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Behinderung und Gefängnis: Die psychische und physische Gesundheit von Inhaftierten

12.10.2023

Zum Schutz ihrer Gesundheit haben inhaftierte Personen das Recht auf die gleiche medizinische Versorgung wie die übrige Bevölkerung. In der Schweiz berichtet eine grosse Mehrheit der Häftlinge von psychischen Krankheiten. Der «UN-Ausschuss zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen» (CRPD) empfiehlt, bei inhaftierten Menschen mit Behinderungen sollten keine Zwangsmassnahmen angewendet werden. Der Schweizer Strafvollzug kommt dieser Empfehlung jedoch kaum nach.

Beitrag der Law Clinic der Universität Genf (Elisabeth Gerritzen, Cyril Khoury, Louise Wang)

Im Jahre 2017 trat ein Aufseher des Gefängnisses Champ-Dollon einem Häftling, der bereits von fünf anderen Aufsehern überwältigt worden war, gegen den Hinterkopf und verursachte bei ihm eine Jochbein-Fraktur. Das Opfer war zum Zeitpunkt der Tat psychisch krank und in einer Massnahme nach Art. 59 StGB. Diese Bestimmung ermöglicht die Anordnung einer stationären Behandlung, wenn ein psychiatrisches Gutachten eine vorhandene psychischen Störung in Zusammenhang mit der Straftat bringt und die betroffene Person deswegen als «gefährlich» einstuft. Die dem Aufseher vorgeworfene Tat, für die er wegen einfacher Körperverletzung zu einer bedingten Geldstrafe von 90 Tagessätzen verurteilt wurde (JTDP/439/2022), ist beispielhaft für die Probleme im Umgang mit psychischen Beeinträchtigungen innerhalb des Gefängnissystems.

Einerseits wird eine große Zahl von Gefangenen in gewöhnlichen Strafvollzugsanstalten inhaftiert, obwohl sie aufgrund ihres Zustandes besondere Pflege bräuchten (CPT, Bericht 2022). Zum anderen wird auf solche Gefangenen oft physischer, psychischer oder medikamentöser Druck ausgeübt. Solche Handlungen verstossen jedoch gegen nationale und internationale Menschenrechte: gegen das «Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe», das «Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen» (Art. 15 UN-BRK), die Europäische Menschenrechtskonvention (Art. 3 EMRK), die Bundesverfassung (Art. 10 Abs. 3 BV) und die Nelson-Mandela-Regeln (NMR).

Aufgrund ihrer besonderen Verletzlichkeit geniessen Menschen mit Behinderungen einen erhöhten Schutz vor Übergriffen. Die Beurteilung der Grenze, ab der eine Behandlung als unmenschlich oder erniedrigend gilt, ist aber relativ. So muss laut dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine mögliche Behinderung bei Inhaftierten abgeklärt werden. Die Anwendung von Zwangsmassnahmen für psychisch eingeschränkte Gefangene entspricht in den Schweizer Strafvollzugsanstalten jedoch nicht den Menschenrechten: Die Vorgehensweise bei physischem, psychischem oder medikamentösem Zwang sowie Isolation ist hierzulande nicht geregelt, vielmehr wird sie in mehreren nationalen und internationalen Berichten verurteilt. In ihrem Schattenbericht an den UN-Ausschuss zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen zeigt sich «Inclusion Handicap» besorgt über die schlechte Behandlung von psychiatrischen Fällen in Schweizer Strafanstalten.

Geeignete Regelungen fehlen

In der Schweiz ist die Gesetzgebung zum Straf- und Massnahmenvollzug Sache der Kantone (Art. 123 Abs. 2 BV). Dies führt zu stark divergierenden und weitgehend unzureichenden kantonalen Gesetzgebungen, die in verschiedenen internen Verordnungen oder Richtlinien verstreut sind; sie sind der Öffentlichkeit jedoch nicht zugänglich. Laut internationalen Rechtsquellen wie auch gemäss der Bundesverfassung (Art. 36 Abs. 1 S. 1 BV) muss die Anwendung von Zwangsmassnahmen in Strafanstalten auf einer klaren und präzisen gesetzlichen Grundlage basieren. Im Kanton Genf beispielsweise ist der Einsatz von Zwang in einem Reglement festgeschrieben (Règlement ROPP7GE). Die Verfahren wie auch die Modalitäten werden in Richtlinien der Generaldirektion präzisiert, auch sie sind der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Da die Anforderungen an Klarheit und Genauigkeit eines Gesetzes mit der Schwere des Eingriffs steigen, sind angesichts der Vielfalt der Zwangsmittel diese Regelungen unzureichend.

Auch im Bereich der medikamentösen Behandlung bestehen rechtliche Lücken. Insbesondere die Zwangsmedikation stellt einen schweren Eingriff in die physische und psychische Integrität und die Würde der inhaftierten Person dar; ein solcher Eingriff muss in einem Gesetz geregelt werden. Laut Bundesgericht stellt Art. 59 StGB zwar eine ausreichende gesetzliche Grundlage dar, auf die sich die Zwangsmedikation einer inhaftierten Person stützen kann (BGE 127 IV 154, Erw. 4b). Dieser Entscheid umfasst jedoch nur «Stationäre Behandlungen»; er ist vage formuliert und bezieht sich auf die psychiatrische Behandlung allgemein von inhaftierten Personen. So ergibt der Entscheid nicht den erforderlichen Grad an Klarheit, um einen Eingriff mit Zwang zu rechtfertigen.

Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) berichtete bei ihrem Besuch der Einrichtung «Plaine de l'Orbe» im Jahre 2013 von der Existenz einer Strafvollzugsinterventionsbrigade, die inhaftierten Personen zwangsweise Medikamente verabreicht. Schon die Art und Weise des Einsatzes dieser Brigade wirft zahlreiche Fragen auf: Weder ihre Organisation, Ausrüstung noch Einsatzgrundsätze basieren auf einer gesetzlichen oder reglementarischen Grundlage. Die Einsätze ergeben sich lediglich aus einer vorläufigen internen Richtlinie, die der Öffentlichkeit nicht zugänglich ist. Diese unzureichende Basis ist aus rechtsstaatlicher Sicht bedenklich und birgt ein hohes Risiko für Misshandlungen inhaftierter Personen.

Der Einsatz von Zwang verstösst gegen die Menschenrechte

Zahlreiche Berichte von nationalen und internationalen Kontrollorganen haben in der Schweiz Praktiken aufgedeckt, die das Recht auf Leben und persönliche Freiheit (Art. 10 Abs. 3 BV), das Verbot der Folter (Art. 3 EMRK) und das Recht, nicht der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen zu werden (Art. 15 UN-BRK), verletzen.

Die NKVF kritisierte nach ihrem Besuch in der geschlossenen Anstalt Curabilis im Jahre 2019 die Einsatzmodalitäten einer Zelleninterventionsbrigade: Diese bestehe aus Strafvollzugsbeamten - mit Hauben und Schutzschilden ausgestattet -, die körperliche Gewalt anwenden, um inhaftierte Personen mit psychischen Störungen bei Einweisungen oder Verlegungen zu überwältigen. Das Tragen von Kapuzen durch die Brigademitglieder birgt für Inhaftierte, insbesondere für Menschen mit Behinderungen, ein hohes Traumapotenzial. So wird verunmöglicht, dass die für eventuelle Misshandlungen verantwortliche Person identifiziert werden kann und das Risiko von Straffreiheit erhöht. Eine solche Praxis wird sowohl vom EGMR (L. Shennawy, Frankreich) als auch vom «Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe» (CPT , Bericht 2007) untersagt. Im Bericht über seinen Besuch in der Schweiz im Jahre 2015 stellte das CPT weiter fest, dass in den meisten der besuchten Strafanstalten bei Arzt- oder Zahnarztbesuchen, die außerhalb der Gefängnismauern stattfinden, Handschellen eingesetzt werden. Aufgrund der negativen Auswirkungen auf die Gesundheit der Inhaftierten sollte eine solche Praxis nur in Ausnahmefällen und nur auf Verlangen des medizinischen Personals erfolgen; ansonsten sind solche Methoden unmenschlich und erniedrigend. Laut demselben Bericht stellt auch Pfefferspray ein chemisches Zwangsmittel dar; trotz Verbot durch den EGMR (Tali vs. Estland) wird das Mittel in mehreren Haftanstalten eingesetzt.

Die Einzelhaft von Inhaftierten mit geistigen oder körperlichen Behinderungen stellt eine weitere Verletzung ihrer Rechte dar. Den NMR zufolge ist diese Praxis zu untersagen, wenn sich der Zustand des/der Gefangenen dadurch verschlechtert (Regel 45 Abs. 2 NMR). 2021 beanstandete die NKVF in ihrem Bericht die Haftbedingungen eines Gefangenen im Gefängnis Pöschwies im Kanton Zürich. Der Gefangene wurde mehr als zwei Jahre lang in strenger Einzelhaft gehalten, bei der er keinen physischen Kontakt zu anderen Inhaftierten hatte. Diese Maßnahme der räumlichen Beschränkung wurde seitens der Institution mit dem Gewaltrisiko des Gefangenen begründet, das er gegenüber Dritten und sich selbst darstelle; aber auch mit der Gefahr einer schwerwiegenden Störung von Sicherheit und Ordnung des Gefängnisses überhaupt. Aus dem Bericht der NKVF geht hervor, dass die inhaftierte Person erst strenge Verhaltensnormen einhalten sollte und keine Gefahr mehr darstellen durfte, um ihre Strafe unter «normalen» Haftbedingungen absitzen zu können. Die Kommission ist jedoch der Ansicht, dass es angesichts des psychischen Zustands des Häftlings und solcher Haftbedingungen - die nicht zur Verbesserung seines Zustands beitragen - unrealistisch sei, die Voraussetzungen für eine Entlassung aus der Isolationshaft jemals zu erfüllen. Wenn solche Entlassungskriterien nicht an die Voraussetzungen des Gefangenen angepasst werden, wodurch eine reale Chance besteht, die Haftbedingungen zu verbessern, kann eine Isolation nicht als angemessene therapeutische Behandlung angesehen werden. Somit stellt sie eine unangemessene Behandlung dar, die einen Verstoß gegen Art. 10 Abs. 3 BV, Art. 3 EMRK und Art. 15 UN-BRK entspricht. Darüber hinaus sollten nach Ansicht des CPT und der NKVF Personen mit psychischen Behinderungen in eine psychiatrische Einrichtung verlegt und nicht in Isolationshaft versorgt werden. Diese Massnahme löst das Problem jedoch nicht im Grundsatz, es bleiben die Probleme, die mit solchen Einrichtungen immer wieder erwähnt werden.

Psychische Störungen zu wenig beachtet

In der Schweiz wurden zwischen in den Jahren 2018 und 2020 350 Personen zu einer stationären Behandlung für psychische Störungen nach Art. 59 StGB und 12 Personen zu einer Verwahrung nach Art. 64 StGB verurteilt. Es gibt jedoch nur rund 238 Plätze in vier Strafvollzugsanstalten, die speziell für die Aufnahme von Personen im Massnahmenvollzug vorgesehen sind. In der Praxis müssen daher viele Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen ihre Massnahmen in gewöhnlichen Strafanstalten absitzen, die für eine angemessene therapeutische Behandlung ungeeignet sind (CPT, Bericht 2022). Die Zahl der Personen, die in der Schweiz in stationäre therapeutische Massnahmen eingewiesen werden, hat in den letzten 30 Jahren stark zugenommen. Der Gefängniskontext hat vielfältige Schwachstellen, die bei dieser Gruppe von Inhaftierten durch ihre Einschränkung noch verschärft werden. Die allgemeine Unkenntnis der Situation führt zu häufiger Anwendung von Zwangsmaßnahmen. Ein Beispiel sind die Äusserungen eines Vertreters vom Gefängnis Champ-Dollon. In einem Urteil des Genfer Verwaltungsgerichtshofs aus dem Jahre 2021 steht, er habe über die exzessive Gewalt gegen einen Gefangenen gesagt, dass der Gefangene eine «ziemlich virulente, sehr prozedurale und anspruchsvolle Haltung in Bezug auf seine Medikation» gehabt hätte. Er hätte seinen Status «unter Massnahme» im Sinne von Art. 59 StGB genossen. Diese Aussagen zeugen von einer stigmatisierenden und abwertenden Haltung der Gefängnisverwaltung und sind, wenn dies die Haltung des Personals gegenüber dem Gefangenen ist, diskriminierend im Sinne von Art. 8 Abs. 2 BV, Art. 14 EMRK und Art. 5 BRK.

Bei seinen Besuchen in den Jahren 2015 und 2021 in den Gefängnissen Hindelbank, Thorberg sowie in der Strafanstalt Lenzburg kritisierte der CPT die Situation von Personen, die in Hochsicherheitstrakten «unter isolationsähnlichen Bedingungen inhaftiert sind, weil [sie] aufgrund ihrer schweren psychischen Gesundheitsproblemen als besonders [gefährlich] eingestuft werden»; diese Menschen wurden mit Handschellen gefesselt und von mehreren Mitgliedern des Sicherheitspersonals begleitet, wenn sie ihre Zelle verliessen. Es verstösst gegen die Behindertenkonvention Art. 14 UN-BRK, wenn die Inhaftierung in einem Hochsicherheitstrakt und der automatische Gebrauch von Handschellen mit der besonderen Gefährlichkeit der Inhaftierten aufgrund ihrer geistigen oder psychischen Behinderungen begründet wird; dies ohne dass je eine Notwendigkeit solcher Maßnahmen geprüft wurde. Der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderung verteidigt auch das Verbot der Zwangsmedikation von Menschen mit Behinderungen. Er argumentiert, eine solche Massnahme nehme den Menschen mit Behinderungen die Fähigkeit zur medizinischen Selbstbestimmung. Sie stelle eine Diskriminierung im Sinne der Behindertenkonvention Art. 5 UN-BRK dar.

Eine Studie des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte (SKMR) aus dem Jahre 2014 hält fest, dass die Mehrheit der Personen, die in der Schweiz in Hochsicherheitsabteilungen eingewiesen werden, schwere psychische Gesundheitsstörungen aufweisen und häufig aufgrund ihrer geistigen Behinderung dort untergebracht werden. Somit ist das Kriterium der Gefährlichkeit, das die Einweisung in diese Einheiten rechtfertigen soll, häufig mit den psychischen Störungen der verurteilten Personen zu verbinden. Gemäss der Behindertenkonvention Art. 14 UN-BRK kann jedoch ein Freiheitsentzug niemals mit einer Behinderung gerechtfertigt werden. Ebenso dürfen nach Regel 109 der NMR Personen, die strafrechtlich unzurechnungsfähig sind oder bei denen eine geistige Behinderung oder eine andere schwere Erkrankung erst später festgestellt wird, nicht inhaftiert werden. Denn eine Haft würde ihren Zustand verschlimmern. Wie das SKMR in einer 2020 veröffentlichten Studie weiter festhält, müssen solche Personen in einer spezialisierten Abteilung unter der Aufsicht von qualifizierten Gesundheitsfachleuten untergebracht werden.

Veränderungen in Bezug auf die Anwendung von Zwang sind notwendig

Der CRPD ist der Ansicht, dass die Anwendung physischer, psychischer, medikamentöser oder räumlicher Zwangsmittel gegen das «Verbot der Folter und grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe» verstösst (Art. 15 UN-BRK). Daher empfiehlt der Ausschuss der Schweiz, solche Praktiken bei inhaftierten Personen mit Behinderungen einzustellen. Um den Schutz aus Art. 15 Abs. 1 der UN-BRK zu gewährleisten, müssen alle Unterzeichnerstaaten der Behindertenkonvention gesetzgeberische, administrative und gerichtliche Maßnahmen ergreifen (Art. 15 Abs. 2 UN-BRK).

Obwohl die gesetzlichen Grundlagen in der Schweiz ausreichend flexibel sind, um eine NMR-konforme Unterbringung zu gewährleisten, ist die praktische Umsetzung nach wie vor unbefriedigend; dies aufgrund des Mangels an Plätzen in spezialisierten Einrichtungen. Das SKMR kommt in seiner Studie zum Schluss, dass strukturelle Erwägungen nicht als Legitimation für die Verletzung internationaler Standards dienen können und fordert zusätzliche Anstrengungen, um die Rechte psychisch kranker Inhaftierter zu garantieren.

Die Studie von Yana Zdravkova von 2021 zeigt, dass die Auseinandersetzung mit dem Umgang mit Behinderungen im Gefängnis und insbesondere mit den Biografien von inhaftierten Personen, die als behindert gelten oder sich als behindert bezeichnen, uns zwingt, einen anderen Blickwinkel einzunehmen.

Der CRPD empfiehlt folglich den Vertragsstaaten – so auch der Schweiz – die Gesetze anzupassen. Bestimmungen, die atypische Verhaltensweisen kriminalisieren, haben besonders negative und unverhältnismäßige Auswirkungen auf Menschen mit Behinderungen und müssen deswegen gestrichen werden. Diese Empfehlungen stellen die Legitimität des Schweizer Gefängnissystems also solches in Frage. Es stellt sich im Besonderen die Frage, ob Menschen mit psychischen Behinderungen eingesperrt werden können.