnis mangelnder Koordination der involvierten Gerichts- und Vollzugsbehörden. Dieser tragische Fall führte zu einer Debatte über die Rückführung von staatsgefährdenden Personen trotz Non-Refoulement-Prinzip und es wurde unter anderem von verschiedenen Persönlichkeiten aus Politik und Justiz verlangt, dass Sami A. nach Deutschland zurückzuführen sei, um das grund- und menschenrechtliche Folterverbot effektiv zu gewährleisten.

Die Motion von Nationalrat Regazzi zieht diese ausländischen Entwicklungen als Argument für die geforderte Praxisänderung her: Die Schweiz solle demnach im Bereich der Terrorismusbekämpfung die Sicherheitsinteressen des Landes höher werten als eine kohärente und effektive Menschenrechtspraxis.

Kommentar

Die vom Parlament angenommene Motion fordert eine Praxisänderung, die der Bundesverfassung und geltendem Völkerrecht widerspricht, wie dies auch der Bundesrat in seiner Stellungnahme vom 1. Februar 2017 festgehalten hat. Die Motion folgt einer unvollständigen Argumentation, die selektiv auf bestimmte Rechtsquellen beschränkt ist und einen scheinbar zulässigen Lösungsansatz im Umgang mit verurteilten Terroristen/-innen vorschlägt. Dabei würde die geforderte Praxisänderung das Refoulement-Verbot aushöhlen.

Die in der Motion geforderte Praxisänderung verlangt, dass bei wegen terroristischer Aktivität verurteilten Personen auch der menschenrechtliche Refoulementschutz dahinfällt, in dem sie die Genfer Flüchtlingskonvention über die Bundesverfassung stellt. Dies ist unzulässig, da sowohl Art. 25 Abs. 3 BV als auch die genannten völkerrechtlichen Quellen ein absolutes Refoulement-Verbot verankern, welches unter keinen Umständen eingeschränkt werden darf.

Zudem wäre die Schweiz auch unabhängig dieser Rechtsgrundlagen zur Einhaltung des Folterverbots verpflichtet: Das Folterverbot und die korrelierende Schutzpflicht der Staaten sind nämlich aufgrund ihrer besonderer Tragweite Teil des allgemein anerkannten zwingenden Völkerrechts - dem sogenannten ius cogens. Diese Schutzpflicht käme auch dann zum Tragen, wenn die Schweiz über keine entsprechende Rechtsgrundlage in der Bundesverfassung und in völkerrechtlichen Verträgen verfügte. 

Kommt hinzu, dass die schweizerische und die völkerrechtliche Praxis in der Beurteilung eines Risikos für eine Grund- und Menschenrechtsverletzung, welches für die Anwendung des menschenrechtlichen Rückschiebungsverbots vorliegen muss, hohe Anforderungen an das Risiko setzt. Das Non-Refoulement-Prinzip wird folglich nur in Einzelfällen angewendet, wie die geltende Praxis zeigt. Trotzdem ist der Tatsache Rechnung zu tragen, dass es sich beim Folterverbot um eines der elementarsten Menschenrechte in einem Rechtsstaat handelt. Dabei sollen die sicherheitspolitischen Bedenken sicherlich nicht ausser Acht gelassen werden. Es soll ihnen lediglich mit menschenrechtskonformen Massnahmen, welche rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprechen, begegnet werden.