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Menschenrechte in der Schweiz – auf die Wahlen setzen?

Eine Menschenrechtspolitik, die diesen Namen verdient, betrieb die Parlamentsmehrheit in der Legislatur 2015-2019 nicht. Es fehlte am Bewusstsein für die Dringlichkeit, an Sachverstand und Herzblut.

Im Wahlkampf sind Menschenrechte kein Thema. «Die Grundrechte stehen in der Bundesverfassung», heisst es im entscheidenden Moment. Dass die Schweiz und speziell Genf in der weiten Welt als Hort der Menschenrechte wahrgenommen werden, scheint – abgesehen von einigen Aufwendungen für die Aussen- und Standortpolitik – weiterhin fast gratis zu sein.

Ausweichmanöver in der Menschenrechtspolitik durch den Bundesrat und das Parlament

Menschenrechtsthemen wurden sowohl im Parlament als auch im Bundesrat umschifft statt angesteuert. Der letzte Beweis dafür am vorletzten Tag der Herbstsession 2019: Der Ständerat verschiebt die Beratung der Konzernverantwortungsinitiative kurz vor den Wahlen auf die nächste Legislatur. Dieser Entscheid folgte einem Störmanöver des Bundesrats, der kurzfristig eine Weichspülvariante ohne Haftungsregeln ins Spiel gebracht hatte. In der Schweiz der globalen Rohstoffkonzerne und Finanzinstitute, der Pharmamultis und Rüstungsfirmen stellt sich hier die eigentliche menschenrechtliche Gretchenfrage.

Ebenfalls zur unendlichen Geschichte ist die Schaffung einer Nationalen Menschenrechtsinstitution geworden. Seit zwanzig Jahren wird sie von Menschenrechtsorganisationen, Parlamentarier/innen, UNO-Menschenrechtsgremien sowie der OSZE/ODIHR gefordert. 2016 fällte der Bundesrat endlich einen Grundsatzentscheid und legte ein Jahr später einen Gesetzesentwurf vor. Nach dem Vernehmlassungsverfahren wird nun – nach jahrelangen Verzögerungen – voraussichtlich bald der Vorschlag für eine Einrichtung präsentiert. Allerdings sollen nur eine Million Franken Bundesmittel pro Jahr vorgesehen werden. Auch damit würde die geringe Bedeutung der Menschenrechtspolitik abgebildet.

Schwindende Priorisierung der Menschenrechte im Bundesrat

Dass dem Schutz der Menschenrechte im Bundesrat weniger Priorität gegeben wird, hat einen Namen: Ignazio Cassis. In seiner «Aussenpolitischen Vision 2028» wird erschreckend manifest, wie wirtschaftliche Eigeninteressen privilegiert werden.

Allerdings hat bisher auch Bundesrätin Karin Keller-Sutter als neue Justizministerin dem Menschenrechtsschutz kein grosses Gewicht beigemessen. Der Gesetzesentwurf für polizeiliche Massnahmen in der Terrorismusbekämpfung ritzt mit der Konzentration auf «Gefährder» und entsprechenden Einschränkungen der Freiheiten im vor-strafrechtlichen Bereich die Menschenrechte ausgerechnet in einem Feld, in dem das EDA Staaten wie Russland oder Ägypten in ihrem Kampf gegen den gewalttätigen Extremismus zurecht kritisiert.

Keine Fortschritte im Bereich der Menschenrechtsaussenpolitik

Kohärenz ist nicht das Markenzeichen der schweizerischen Menschenrechtspolitik. Bemühungen zur Schaffung von wirksamen Querschnittsorganen für eine departementsübergreifende Menschenrechtspolitik stiessen auf Widerstand. Dabei wäre dies auch zur Umsetzung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung notwendig. Schliesslich ist diese nicht zuletzt auch eine Menschenrechtsagenda und wird auf UNO-Ebene immer enger mit den Menschenrechtsverfahren koordiniert.

Auch die intensivierten Beziehungen zu China machen eine einheitliche Bundespolitik dringlich: Eine menschenrechtliche Linie ist nicht erkennbar, wenn hier auf Anpassung an die ökonomischen Vorgaben der neuen Weltmacht gesetzt und dort die Hilf- und Wirkungslosigkeit der eigenen Menschenrechtspolitik etwa bei der Abschaffung der Todesstrafe oder der Unterwanderung des UNO-Menschenrechtsrats sichtbar wird.

Ein Schwerpunkt der verdienstvollen Menschenrechtsaussenpolitik der Schweiz liegt schliesslich in der Bekämpfung von Folter. Das Parlament hat sie kürzlich unterminiert: National- und Ständerat hiessen eine Motion gut, die die Ausschaffung von Terroristen aus der Schweiz in ihre Heimatländer verlangt, selbst wenn sie dort Gefahr laufen, gefoltert zu werden. Dieser Entscheid – in Missachtung zwingenden Völkerrechts – war menschenrechtlich der Tiefpunkt der Legislatur. Er hat aufgezeigt, wie dünn auch in der Schweiz das politische Eis sein kann, auf dem sich die Menschenrechtstradition bewegt.

Zivilgesellschaftliche Akteure im Einsatz für die Menschenrechte

Der menschenrechtlich wichtigste Moment der vergangenen Legislatur war ohne Zweifel die deutliche Niederlage der sogenannten «Selbstbestimmungsinitiative» der SVP im Parlament und vor allem an der Urne. Für einmal haben die Politiker/innen aller anderen Parteien den Angriff auf die Menschenrechte auch als solchen benannt und mit vereinten Kräften abgewehrt. Klare Verhältnisse in der Argumentation und in der Abstimmung schuf die langjährige Kampagnenarbeit der Zivilgesellschaft. Auch Fortschritte im Kampf gegen die Diskriminierung von LGBTI-Personen (etwa die Erweiterung der Anti-Rassismusstrafnorm) oder gegen die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen (etwa im jüngsten Bundesratsbericht) haben ihre Wurzeln in der Arbeit der Selbsthilfe- und Menschenrechtsorganisationen.

Zivilgesellschaftliche Organisationen sind der Hebel zu einer stärkeren Gewichtung der Menschenrechte in der nächsten Legislatur. Die Konzernverantwortungsinitiative hat dank der klugen und breiten NGO-Trägerschaft an der Urne gute Chancen. Sie ist weit über ihren Kernbereich hinaus von grosser Bedeutung für die Stärkung menschenrechtsbasierter Politik. Dank der mit dem Frauenstreik wiedererstarkten Bewegung können Postulate im Bereich der Gleichstellung der Geschlechter, der Umverteilung von (Care-) Arbeit oder der Gewalt gegen Frauen – gerade auch im Rahmen der in der letzten Legislatur ratifizierten Istanbul-Konvention des Europarats – durchgesetzt werden. Und die Klimastreikbewegung hat der jungen Generation schlagartig gezeigt, dass Klimagerechtigkeit auf völkerrechtlichen Verpflichtungen basiert.

Mit nachhaltigem Druck aus der Gesellschaft und von Menschenrechtsorganisationen kann Menschenrechtspolitik in der nächsten Legislatur mehr Gewicht erhalten – hoffentlich mit einem menschenrechtsfreundlicheren Parlament. Dann könnten sogar kleine Zeichen gegen den weltweiten Trend des erodierenden Menschenrechtsschutzes gesetzt werden. Gemessen werden wird der Erfolg aber nicht einfach an Parlamentsdebatten, Absichtserklärungen und UNO-Reden. Menschen müssen konkret zu ihrem Recht kommen: Jugendliche in Ausschaffungshaft, abgewiesene Asylbewerber/innen in Nothilfezentren, diskriminierte trans Menschen, alleingelassene ältere Personen, People of Colour bei Polizeikontrollen, alleinerziehende Frauen in Armut, Verwahrte ohne Prozess, Roma ohne Standplätze, Anwohner/innen von Glencore-Minen, mögliche Opfer von schweizerischen Rüstungsgütern, die nach Saudi-Arabien exportiert werden. Sie müssen im Bundeshaus alle ein Gesicht erhalten.

Der Beitrag von Matthias Hui, Koordinator der NGO-Plattform Menschenrechte Schweiz bei humanrights.ch, ist bereits als Gastbeitrag im Oktober-Rundbrief 2019 der Schweizerischen Helsinki Vereinigung (SHV) erschienen.